Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Qualitätsjournalismus zum Kaukasuskonflikt Die Zeit hält Kriegsrat

Auf Seite 1 der Zeit vom 14.8.08 belehrt uns der Herausgeber, Josef Joffe, dass „Kriege wie der in Georgien“ „gut fürs (Zeitungs-)Geschäft“ sind, denn in unruhigen Zeiten „wächst die Neugier und mit ihr die Nachfrage nach Erklärung, Einordnung und Deutung. Aber ansonsten geht das Geschäft nicht so gut“, da es von „der nicht so schönen Medienwelt“ des Internet bedroht ist, das wie die Huffington Post (HP) dabei ist, „den Markt des öffentlichen geistigen Lebens umzustülpen“. Sie dringt nämlich mit ihren wenigen Journalisten und den vielen Promi-Freunden der Millionärsgattin Huffington in die „kostenlose Aufmerksamkeits-Ökonomie ein“. Während der „normale Verleger“ „seine Autoren, Redakteure und Korrektoren entlohnt“, unterhalten die Internetkonkurrenten weder „Korrespondenten, noch Austräger“, die dem aufklärungsbedürftigen Kunden das Blatt in den Briefkasten stecken und mit jedem Euro, den sie verdienen, für Qualitätsjournalismus bürgen. Diese Konkurrenz macht jede seriöse Pressearbeit kaputt.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Qualitätsjournalismus zum Kaukasuskonflikt: DIE ZEIT hält Kriegsrat

Auf Seite 1 der ZEIT vom 14.08.2008 belehrt uns der Herausgeber, Josef Joffe, dass Kriege wie der in Georgien gut fürs (Zeitungs-)Geschäft sind, denn in unruhigen Zeiten wächst die Neugier und mit ihr die Nachfrage nach Erklärung, Einordnung und Deutung. Aber ansonsten geht das Geschäft nicht so gut, da es von der nicht so schönen Medienwelt des Internet bedroht ist, das wie die Huffington Post (HP) dabei ist, den Markt des öffentlichen geistigen Lebens umzustülpen. Sie dringt nämlich mit ihren wenigen Journalisten und den vielen Promi-Freunden der Millionärsgattin Huffington in die kostenlose Aufmerksamkeits-Ökonomie ein. Während der normale Verleger seine Autoren, Redakteure und Korrektoren entlohnt, unterhalten die Internetkonkurrenten weder Korrespondenten, noch Austräger, die dem aufklärungsbedürftigen Kunden das Blatt in den Briefkasten stecken und mit jedem Euro, den sie verdienen, für Qualitätsjournalismus bürgen. Diese Konkurrenz macht jede seriöse Pressearbeit kaputt. Was dräut dann morgen? fragt Joffe sich und verrät uns: Das ist der Untergang nicht nur der ZEIT und aller anderen seriösen Blätter, sondern auch ein großes Problem für die Gesellschaft. Denn woher sonst weiß der Leser, was in der Welt abläuft? Zum Beispiel: ‚Russland stoppt Militäraktion in Georgien‘ titelt die HP, aber es ist eine reine AP-Geschichte. Und deren Korrespondenten werden zusammen mit den ‚richtigen Zeitungen‘ dahinschwinden. Und das ist schlecht für den Geist. Denn: Was macht der richtige Journalist? Er trennt das Interessante vom Blöden.

Da schauen wir doch mal, wie er das macht, und blättern um:

Mit folgenden Fragen trennt die ZEIT das Interessante vom Blöden:

Was geht uns das an? Wie der Krieg im Kaukasus den Westen zwingt, seine Werte und Interessen gegen Russland klarer zu vertreten (Seite 3)
Was will Russland? Der Kreml kehrt zur unverhohlenen Großmachtpolitik zurück. Müssen wir die Russen wieder fürchten? (Seite3)
Gibt es einen neuen kalten Krieg? Steckt in der Konfrontation mit Russland das Zeug zu einem neuen Systemkonflikt? (Seite 4)

Uns geht dieser Konflikt natürlich etwas an, auch wenn der Kaukasus weit weg ist, denn wir denken vom Standpunkt der deutschen, allgemeiner: der westlichen Interessen aus, und so gesehen sind die 2600 km zwischen Berlin und Tbilissi praktisch gar nichts. Damit klar ist, wie unsere menschliche Anteilnahme sich ausgewogen zu sortieren hat, kommen unten auf derselben Seite Betroffene aus zwei verschiedenen Lagern in einer Art Kriegstagebuch zu Wort, nämlich eine georgische Journalistin und ein georgischer Übersetzer. Sie berichten unter der Überschrift Tage der Ungewissheit über ihre Unruhe, die offenbar am Freitag, dem 8. August um 15:20 h begann. Die Zerstörung Zchinwalis durch das georgische Militär in den Tagen davor hat sie als besonnene Menschen aus dem Pressemilieu nicht aus der Ruhe gebracht; aber dann:

Russische Truppen „sollen Zchinwali eingenommen haben, aber wir wissen nicht, ob das stimmt ... Saakaschwili in Sicherheit gebracht. Die Meldungen stimmen nicht, ich wohne neben dem Sitz des Präsidenten. Ich hätte es gehört, wenn hier Bomben gefallen wären ... hoffen die Menschen auf die amerikanisch-europäische Unterstützung ... warten auf die Reaktion aus dem alten Europa ... wir brauchen Hilfe, um nicht kaputtzugehen ... Angela Merkel hätte uns mehr unterstützen sollen. Wenn wir eine feste Nato-Mitgliedschaft angeboten bekommen hätten, wären wir jetzt nicht in dieser schrecklichen Situation ... Kein Mensch glaubt hier an das, was Russland sagt“.

Zum Glück beschäftigt die ZEIT Korrespondenten vor Ort, sonst würden wir das tief empfundene Leid der Georgier und ihren Hilferuf an unsere Adresse gar nicht mitbekommen. So aber ist gleich klar, dass uns das was angeht. Freilich – für die Erkenntnis haben wir die ZEIT-Journalisten in Hamburg – nicht bloß aus moralischen Gründen, über deren Stellenwert ein abgebrühter Qualitätsjournalismus sich nichts vormacht, sondern aus handfesteren Gründen:

„Menschliches Leiden ... verdient natürlich immer unsere Anteilnahme. Aber nicht immer gibt es neben den humanitären Gründen auch so starke politische Gründe dafür, dass ein ferner Krieg uns betrifft.
Erstens: Weil unsere Nachbarn Russland fürchten ... Man hat jetzt gesehen, wie russische Soldaten in ein souveränes Land einfallen, weil es sich Moskaus Forderungen nicht fügt ... Das europäische Wir hat sich nach Osten ausgedehnt, der Kampf zwischen Georgien und Russland ist zu einem Krieg in unserer Nachbarschaft geworden. Was unsere östlichen Nachbarn umtreibt, geht auch uns an – ihre Angst ist unsere Aufgabe. Auch wenn sich in Deutschland der Krieg weit weg anfühlt.“

„Man“ hat jetzt „gesehen“, was der interessierte Blick des Westens in Georgiens verlorenem Wochenendkrieg um Südossetien gesehen haben will: Moskau knechtet unbotmäßigen Nachbarn. Die Angst, die das unseren osteuropäischen Vorposten einjagt, teilen wir deswegen zwar nicht: Uns kann der Russe nicht schrecken; dazu kennt der ZEIT-Mann sich zu gut aus im kontinentalen und interkontinentalen Kräfteverhältnis. Eben diese Überlegenheit verpflichtet aber uns Deutsche und Westeuropäer, den Russen in seine Schranken zu weisen. Das sind wir den Völkern im Osten schuldig, die das europäische Wir in den vergangenen Jahren dem Kreml weggenommen und unserer ausgreifenden Zuständigkeit einverleibt hat – sonst suchen die sich womöglich aus lauter Angst eine andere Schutzmacht. Insofern geht der Kaukasus-Krieg uns also etwas an: Europa ist es seinem eigenen Machtanspruch schuldig, gegen Russland ein- und durchzugreifen. Und dieser Machtanspruch hat in dem für seine Unterscheidungskunst bezahlten ZEIT-Journalisten einen nachdrücklichen Botschafter.

Weiter:

„Zweitens: Weil wir im Kosovo einen Präzedenzfall geschaffen haben. Welch eine Inszenierung: Der russische Präsident Medwedjew wirft Georgien Kriegsverbrechen im Kaukasus vor ...“

Weil wir im Kosovo die Abspaltung eines Landesteils von Serbien betrieben und durch den Vorwurf von Kriegsverbrechen an die serbische Seite gerechtfertigt haben, können wir es unmöglich dulden, dass der russische Präsident den russischen Angriff auf die Souveränität Georgiens als Rettung des südossetischen Volkes vor einem Genozid inszeniert... Guter, souveräner Journalismus hat es nicht nötig, Unterschiede zwischen dem Separatismus südossetischer Russenfreunde und dem Freiheitsdrang unterdrückter Kosovaren zu behaupten, wo es die nicht gibt. Der ZEIT ist es zu blöd, nämlich zu defensiv, die Gleichartigkeit der beiden Fälle zu dementieren. Sie findet es vielmehr völlig angemessen, dass hier mit zweierlei Maßstäben gemessen wird: Was wir bestellt haben an Separatismus, geht in Ordnung, alles andere ist ein Verbrechen gegen das Prinzip Souveränität. Was wir uns mit dem Kosovo erlaubt haben, ist zwar dasselbe wie Medwedjews „Inszenierung“, aber bei uns handelt es sich um die höhere Pflicht einer zum Weltordnen befugten Macht, bei den Russen hingegen um das Unrecht einer Macht, der Ordnungsansprüche nicht zustehen. Natürlich haben wir einen Präzedenzfall geschaffen, aber doch nicht für die Russen. Deren Eingreifen in Südossetien ist eine von uns nicht lizenzierte Kopie des Originals, auf das wir ein Copyright haben. Deshalb geht der Kaukasus-Krieg uns etwas an: Gerade weil wir einen Präzedenzfall geschaffen haben, ist es unsere heilige Pflicht, gegen unberechtigte Nachahmer vorzugehen und Russland zum Abzug zu zwingen.

Nächster Grund:

„Drittens: Weil es um unsere Energiesicherheit geht. Georgien ist der ‚Schleusenwärter‘ für die zentralasiatischen Öl- und Gaspipelines ... Öldorado ... kaspisches Becken ... Die Nabucco-Pipeline soll kaspisches Gas nach Europa bringen ... einzige große Gaspipeline nach Westen, die nicht von Russland oder Iran kontrolliert wird. Sollte Georgien unter russische Kuratel oder ins Chaos fallen, wäre dieser Traum geplatzt.“

Wir müssen uns schließlich darauf verlassen können, dass unser Öl dahin fließt, wo wir es brauchen, ohne auf Russen und Iraner Rücksicht nehmen zu müssen. Und da brauchen wir einen zuverlässigen Schleusenwärter gegen die Russen, der auf unsere Leitungen aufpasst. Diese umfassende Staatsräson haben wir für die kleine Nation Georgien vorgesehen: Für den Status als Auftragnehmer westlicher Energiesicherheit kriegt sie glatt eine Souveränität von uns spendiert. Die Russen betrachten wir nämlich mit Argwohn, weil die von unserer Energiesicherheit profitieren, finanziell und machtmäßig. Deswegen müssen wir alles tun, um sie, soweit es geht, aus unserem Öl- und Gasgeschäft auszuschließen. Am Vorgehen der Russen gegen unseren Schleusenwärter erkennt der Qualitätsjournalist daher auch sofort, wie berechtigt unser Argwohn ist: Die wollen sich glatt nicht ausschließen lassen. Auch deshalb geht der Kaukasus-Krieg uns etwas an: Unser Interesse an Öl und Gas und unsere Zugriffsmacht schaffen Rechte, denen sich Russland zu fügen hat, sonst setzt es was.

Schließlich:

„Viertens: Weil es um die Zukunft der Nato geht. Nach der russischen Aggression gegen das Nato-Patenkind Georgien werden die Spannungen im Bündnis zunehmen ... Die Nato steht pünktlich zu ihrem 60. Geburtstag vor einer Richtungsfrage. Will sie wieder kollektives Verteidigungsbündnis sein, mit dem latenten Feindbild Russland? Sollte Moskau tatsächlich sein Militär einsetzen, um Pipelines und Öl unter seine Kontrolle zu bringen, könnte sich diese Rückentwicklung zum Blockbündnis schneller vollziehen, als man es heute ahnt. Für das neue Verständnis der Nato als globale Interventionsallianz würde es dann schwer. Aber die Domäne des uniformierten Friedensstifters macht ihr ohnehin immer mehr die europäische Union streitig ... Doch Russlands Krieg gegen den Nato-Aspiranten Georgien stellt das Bündnis vor eine grundsätzliche Alternative: zur Kalten-Kriegs-Maschine zu regredieren oder sich weiter zum global agierenden Arm der freien Welt fortzuentwickeln.“

Der russische Blitzkrieg in Georgien stimmt die ZEIT besorgt: Eigentlich war doch die Herstellung einer nach unseren Vorstellungen geordneten Welt schon weit fortgeschritten. Wir, die Mächte des Guten, waren schon doppelt unterwegs: als EU und als NATO. Unterwegs in einer Welt, die keine Blockbildung mehr kannte, weil der Westen in ihr unumstritten das Sagen hatte und auf keine nennenswerte Gegenwehr traf. Jetzt poltert der Russe mit seiner gar nicht mehr in die Zeit passenden Aggression gegen das NATO-Patenkind dazwischen, nötigt sich NATO und EU als gegnerische Alternative auf, und alle Fortschritte in Richtung Unipolarität, hin zum unbestrittenen Weltordnungsmonopol des freien Westens, werden mit einem Schlag in Frage gestellt. Gemessen am Projekt einer Welt, die keine Gegner kennt, weil die eigenen Interessen unumstritten gelten, wäre Blockbildung ein Rückschritt. Schuld daran, dass so etwas droht, sind natürlich die Russen, die uns, wenn sie so weitermachen, glatt dazu zwingen, sie als feindliche Macht ernst zu nehmen. Doch die ZEIT interessiert in diesem Zusammenhang nicht die Schuldfrage, sondern die NATO: Deren eigentliche Mission ist es doch, der global agierende Arm der freien Welt zu sein. Dazu passt es überhaupt nicht, dass NATO-Mitglieder aus dem ehemaligen Ostblock und vor allem die Amis mit ihrem latenten Feindbild die Russen jetzt schon als Gegner behandeln wollen: Das hieße ja, sie als Gegenpol innerhalb der Weltordnung anzuerkennen, der etwas zu melden hat, also einer Rückentwicklung zum Blockbündnis Vorschub zu leisten. Die ZEIT rät der NATO, ihren Weg als globale Interventionsallianz weiter zu gehen und eine Politik der Nichtanerkennung Russlands als Macht, die man berücksichtigen muss, weil sie etwas vermag, zu betreiben. Andernfalls könnte sie nämlich die Aufgabe der uniformierten Friedensstiftung, die die ZEIT ihr zuweist, ganz schnell an die Alternative verlieren, mit der der Qualitätsjournalist erkennbar sympathisiert: Als EU machen wir der NATO diese Domäne bereits streitig. Deswegen vor allem geht der Kaukasus-Krieg uns also etwas an: Auf uns Deutsche kommen Weichenstellungen in Sachen Weltmacht Europa zu – die ZEIT rät zu selbstbewusstem Imperialismus.

*

Die Überschrift des zweiten Artikels: Was will Russland? könnte missverstanden werden. Deshalb wird die Überschrift auf Seite 4 von Jan Ross und Johannes Vosswinkel präziser formuliert. So sind keine Missverständnisse mehr möglich:

Was treibt Russland? So brutal wie zu Sowjetzeiten: Moskau macht Angst – und hat Angst

Eine Erläuterung der Vorhaben dieser Nation ist nicht beabsichtigt. Die ZEIT schürft tiefer und beschäftigt sich mit den geheimen Trieben hinter dem russischen Treiben. Schließlich kommt es bei der bombenfesten Ausmalung des antirussischen Feindbildes auf die feinsinnige Differenzierungsfähigkeit professioneller Journalisten an:

„Kein scheinbar cleanes Hightech-Militärhandwerk, wie es die Amerikaner in ihren Golf- und Irakfeldzügen praktiziert haben, kein ‚asymmetrischer Krieg‘ gegen wieselflinke Terroristen oder islamische Milizen, wie er die Strategen des 21. Jahrhunderts sonst beschäftigt. Man sah die archaisch wirkende Macht einer niederwalzenden Armee, eine Szenerie wie aus einer Weltkriegswochenschau. Und wie in einem Déja-vu schienen sich noch einmal die Interventionen des kommunistischen Vorgängerstaats von Putins Russland zu wiederholen – 1979 in Afghanistan, 1968 in Prag, 1956 in Ungarn. Kleine freiheitsliebende Völker, von Moskau unterworfen und beherrscht: das war eine der furchtbarsten Konstanten des 20. Jahrhunderts.“

Ja, so groß können die Unterschiede beim Plattmachen des Gegners sein: Die einen sind haushoch überlegen, kämpfen mit Hightech gegen schlecht ausgerüstete Milizen und verstehen sich – unter Einbeziehung speziell eingebetteter Journalisten – auf die Herstellung eines kulturvollen Scheins von sauberer Kriegführung, den die Experten von der ZEIT zwar durchschauen, aber als den Stil den 21. Jahrhunderts goutieren. Die anderen hingegen überschreiten die Grenzen anderer Länder, machen mit ihren Waffen alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellt, und lassen es glatt auch noch genau so aussehen. Bei derartig archaisch wütender Macht kann der unparteiische Journalist beim besten Willen keinen Friedensprozess entdecken, sondern kommt nicht umhin, den gerade laufenden Krieg in den Gesamtzusammenhang seiner Erinnerungen an sein gutes altes antisowjetisches Feindbild einzuordnen. Denn aus qualitätsjournalistischer Verantwortung heraus kann die ZEIT – wen auch immer – gar nicht oft genug davor warnen, die heutigen Russen nur ja nicht so mächtig werden zu lassen wie die alten Sowjets.

Natürlich ist „auch Michail Saakaschwili, der selbstherrliche und abenteuernde georgische Präsident keine Identifikationsfigur“, doch: „Selbst, wenn ein fragwürdiger Führer ... an das Weltgewissen appelliert, bleibt der Stich von Ohnmachts- und Schamgefühl im Betrachter nicht aus.“

Die ZEIT leidet; aber nicht mit Georgien und seinem dubiosen Führer, sondern auf höherem Niveau: an jenem stechenden Ohnmachts- und Schamgefühl, das bei Journalisten einfach nicht ausbleiben will, wenn die der eigenen Nation zugesprochenen Rechte und Zuständigkeiten weiter reichen als deren aktuell verfügbare Machtmittel. Deswegen und in diesem Sinne muss der Qualitätsjournalist sich und sein Publikum dazu aufrufen, die Realität endlich so zu nehmen, wie sie für ihn aussieht:

Zwar blieben „die Deutschen“ „fasziniert von einem russischen Präsidenten, der ihre Sprache beherrschte“, doch: „Der Krieg wirkt jetzt wie die brutale Auslöschung dieser besseren Alternative, wie eine gewaltsame Verdeutlichung des Russlandbildes ins Finstere und Bedrohliche.“

Fast hätte sie sich abgezeichnet, eine bessere Alternative; dann nämlich, wenn der russische Präsident sich seine Direktiven bei seinem deutsch sprechenden Weltgewissen abgeholt hätte. Doch jetzt kommen wir nicht umhin, unser Russlandbild dahingehend zu verdeutlichen, dass der Iwan uns bedroht, wenn Russland gegen Georgien vorgeht. Moskau will nämlich gerade da, wo wir unsere NATO ausbreiten wollen, selber Einfluss haben und seine Nachbarn zu Klienten, Trabanten, Vasallen machen. Dafür hat es auch Gründe, allerdings keine guten, sondern einen psychologischen Defekt, dem die ZEIT auf die Schliche gekommen ist: Es mag ja sein, dass das russische Vorgehen irgendwie etwas mit der Rücksichtslosigkeit des Westens, der das Land durch die Nato-Osterweiterung in die Enge gedrängt hat, zu tun hat.

„Aber das erklärt nicht alles. Es muss in der russischen politischen Seele noch etwas anderes geben, einen Komplex von Demütigung und Revanche, der nicht von außen, sondern von Innen wirkt. Dies ist ein Land, dessen Bevölkerung schrumpft – dem die Männer wegsterben, weil sie sich zu Tode trinken“.

Gleichzeitig verfügen diese Trunkenbolde mit Minderwertigkeitskomplex und einer Hassliebe zum Westen über die kombinierte Energie- und Nuklearwaffe wie ein Saudi-Arabien mit Atombomben. Das ist gruselig, zumal die russische Staatsführung sich im Ernstfall Gott weiß wo ‚rumtreibt, anstatt ihre schlechtere Hälfte von Rachsucht abzuhalten; wozu sie im Übrigen auch gar nicht das Format hätte, das sieht der ZEIT-Journalist mit seinem Scharfblick sofort:

„Als die Granaten in Südossetiens Hauptstadt Zchinwali einschlugen, kündigte Putin in Peking Vergeltung an. Medwedjew war zu dieser Zeit zwischen seinem Urlaubsort und Moskau verschollen. Später zeigten Fernsehbilder Medwedjew als statischen Präsidenten, der sich am etwas zu hohen Kremltisch mit Putins Ministern beriet.“

Diese von Putins Ministern untergebutterte Marionette im Präsidentenamt kann Russland nicht in unserem Sinne steuern, so viel steht fest. Und damit stellt sich die Frage – nächster Artikel:

Gibt es einen neuen kalten Krieg? Steckt in der Konfrontation mit Russland das Zeug zu einem neuen Systemkonflikt? (Seite 4)
„Der Ton zwischen Russland und den USA ist ernst geworden. Hart, konfrontativ, bedrohlich ... Die harte Sprache ... spiegelt den Kampf um Einfluss und Macht zwischen Russland und den USA, den sie seit Jahren in Osteuropa und Zentralasien austragen: erst mit Geld, Ressourcen, Propaganda. Und nun mit Waffen. Russlands Fünftagefeldzug in Georgien läutet eine Zeitenwende ein ... Kaum noch vorstellbar ist heute der Langmut der neunziger Jahre ... Polen Tschechien, Ungarn, Rumänien Bulgarien, Slowakei, baltische Staaten in der Nato...
Mit Ermutigungen der EU und Geld aus Amerika wurde die Ukraine demokratisch. Das war ein Schock für Moskau. Während Europa sich über die neuen Farben im Osten freute, begann Wladimir Putin fast unbemerkt mit der Gegenoffensive ... Im Kaukasus ist Georgien das einzige Land, das einer Demokratie zumindest ähnelt. Der Krieg aber geht über diese Symbolik weit hinaus. Mit Georgien attackiert der russische Premier Putin den engsten Verbündeten Amerikas in der Region ... Russland drückt sein Rollback durch – von Osten nach Westen. In Zentralasien gehören heute vier von fünf Staaten zu den engen Verbündeten Russlands. Nicht zufällig werden sie alle diktatorisch regiert ... Längst hat Moskau ein politisches Exportmodell entwickelt, das keine totalitäre Überwachung braucht, um zu herrschen: Wahlen ohne Opposition, freie Meinung ohne freie Medien, Richter ohne Rechtsstaat.“

Worum es Russland seit Putin geht, nämlich um eine Gegenwehr gegen die fortwährende Herabstufung seiner weltpolitischen Bedeutung insgesamt und seines Einflusses in Zentralasien und Osteuropa im Besonderen seit dem Abtreten der UdSSR, das ist jedermann und auch der ZEIT bekannt. Die ZEIT weiß auch, dass es sich um einen Machtkampf der Russen gegen die USA und den Westen handelt, und berichtet, dass der auf beiden Seiten erst mit Geld, Ressourcen, Propaganda und nun mit Waffen geführt wird. Dass beide Parteien die lokalen Gegner des Kaukasuskonflikts für ihre Zwecke instrumentalisieren, ist ebenfalls ein offenes Geheimnis. Dass die russische Langmut der neunziger Jahre mit einer beständigen Verkleinerung ihres Einflussgebiets quittiert wurde, breitet die ZEIT ausführlich aus. Doch so mancher Schock für Moskau macht die Gegenwehr nicht verständlich, im Gegenteil: Nicht das Ausnutzen der Langmut ist die Zumutung, sondern ihre Beendigung durch das kriegerische Auftreten der russischen Föderation zugunsten ihrer Verbündeten. Die Zeitenwende, die durch Russlands Feldzug eingeläutet wurde, die Gegenwehr gegen die Beschneidung seines Staats- und Einflussgebietes steht Russland einfach nicht zu. Das braucht keine weitere Begründung, das versteht sich von selbst; speziell wenn man selbstkritisch bedenkt, wie sehr man sich in den westlichen Redaktionsstuben noch über das Rollback gegen Russland gefreut hat, als der Kreml-Herrscher heimlich schon mit seinem Rollback in der Gegenrichtung zugange war. Alle russischen Interessen blamieren sich im Übrigen sowieso durch die Machart der Herrschaft, die Russland dorthin exportiert, wo doch unser Öl, unser Erdgas und unsere Pipelines liegen und folglich unsere Rechtsaufsicht hingehört: Überall die falsche Geschäftsordnung! Auf die These, dass der Westen mit seinem Demokratieexport nach Georgien Ehre einlegen könnte, mag die ZEIT sich zwar nicht wirklich festlegen lassen. Zumindest fühlt sie sich aber bei diesem NATO-Verbündeten an Demokratie erinnert. Wohingegen der Mangel an totalitärer Überwachung in den mit Russland verbündeten Staaten Zentralasiens nur erst recht gegen deren Verfassung spricht: Die sind so diktatorisch, dass sie noch nicht einmal etwas zum Unterdrücken haben!

Aber wenn es nur das wäre! Die von den Russen eingeleitete Zeitenwende ist auch weltpolitisch eine einzige Katastrophe. Denn:

Wie sollen Krisen gelöst werden, wenn im Sicherheitsrat nichts mehr geht? Doch wird das Putin abschrecken? Schon werden Zweifel laut, ob sich die USA mit der EU auf eine Antwort einigen können ... Denn ein neuer Kalter Krieg hätte nicht nur Auswirkungen für den Kaukasus – er würde ein Unglück für die ganze Welt. Wie soll die Katastrophe in Darfur gelöst, wie die Krise mit einem nuklear aufrüstenden Iran entschärft werden, wenn sich im Sicherheitsrat wieder unversöhnlich zwei Blöcke gegenübersitzen?

Als ehemalige Mitsieger des zweiten Weltkriegs haben die Russen leider einen Sitz im Weltsicherheitsrat geerbt. Das ist schade, denn sie verdienen ihn nicht: Anstatt ihre eigene Verurteilung hinzunehmen, legen sie ein Veto ein und säen Zwietracht zwischen den USA und der EU, die sich an der Frage spalten, wie stattdessen gegen sie vorzugehen sei. Und sie erschrecken noch nicht einmal darüber, dass damit der Sicherheitsrat für all die imperialistischen Vorhaben blockiert ist, mit denen der Westen die Welt derzeit beglückt: Wie soll man so die Iraner mit ihrem Atomprogramm zurückstutzen und wie soll man die Menschen in Darfur retten, die nichts dringender brauchen als den vom Westen betriebenen ‚regime change‘ im Sudan und die Zuständigkeit des Westens für ihr Elend? Was soll aus all den schönen imperialistischen Vorhaben des Westens für die nächste Zeit werden, wenn die Russen sich quer stellen und so dafür sorgen, dass sich im Sicherheitsrat wieder unversöhnlich zwei Blöcke gegenübersitzen?

*

Weil dieses Thema gar so interessant ist, macht sich der Herausgeber der ZEIT in einem eigenen Kommentar höchstpersönlich daran, noch einmal definitiv das Interessante vom Blöden zu trennen. Unter der Überschrift Der Bär und die Maus – gemeint ist der bekannte russische Bär und die weniger bekannte grusinische Maus – und dem Untertitel Georgiens Unterwerfung ist Russlands imperialer Rückfall, meint Josef Joffe wird schon mal einsortiert, wo in diesem Fall David und Goliath und dementsprechend Recht und Unrecht anzusiedeln sind. Der seriöse Journalist findet es in diesem Fall ausnahmsweise blöde, mit der kindischen Frage „Wer hat angefangen?“ Grund und Anlass in eins zu werfen, was sonst ziemlich verbreitet ist. Interessanter findet er in diesem Falle die Frage nach den Ursachen des Konflikts.

„Machen wir uns nichts vor: Saakaschwili bot nur den Anlass. Die Ursache dieses Krieges ... heißt Russland ... ‚Ne kulturny‘, muss die Kanzlerin Medwedjew am Freitag in Sotschi sagen, und zwar in diesem Sinne: Wollen Sie eine reiche und respektierte Macht oder wie das alte Russland sein – unsicher und aggressiv, ängstlich und auftrumpfend? Wir können und wir wollen keinen Krieg führen, aber wir werden es nicht zulassen, dass Sie die letzten Pipelines, die Russland umgehen, in die Hand des Kreml bringen.“

Der Grund ist also klar: Es sind die Russen. Die sitzen auf den meisten Pipelines, die auf ihrem Staatsgebiet liegen, und jetzt wollen sie die paar, die wir um sie herumlegen wollen, auch noch unter ihre Fuchtel kriegen. Das geht entschieden zu weit, findet der Herausgeber der ZEIT und verlangt, dass die deutsche Kanzlerin ein ernstes Wörtchen mit dem russischen Präsidenten redet: Sie soll ihm den Rückzug mit der Aussicht auf Geld und Ehre schmackhaft machen und andernfalls, wenn er nicht gutwillig die Finger von unseren Pipelines lässt, mit Kriegsbereitschaft drohen. Die Worte dafür legt Joffe seiner Kanzlerin gleich in den Mund, damit die Führung im Kreml auch wirklich begreift, was die Stunde geschlagen hat – offenkundig fürchtet er nicht, dass ihm jemand erst die Landkarte zeigt und dann einen Vogel. Als Vertreter eines renommierten Blattes wie der ZEIT hat er Anspruch darauf, als Politikberater gehört zu werden. Seine Kompetenz fällt zusammen mit dem Renommee seines seriösen Blattes, das sich hauptberufliche Journalisten, weltweit tätige Korrespondenten, dazu noch ein paar angesehene Ex-Politiker und Professoren und sogar bezahlte Austräger leistet – womit sich auch klärt, was der Mann gegen die Billigkonkurrenz aus dem Internet hat: Sie irritiert den Größenwahn eines Qualitätsjournalismus, dessen Vertreter sich nicht bloß für die berufenen Interpreten halten. Einer wie Joffe versteht sich in aller Bescheidenheit als eine Art geistiger Lenker des Weltgeschehens; dies umso mehr, wenn die Botschaft, die er zu übermitteln hat, so wie in dem Fall zusammenfällt mit dem Größenwahn deutscher Politiker und Politikerinnen, die in aller Bescheidenheit als Platzanweiser in der Staatenwelt agieren. Dem Mann der ZEIT kommt seine scharfmacherische Grußadresse an die Chefin in Berlin jedenfalls ganz natürlich vor: Er nimmt sich doch nur die Freiheit, deren Großmachtsambitionen zu Ende zu denken.

Das ist Journalismus als 4. Gewalt. Offenbar sind nicht nur Kriege gut für die Zeitungen, sondern auch Zeitungen gut für Kriege.