Anmerkungen zum „Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“
Anspruch und Drangsale des deutschen Imperialismus

Die „Sicherheitspolitik Deutschlands“ ist ein anspruchsvolles, den ganzen Globus umfassendes Programm. Ausweislich des 2016 von der Bundesregierung beschlossenen Weißbuchs sowie diverser Stellungnahmen des seinerzeitigen deutschen Außenministers und seiner Kanzlerin ist zwar eine militärische Bedrohung des Territoriums Deutschlands, gegen die es sich wappnen müsste, nicht absehbar, aber schon „vor unserer europäischen Haustür wüten Kriege und Konflikte“, von denen sich die verantwortlichen Sicherheitspolitiker betroffen sehen. Und auch weit vor besagter Haustüre, bis in den letzten Winkel des Globus, entdecken die Sicherheitspolitiker jede Menge „Anlass zur Sorge“: um nichts Geringeres als die Haltbarkeit des „internationalen Systems“. „Konkurrierende Ordnungsvorstellungen“ aufstrebender Staaten, durch Krieg und Bürgerkrieg provozierte staatliche Zerfallsprodukte, der internationale Terrorismus – so lauten die wichtigsten „Herausforderungen“, vor die die amtierende Bundesregierung sich mit ihrer Sicherheitspolitik gestellt sieht. Und dabei ist der jüngste und auf Dauer wohl verheerendste ‚Schlag ins Kontor‘ durch den neuen US-Präsidenten: die angekündigte Neusortierung der Staatenwelt unter dem Kriterium America first und nach der Leitlinie Make America great again – so als hätte die westliche Führungsmacht mit ihrer bisherigen Welt- und Bündnispolitik ihren Rang eingebüßt – noch gar nicht eingepreist.

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Anmerkungen zum „Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“
Anspruch und Drangsale des deutschen Imperialismus

Die „Sicherheitspolitik Deutschlands“ ist ein anspruchsvolles, den ganzen Globus umfassendes Programm. Ausweislich des 2016 von der Bundesregierung beschlossenen Weißbuchs sowie diverser Stellungnahmen des seinerzeitigen deutschen Außenministers und seiner Kanzlerin ist zwar eine militärische Bedrohung des Territoriums Deutschlands, gegen die es sich wappnen müsste, nicht absehbar, aber schon „vor unserer europäischen Haustür wüten Kriege und Konflikte“, von denen sich die verantwortlichen Sicherheitspolitiker betroffen sehen. Und auch weit vor besagter Haustüre, bis in den letzten Winkel des Globus, entdecken die Sicherheitspolitiker jede Menge „Anlass zur Sorge“: um nichts Geringeres als die Haltbarkeit des „internationalen Systems“. „Konkurrierende Ordnungsvorstellungen“ aufstrebender Staaten, durch Krieg und Bürgerkrieg provozierte staatliche Zerfallsprodukte, der internationale Terrorismus – so lauten die wichtigsten „Herausforderungen“, vor die die amtierende Bundesregierung sich mit ihrer Sicherheitspolitik gestellt sieht. Und dabei ist der jüngste und auf Dauer wohl verheerendste ‚Schlag ins Kontor‘ durch den neuen US-Präsidenten: die angekündigte Neusortierung der Staatenwelt unter dem Kriterium America first und nach der Leitlinie Make America great again – so als hätte die westliche Führungsmacht mit ihrer bisherigen Welt- und Bündnispolitik ihren Rang eingebüßt – noch gar nicht eingepreist.

I. Grund, Grundlage und Widerspruch globaler deutscher Sicherheitspolitik

1. Deutschlands Sicherheitsbedarf

a) Der kurze Schluss vom ökonomischen Welterfolg der Nation auf strategische Notwendigkeiten

„Wohlstand und Volkseinkommen sind in Deutschland in hohem Maße abhängig von funktionierenden Rahmenbedingungen – in Europa und in der Welt. Deutschland ist eng in internationale Handels- und Investitionsströme eingebunden. Unser Land ist in besonderem Maße auf gesicherte Versorgungswege, stabile Märkte sowie funktionierende Informations- und Kommunikationssysteme angewiesen. Diese Abhängigkeit wird weiter zunehmen.“ („Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“, im Folgenden: WB, S. 22)

Die ‚Einbindung‘ Deutschlands in internationale Handels- und Investitionsströme, von der die Autoren des Weißbuchs berichten, steht für einen bemerkenswerten Erfolg der Nation, den die für Wohlstand und Volkseinkommen politisch Verantwortlichen auf gar keinen Fall in Frage gestellt sehen wollen: Handel und Kapitalverkehr in Europa und in der Welt laufen in schönem Umfang über Deutschland; die heimische Geschäftswelt weiß Ressourcen weltweit – Lieferanten, Absatzmärkte, Geldanlagesphären, Finanzmittel ... – für ein national zu Buche schlagendes Wachstum zu nutzen. An eine ökonomische Erfolgsmeldung ist aber nicht gedacht, wenn Sicherheitspolitiker vom Zugriff der Nation auf fremden Reichtum als ‚Einbindung‘ reden. Ihnen geht es um den Umstand, dass Deutschland deswegen in hohem Maße abhängig, auf funktionierende Rahmenbedingungen für effiziente Geschäftstätigkeit angewiesen ist, und das weiter zunehmend. Sie erkennen darin ein von ihnen zu lösendes Problem, das mit dem Stichwort Abhängigkeit im Prinzip schon hinreichend gekennzeichnet ist: Die unverzichtbaren Mittel des kapitalistischen Geschäftserfolgs, für dessen nationale Bedeutung der Hinweis auf Wohlstand und Volkseinkommen steht, unterliegen nicht ihrem freien, unabhängigen Willen. Deutschlands ökonomische Abhängigkeit ist eine von Rahmenbedingungen außerhalb der hoheitlichen Zuständigkeit des deutschen Staates, dessen souveräne Selbstbestimmung die Bundeswehr nach außen zu sichern hat. Ein Problem ist dieses ‚außerhalb‘ nicht deswegen, weil dort niemand zuständig wäre, sondern im Gegenteil weil die eigene Staatsgewalt dort überall mit fremden Hoheitsansprüchen zu rechnen hat.

Mit welchen, das macht das Weißbuch im Folgenden deutlich. Schon vorab steht mit der Gleichung von weltweitem Geschäftserfolg als Quelle des nationalen Reichtums und nationaler Abhängigkeit als zu bewältigender Problemlage aber fest, worum es bei den zu sichernden Versorgungswegen, Märkten und Kommunikationssystemen tatsächlich geht: Der deutsche Souverän hat entscheidende Bedingungen des Erfolgs seiner Ökonomie und damit seiner Macht nicht unter seiner hoheitlichen Kontrolle, und dabei kann es nicht bleiben. Sicherheitspolitisch gefordert ist ein Äquivalent zu seinem Gewaltmonopol im Innern für sein Außenverhältnis, eine Verfügungsmacht nicht im technischen Sinn über irgendwelche Verkehrswege und Informationssysteme, sondern über die alles entscheidende politische Rahmenbedingung: die auswärts zuständigen Staatsgewalten; und das nicht bloß im Hinblick auf irgendwelche Abmachungen und ein berechnendes Entgegenkommen der Kollegen, sondern – es geht ja um Sicherheitspolitik – im Sinne einer unkündbaren Verpflichtung auswärtiger Souveräne auf Regeltreue überhaupt. Aus dem ganz kurzen Schluss vom ökonomischen Welterfolg auf Abhängigkeit der Nation folgt der Auftrag der Regierung an sich selbst, die Staatenwelt auf die Respektierung ihrer Funktion als Mittel deutschen Reichtums und deutscher Macht festzulegen. Mit fremden Souveränen kann und will die deutsche Nation dann, aber auch nur dann gut leben, wenn Sicherheit darüber herrscht, dass die international institutionalisierten Regeln, nach denen jedes Land – auch – deutschem Kapital zur Benutzung offen steht, als Prämisse jedes souveränen Machtgebrauchs anerkannt sind.

Wie weit dieser global dimensionierte deutsche Kontroll- und Sicherheitsanspruch geht, welches Niveau seine Realisierung haben muss, damit deutsche Politiker ihn eingelöst und in Einklang mit den globalisierten deutschen Reichtumsquellen sehen, stellen die Autoren des Weißbuchs unmissverständlich klar.

b) Amtliche Klarstellungen über den Gehalt globaler deutscher Ordnungsansprüche

Unterhalb einer globalen Ordnung der Gewalten geht es da nicht; was sie von der verlangen, drücken die Sicherheitsexperten der deutschen Republik daran aus, was sie weltweit so alles in Unordnung sehen:

„... Asien, Afrika und Lateinamerika ... Dynamische Wachstumsgesellschaften verbinden ihren steigenden Wohlstand und ihre Teilhabe an der globalen Wertschöpfung mit dem Anspruch auf stärkeren Einfluss in regionalen und globalen Fragen. Sie untermauern dies auch durch eine deutliche Erhöhung ihrer Verteidigungsausgaben und eine intensivere Koordinierung ihrer Interessen im Rahmen neuer Staatengruppen und Organisationen.“ (WB, S. 30)

Was der Pfefferkuchenausdruck Einfluss hier meint, erläutert der Verweis auf erhöhte Verteidigungsausgaben ebenso schief wie eindeutig: Den so kritisch begutachteten dynamischen Wachstumsgesellschaften geht es, vom Standpunkt deutscher Sicherheitspolitiker ganz selbstverständlich, um Gewaltmittel, mit denen sie sich des Willens auswärtiger Souveräne derart versichern können, dass die sich in den Rahmen neuer Staatengruppen und Organisationen einfügen lassen und so den angestrebten Machtzuwachs befördern. Und das geht aus der übergeordneten globalen Perspektive des Weißbuchs gar nicht:

„Eine Fragmentierung mit verschiedenen, unter Umständen konkurrierenden Regionalsystemen würde die universale Bindungswirkung der Grundlagen und Institutionen unserer gegenwärtigen weltweiten Ordnung schwächen... Zunehmend militärisch unterlegte Gestaltungsansprüche erstarkender Staaten bei gleichzeitig fortbestehenden Territorialkonflikten sowie das Streben nach regionaler Vormachtstellung gefährden die Stabilität des internationalen Systems – und dies nicht nur im europäischen Umfeld. Regionale Gebietsstreitigkeiten in Verbindung mit Machtprojektionen geben insbesondere südost- und ostasiatischen Staaten Anlass zur Sorge.“ (WB, S. 38)

Die gegenwärtige weltweite Ordnung, die die Bundesregierung gleich als die unsere mit Beschlag belegt, beruht auf Grundlagen, deren Bindungswirkung universal und deswegen mit eigenmächtig konstruierten Regionalsystemen unverträglich ist, auch wenn diese bloß unter Umständen damit ‚konkurrieren‘. Deswegen gibt es deutschen Sicherheitspolitikern Anlass zur Sorge, wenn regionale Gebietsstreitigkeiten wo auch immer, und sei es ‚weit hinten‘ in Afrika oder Ostasien, nicht bloß auf der Landkarte ausgetragen, sondern mit Machtprojektionen ‚verbunden‘ werden. Und das ist doch mal deutlich: Die deutsche Politik geht aus von der Tatsache eines internationalen Systems, das erstens universal gilt und zweitens keinerlei Fragmentierung duldet, also entschieden unipolar beschaffen ist; sie lässt keinen Zweifel darüber, wie in diesem System die Positionen von maßgeblicher Instanz und geordneten Objekten verteilt sind; und sie will mit der Bindungswirkung dieses Systems Machtprojektionen fremden Ursprungs ausgeschlossen wissen, beansprucht also ein Regime über den Gewaltgebrauch souveräner Mächte weltweit.

In Form von Anklagen und Bedrohungsszenarien geben die Autoren des Weißbuchs wertvolle ergänzende Hinweise auf den Teil des internationalen Systems, für den, und auf den Teil ihres unteilbaren Ordnungsanspruchs, für dessen Bindungswirkung sie sich ganz speziell zuständig wissen:

„Auch wenn diese [sc. die gesamteuropäische] Friedensordnung den Ausbruch vorübergehender, lokal begrenzter gewaltsamer Auseinandersetzungen in Europa nie ganz verhindern konnte, so bildete sie doch die Grundlage für deren Bewältigung und damit für weitreichende Stabilität.
Durch seine auf der Krim und im Osten der Ukraine zutage getretene Bereitschaft, die eigenen Interessen auch gewaltsam durchzusetzen und völkerrechtlich garantierte Grenzen einseitig zu verschieben, stellt Russland die europäische Friedensordnung offen in Frage. Dies hat tiefgreifende Folgen für die Sicherheit in Europa und damit auch für die Sicherheit Deutschlands. Russland wendet sich dabei von einer engen Partnerschaft mit dem Westen ab und betont strategische Rivalität. International präsentiert sich Russland als eigenständiges Gravitationszentrum mit globalem Anspruch.
Hierzu gehört auch eine Erhöhung russischer militärischer Aktivitäten an den Außengrenzen von Europäischer Union (EU) und Nordatlantischer Allianz (NATO). Im Zuge einer umfassenden Modernisierung seiner Streitkräfte scheint Russland bereit, an die Grenzen bestehender völkervertraglicher Verpflichtungen zu gehen. Der zunehmende Einsatz hybrider Instrumente zur gezielten Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden schafft Unsicherheit in Bezug auf russische Ziele.“ (WB, S. 31 f)

Die Krim ist für deutsche Sicherheitspolitiker nicht ein Streitobjekt zwischen fremden Souveränen, die Ostukraine nicht der Schauplatz eines von Russland unterstützten völkischen Separatismus – das wäre ja auch in der Tat ganz verkehrt angesichts der weltpolitischen Auseinandersetzung um die ökonomische und regionalpolitische Inbesitznahme der Ukraine durch die EU, die dort in Gang ist, und ihrer kriegerischen Eskalation. Der deutschen Sicherheitspolitik geht es auch nicht bloß um die Funktionstüchtigkeit internationaler Handels- und Investitionsströme, soweit sie über Kiew und Odessa laufen und für Deutschlands Volkseinkommen eine Rolle spielen könnten. Der russischen Intervention gegen die Abspaltung der Ukraine vom überkommenen und neu beanspruchten Einflussbereich Moskaus misst man in Berlin eine ganz fundamentale Bedeutung zu, nahe an einer Kündigung der europäischen Friedensordnung überhaupt. Und das nicht eigentlich wegen der bewaffneten Intervention Russlands und der Grenzverschiebung als solcher – der Ausbruch vorübergehender, lokal begrenzter gewaltsamer Auseinandersetzungen kann, das räumt das Weißbuch ein, in Europas Friedensordnung durchaus schon mal hineinpassen –: Russland, das ist sein eigentliches Verbrechen, erlaubt sich die Abwendung von einer engen Partnerschaft mit dem Westen, betont strategische Rivalität, will erstens ein Gravitationszentrum, zweitens ein eigenständiges, drittens – was den Kämpfen im Osten der Ukraine so gar nicht anzusehen ist – eines mit globalem Anspruch sein. Interessant ist an diesem Sündenregister die Selbstverständlichkeit, mit der die deutsche Regierung hier auf der Unteilbarkeit und Unipolarität der jede strategische Eigenmächtigkeit ausschließenden Weltfriedensordnung im Ganzen und auf der eigenen Zuständigkeit für deren gesamteuropäischen Teil im Besonderen besteht. Im Lichte dieses Anspruchs erkennen die Weißbuch-Autoren eine zusätzliche Sicherheitsgefahr für die Nation sogar schon darin, dass Russland bereit zu sein scheint, sich bei seiner nachholenden Aufrüstung – der Modernisierung seiner Streitkräfte – zwar im Rahmen bestehender völkervertraglicher Verpflichtungen zu halten, aber glatt an deren Grenzen zu gehen und seine Ziele in Sachen militärischer Gewalt nicht in Berlin zur Genehmigung einzureichen.

Am anderen Ende der Skala, auf die sich die Staaten der Welt verteilen, müssen die deutschen Sicherheitsexperten ebenfalls ein Bündel von Unsicherheit und Unordnung konstatieren:

„Zahlreiche Staaten sind durch Legitimitätsdefizite, schlechte Regierungsführung, schwache Strukturen, mangelnde Grundversorgung der Bevölkerung, ungleiche Teilhabe an gesellschaftlichem Wohlstand oder Korruption bei gleichzeitig geringer Wirtschaftsleistung gekennzeichnet. Fragile oder gescheiterte Staaten können den Schutz ihrer inneren und äußeren Sicherheit nur eingeschränkt aufrechterhalten. Der Schutzverpflichtung gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern kommen sie nicht oder nur bedingt nach. Die Erosion staatlicher Strukturen bietet für parastaatliche und terroristische Organisationen Rückzugsgebiete, begünstigt organisierte Kriminalität, Menschenhandel sowie illegalen Waffenhandel und schafft damit Räume, die sich der internationalen Ordnung entziehen. Diese Einflussgrößen tragen wesentlich zu krisenhaften Entwicklungen weltweit bei – so auch auf dem afrikanischen Kontinent und im Nahen und Mittleren Osten.“ (WB, S. 39)

Wieder gibt das Weißbuch in Form einer Zustands- und Gefahrenanalyse kund, wie total der Anspruch Deutschlands an eine ordentlich funktionierende Staatenwelt ist. Dass nicht nur ein paar, sondern inzwischen zahlreiche Staaten von ihrer Einbindung in Weltmarkt und Weltordnung weder als Herrschaften leben können noch ihre Völker leben lassen, wird hier als Problem präsentiert, das Deutschland mit ihnen hat, womit klargestellt ist, dass geringe Wirtschaftsleistung bis hin zu mangelnder Grundversorgung der Bevölkerung kein Grund dafür sein darf, die unbedingt geforderten Ordnungsleistungen schuldig zu bleiben. Staatliche Strukturen sind Pflicht – für die Exekution der internationalen Ordnung, der sich die ruinierten quasi-, halb-, para- oder gar nicht mehr staatlichen Subjekte andernfalls entziehen. Der Sache nach absurd, der Ordnungslogik nach aber folgerichtig, macht sich der deutsche Sicherheitsanspruch nicht von den materiellen Erfüllungsbedingungen abhängig, die er im ökonomischen und politischen Zustand dieser Staaten vorfindet. Er setzt sich selbst absolut, interpretiert von da aus den Ruin ganzer Staatenregionen und Subkontinente als Versagen der Herrschaft vor Ort und verbittet sich krisenhafte Entwicklungen, die wir nicht bestellt haben.

*

Der globale Kontroll- und Sicherheitsanspruch Deutschlands, der im Weißbuch in Form eines Mängelprotokolls ausgebreitet wird, ist kein bloßes Ideal. Er bezieht sich ersichtlich auf eine ökonomische und politisch-strategische Realität von Weltordnung. Die beruht auf dem welthistorisch einmaligen Zusammenschluss von konkurrierenden Mächten, die sich „der Westen“ nennen und als kollektiver Garant dieser Ordnung betätigen.

c) Der Urheber und Garant der Weltordnung, von der Deutschlands Sicherheitspolitik ausgeht: ‚Der Westen‘

„Deutschlands Sicherheit ist untrennbar mit der seiner Verbündeten in NATO und EU verbunden. Für die Sicherheit Europas ist das transatlantische Bündnis unverzichtbar. Nur gemeinsam mit den USA kann sich Europa wirkungsvoll gegen die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts verteidigen und glaubwürdige Abschreckung gewährleisten ... Bündnissolidarität ist Teil deutscher Staatsräson.“ (WB, S. 49)

Einerseits ist es nicht verwunderlich, dass Deutschlands verantwortliche Außenpolitiker Bündnissolidarität zur Staatsräson erklären. Die Ordnung einer ganzen Welt von staatlichen Souveränen, die sie ökonomisch beanspruchen – in Anspruch nehmen und strapazieren – und politisch unter Kontrolle halten müssen, ist nur als Werk des Bündnisses bzw. Bündnissystems zu haben, als dessen integraler Bestandteil Deutschland sich versteht: der Allianz der kapitalistisch mächtigsten, für die weltweite ‚Ordnung‘ maßgeblichen Staaten. Deren gemeinsame Macht ist tatsächlich das Gravitationszentrum der Staatenwelt, mit ihr untermauern die Bündnispartner praktisch die universelle Bindungswirkung aller bestimmten Regeln und die suprastaatliche Kompetenz all der Institutionen, die sie im Laufe der Jahrzehnte für die Ausgestaltung und Verwaltung dieser Ordnung geschaffen haben; ihre kollektive Gewalt macht aus ihren global dimensionierten Ansprüchen so etwas wie ein globales Recht, dessen Bruch mit diplomatischer Ächtung, ökonomischem Druck, im Extremfall mit „Strafmaßnahmen“ bis zum Krieg geahndet wird.

Dass gerade diese Nationen, die einander die mächtigsten und potentesten Konkurrenten sind, die Aufrechterhaltung und Ausgestaltung der Staatenordnung zu ihrer gemeinsamen Sache erklären und in diesem Sinne agieren, ist daher viel mehr als ein Mittel für die nationalen Kalkulationen und Ansprüche, die sie alle und eben auch Deutschland in Bezug auf die ganze Welt hegen. Insofern ist die Rede von der Bündnissolidarität als Staatsräson kein Pathos, sondern sachlich zutreffend. Tatsächlich besteht ihre Übereinkunft ja nicht darin, dass sie sich für die Durchsetzung wichtiger Interessen, die sie jeder für sich als ihr Recht veranschlagen, gegen störend aktive Machthaber zu Zweckbündnissen – „Koalitionen der Willigen“ – zusammenschließen. „Glaubwürdige Abschreckung“, wie sie sie brauchen und verstehen, ist ein Zweck von ebenso fundamentaler und genereller Art wie das „internationale System“, das Deutschland den ‚Einfluss‘ auf fremde Souveräne sichert, die die Nation für ihre anspruchsvolle Abhängigkeit vom Rest der Staatenwelt braucht; ihr positiver Inhalt ist ein Regime, das dank seiner universellen ‚Machtprojektion‘ auf der Grundlage fraglos überlegener Kriegspotenzen echte „Bindungswirkung“ entfaltet. Damit das Bündnis das leistet, ‚bindet‘ es freilich zuerst und vor allem die Bündnispartner in einer Weise aneinander, die über Absprachen zwischen mehr oder weniger willigen Gleichgesinnten hinausgeht. Für die Mitglieder der westlichen Allianz gilt eine „Solidarität“, d.h. eine Verpflichtung zum Zusammenhalten in Gewaltfragen, die allen besonderen nationalen Kalkulationen in Sachen ‚Machtprojektion‘ vorausgesetzt ist – nicht Gegenstand freier Kalkulation, sondern Prämisse aller Berechnungen und als solche in ihre nationale Staatsräson eingebaut. Zwischen ihnen herrscht Gewaltverzicht in dem speziellen Sinn, dass sie ihre weltweit ausgreifenden Sicherheitsinteressen der Vorentscheidung unterwerfen, Übergriffe aufeinander, ein gewaltträchtiges Geltendmachen eigener nationaler Rechte gegeneinander gar nicht erst in Betracht zu ziehen. Sie betrachten und behandeln einander vielmehr als Mit-Subjekte der im NATO-Vertrag beschworenen ‚Herrschaft des Rechts‘, also eines Gewaltregimes, dem sie ihre Konflikte untereinander auf alle Fälle, gewissermaßen a priori unterordnen – als Basis dafür, dass sie dieses Regime als wirksame Generalprävention, als „glaubwürdige Abschreckung“ gegen Dritte zum Einsatz bringen können. Von sich selbst reden diese Alliierten als einem Kollektivsubjekt: „der Westen“; und wenn sie sich in der Hinsicht völlig nüchtern als Wertegemeinschaft bezeichnen, dann drückt dieser Idealismus die Realität einer Bündnisdisziplin aus, die vor und über allen, einander wie auch immer widerstreitenden nationalen Berechnungen, Interessen und selbsterklärten Rechten Bestand hat. Die gemeinsamen militärischen ‚Strukturen‘ heben die jeweils nationale Kommandogewalt der Partner über ihre Soldaten zwar nicht auf; doch noch ganz unabhängig davon, ob und wie diese kollektiven ‚Kommandostrukturen‘ praktisch wirksam werden, ist in ihnen der Zusammenhalt der Verbündeten – negativ: der Ausschluss von Gewaltgebrauch gegeneinander – regelrecht institutionalisiert.

Andererseits – das macht die Betonung „Bündnissolidarität ist Teil deutscher Souveränität“ auf ihre Weise auch deutlich – verhindert dies nicht, dass sich die Solidarität der Alliierten dann doch immerzu darauf begutachten lassen muss, ob und wie sehr sie den Zwecken und Ansprüchen genügt, die die Bündnispartner als Nationen aufeinander und auf den Rest der Staatenwelt richten, auch wenn die Existenz des Bündnisses vom Ergebnis dieser Begutachtung gerade nicht abhängen darf oder soll. Selbstverständlich in dem Sinne ist dieses Bündnis, gerade als Teil der jeweiligen nationalen Staatsräson, keineswegs; fraglich soll es aber auch nicht sein. Der Westen ist der freie Zusammenschluss der potentesten kapitalistischen Mächte, der seine Leistung für deren Sicherheit, also für die gewaltbewehrte Garantie ihrer Autonomie inmitten einer Welt der Abhängigkeiten, gerade darin erbringen soll, dass sie ihre kollektive Abschreckungsmacht vom freien Gebrauch ihrer Entscheidungsgewalt nicht abhängig machen.

Es ist nicht zu viel behauptet, wenn man dieser Bündniskonstruktion eine gewisse Widersprüchlichkeit nachsagt. Wechselseitiger Gewaltverzicht und gemeinsame Abschreckung mögen für konkurrierende Großmächte eine interessante Option sein – so etwas als Prämisse der jeweiligen nationalen Selbstbestimmung, des Standpunkts der autonomen Ordnungsmacht, einzuführen und wahr zu machen, ist eine imperialistische Glanzleistung, die tatsächlich nur in der Ausnahmesituation einer weltkriegsmäßigen Notwendigkeit zustande gekommen ist. Die nur im Kollektiv zu leistende „glaubwürdige Abschreckung“ galt – ursprünglich und über Jahrzehnte – der Sowjetunion und ihrem Staatenblock; sie war die Kampfansage der USA an diesen Gegner, der sich der projektierten einen Welt des Dollar-Kapitals entzog, widersetzte und militärisch standhielt; eine Kampfansage mit dem rasant ausgebauten Instrumentarium eines die Welt umspannenden Atomkriegs mit mehrfacher ‚Overkill-Kapazität‘, der für Amerika und seine gleichgesinnten Verbündeten wegen der sowjetischen Gegenrüstung zu einem ‚Gleichgewicht des Schreckens‘ wurde, womit der unerträgliche Zustand gemeint war, mit einem feindlichen Vernichtungspotenzial rechnen zu müssen, das die eigene Existenz bedrohte. Dieses Kriegsprogramm gegen einen weltmächtigen Feind und die darin eingeschlossene Existenzgefahr, in der die Souveränität der Staaten selbst zu einer relativen Größe wird, weil sie autonom gar nicht zu sichern ist, war der ‚Sachzwang‘ zur Gründung der westlichen Allianz und hinreichender Grund für die Aufrechterhaltung der Bündnisdisziplin, die zwar für die amerikanische Führungsmacht immer anders ausgesehen hat als für ihre europäischen Partner und für die aufstrebende deutsche Weltwirtschaftsmacht einen anderen Nutzen hatte als für manches subalterne Mitglied, die aber über die Jahrzehnte des ‚Kalten Kriegs‘ für alle Beteiligten, auf je besondere Weise, zu der politischen Realität geworden ist, von der Deutschlands Sicherheitspolitiker – praktisch und ausweislich ihres Weißbuchs auch programmatisch – nach wie vor ausgehen.

Nämlich – und damit wird die Sache so eigentümlich paradox – auch nach dem Abgang der Sowjetunion, also der Erledigung der Existenzgefahr, die die großen kapitalistischen Konkurrenten – die überlegene Führungsmacht zu ihren Bedingungen, die kleineren Rivalen in ständigem Kampf um ein Maximum an Mitbestimmung – in ihr Bündnis hineingenötigt hat. Der Zweck der Allianz, den Weltkriegsgegner zu überwinden, seine Ausnahmestellung in Amerikas Welt zu liquidieren und die Staatenwelt auf Respektierung der von Amerika gehüteten Geschäftsordnung des globalen Kapitalismus festzulegen, war und ist erreicht; eine Weltordnung, die dafür sorgt, dass imperialistische Mächte wie Deutschland ihre mit ihren weltweiten Konkurrenzerfolgen einhergehenden Abhängigkeiten sicherheitspolitisch aushalten, ist Realität. Die eigentümliche Leistung des Bündnisses, den konkurrierenden kapitalistischen Mächten die Option auf Gewaltanwendung gegeneinander wegzunehmen, also zu ersparen – oder auch: zu ersparen, also wegzunehmen –, ist etabliert, das darauf basierende „internationale System“ bleibt bestehen. Der Haken ist nur: Mit der Existenzgefahr, die das Bündnis auf allen Seiten diszipliniert, die Beteiligten zur immerzu beschworenen Tugend der Solidarität genötigt, also den Westen begründet hat, ist nicht bloß der historische Grund, sondern auch der entscheidende Inhalt der Militärallianz, ihre Unverzichtbarkeit und Alternativlosigkeit, folglich die Garantie für die imperialistisch so ertragreiche Relativierung der Autonomie der Bündnispartner entfallen.

Mit den Konsequenzen – die sich keineswegs von selbst einstellen, die vielmehr von den verschiedenen konkurrierenden Mächten, insbesondere von den Alliierten selbst, je auf ihre Art herbeigeführt, auf die weltpolitische Tagesordnung gesetzt und davon auch wieder abgesetzt werden – befasst sich die Bundesregierung in ihrem Weißbuch.

2. Der globale Triumph der westlichen Allianz: Die Mitglieder des „freien Westens“ befreien sich zu einer zersetzenden Konkurrenz um den Zweck ihres Bündnisses

Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen; sogar ohne heißen, weil die Sowjetunion ihm den von Ronald Reagan auf die Tagesordnung gesetzten Test auf die Ernsthaftigkeit der todernst angesagten Alternative ‚totrüsten oder totbomben‘ erspart hat. Die diesbezügliche Euphorie ist aber zweieinhalb Jahrzehnte nach dem freudigen Ereignis auch bei den Weißbuch-Autoren und ihren politischen Auftraggebern einer gewissen Ernüchterung gewichen. Nicht weil die Menschen dazu neigen, das Geschenk der Freiheit gering zu achten, sobald sie ausnahmslos gilt. Sondern weil die staatlichen Garanten der nunmehr globalen Freiheit konstatieren müssen, dass ihr epochemachender Sieg die Grundlagen dessen prekär gemacht hat, wofür sie ihn doch errungen haben wollen.

„Mit dem Ende der Teilung Europas wuchs die Hoffnung auf eine Zukunft in Frieden, verbunden mit einer ‚Friedensdividende‘. Deutschland war kein Frontstaat mehr...
Gleichzeitig jedoch veränderte sich mit der Wiedererlangung der vollen Souveränität die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt. Es wurde deutlich, dass Deutschland die gleichen Rechte, Pflichten sowie Verantwortung im internationalen System zukommen wie anderen Staaten...
Als Konsequenz traten Landes- und Bündnisverteidigung in den Hintergrund...“ (WB, S. 137)

Was hier mit einem jedoch gegenübergestellt wird, sind zwei verschiedene Varianten derselben Sache: Die vierzig Jahre lang geltende Existenzbedrohung durch einen auf deutschem Boden geführten Krieg der beiden Blöcke war mit Ende der Ost-West-Konfrontation vorbei – und das war für die bundesdeutschen Politiker von Beginn an gleichbedeutend damit, dass sie endlich die Fessel losgeworden sind, die die gleichzeitig als existenziell gewusste und gewollte Westeinbindung für sie vier Jahrzehnte lang dargestellt hatte. Mit der Wiedererlangung der vollen Souveränität meinen sie eben nicht einfach die Eroberung der DDR – und auch nicht bloß die förmliche Beendigung letzter Überreste des alliierten Besatzungsrechts –, sondern die von der Subsumtion unter das NATO-Weltkriegsszenario befreite Hoheit über die eigenen Gewaltmittel, mit denen sie ihre – mit der ‚Wiedervereinigung‘ zugleich enorm gewachsenen – strategischen Ansprüche an das nahe und ferne Ausland zu formulieren und zu praktizieren beanspruchen.

Eine Aufkündigung des Bündnisses sollte und soll das nicht bedeuten, im Gegenteil. Denn die freigesetzten Gestaltungsansprüche, die schöne neue große Rolle Deutschlands in Europa und der Welt, die gleichen Rechte, Pflichten sowie Verantwortung, die Deutschland im internationalen System zukommen, weil es sie sich in aller Freiheit zumisst, beruhen nach wie vor darauf, dass es Mitglied der westlichen Allianz war, ist und bleibt – und dass die Allianz selber bestehen und schlagkräftig bleibt. Die Wahrheit des Geredes von der Friedensdividende und von der abnehmenden Bedeutung der Territorialverteidigung geht ja nicht in dem Umstand auf, dass die Sowjetunion als Bedrohung entfallen ist, sondern besteht in der auch von der deutschen Sicherheitspolitik fest verbuchten Prämisse, dass die euroatlantischen Bündnispartner ihre Gewaltmittel auch nach Wegfall des sozialistischen Reichs des Bösen weiterhin nicht im Sinne unbedingter Autonomie im Verhältnis untereinander in Anschlag bringen, sondern noch vor jedem anderen Gebot ihrer Staatsräson als Arsenal ihres gemeinsamen globalen Ordnungsstandpunktes, nämlich der dazu gehörigen glaubwürdigen Abschreckung.

Kein Wunder, dass bei dieser doppelten Anspruchslage an das Bündnis nach runden fünfundzwanzig Jahren – nicht nur – bei den seinerzeit so hoffnungsfrohen Führern der deutschen Macht und ihren Funktionären fürs Militärische eine leichte Katerstimmung um sich greift. Das ist nämlich wirklich nicht zu haben: Die Freiheit von allen Fesseln für den souveränen Machtgebrauch, die sie sich mit der gegen die Sowjetunion gerichteten Konstruktion ihrer Allianz auferlegt haben, und die Verfügbarkeit der Allianz in all ihrer aus der Epoche des Kalten Kriegs überkommenen Wucht für alle nationalen Ambitionen in Sachen europäischer und weltweiter Ordnung. Die global Ordnung stiftende Durchschlagskraft ihres Vereins beruhte und beruht darauf, dass dieser jenseits aller besonderen nationalen Kalkulationen mit ihm existiert, was nach dem Ende seiner weltkriegsmäßigen Existenzgrundlage umgekehrt heißt, dass seine Instrumentalisierung für diese bloß noch nationalen Kalkulationen die Räson seiner Existenz untergräbt. Deutschland – wie jedes Mitglied – bezieht sich auf den Club als fraglos notwendige Grundlage aller seiner hochgesteckten Ansprüche, sieht sich folgerichtig – ebenfalls wie jedes andere Mitglied – funktionalisiert, wenn die anderen sich in exakt der gleichen Weise auf das Bündnis beziehen, und stellt – auch das wie die übrigen Partner auch – seine derart beanspruchte Bündnissolidarität unter Vorbehalt. So sorgen Deutschland und alle anderen Mitglieder des transatlantischen Clubs seit dem epochalen Ende der Teilung Europas praktisch dafür, dass der Nutzen ihrer Allianz, ihr Monopol auf glaubwürdige Abschreckung und universale Bindungswirkung, nach dem Wegfall ihres alten Zwecks zunehmend schwindet. Daher ergänzen sie ihre Konkurrenz um die Instrumentalisierung des Bündnisses um den komplementären Standpunkt der Sorge um das Bündnis, der dessen Pflege zum eigenen, berechnend verfolgten Zweck erhebt:

„Die Festigung des Zusammenhalts und die Stärkung der Handlungsfähigkeit von NATO und EU sind für Deutschland von herausragender Bedeutung. Um gemeinsames Handeln zu ermöglichen, setzen wir uns aktiv für den Ausgleich gegensätzlicher Interessen ein und sind bereit, Verantwortung und Führung zu übernehmen.“ (WB, S. 49)

Auch das heilt absehbarerweise das unheilbare Missverhältnis zwischen dem allen Zwecken vorausgesetzten Standpunkt ihrer Allianz und den nationalen Zwecken, die sie erfüllen soll, nicht. Zwar mögen deutsche Politiker entschieden gewillt sein, die Festigung des Zusammenhalts und die Stärkung der Handlungsfähigkeit von NATO und EU zu einem Hauptanliegen ihrer weltpolitischen Agenda zu machen. Um gemeinsames Handeln zu ermöglichen, werden sie aber ganz bestimmt nicht einen einzigen Moment vergessen, wofür die euroatlantische Gemeinsamkeit aus deutscher Sicht gut zu sein, worin sie daher überhaupt zu bestehen hat. Wenn sie Verantwortung und Führung versprechen, dann kündigen sie an, die Allianz, an der sie als Prämisse ihrer Weltpolitik festhalten, dadurch zu retten, dass sie ihr ihren Zweck vorgeben, also gegen die anderen durchsetzen, worin und wofür sie existiert. Das halten sie sich als Bemühen um den praktisch gültigen Ausgleich gegensätzlicher Interessen zugute, die immer nur die anderen haben, die damit den schönen westlichen Zusammenhalt zersetzen.

II. Das vom Weißbuch so genannte „sicherheitspolitische Umfeld Deutschlands“: Haupt- und Nebenwirkungen der „neuen Weltordnung“ Amerikas vor ihrem Umsturz durch den neuen Präsidenten

Wie richtig Deutschlands Verantwortliche für Gewalt und Sicherheit liegen, wenn sie sich um den Zusammenhalt der transatlantisch verbündeten Konkurrenten Sorgen machen, nämlich wofür sie ihre Allianz derzeit und demnächst in Anspruch zu nehmen gedenken, das geht aus dem sicherheitspolitischen Rundblick hervor, an dem das Weißbuch die Nation teilhaben lässt. Aus amtlicher Perspektive macht der Nation eine Weltlage zu schaffen, die sich in problematischer bis gefährlicher Weise der Kontrolle durch „den Westen“ entzieht. Die ist tatsächlich das Ergebnis jahrzehntelanger gemeinsamer und konkurrierender Bemühungen eben dieses „Westens“, „die Lage“ voll unter Kontrolle zu bringen, was das Weißbuch freilich nicht so sieht, und was dessen Autoren bis zur Veröffentlichung ihrer Diagnosen auch nicht zu interessieren brauchte. Dumm nur, dass ausgerechnet der neue Chef der westlichen Führungsmacht auf seine Weise genau diesen Zusammenhang herstellt: Angesichts der für ihn zutiefst enttäuschenden Ergebnisse amerikanischer Einmischungspolitik verwirft Trump programmatisch die bisher praktizierte Kombination aus Rivalität, Kooperation und militärischer US-Dominanz im westlichen Bündnis.

An der hergestellten ‚Lage‘ ändert das direkt zwar nichts. Allen bündnispolitischen Kalkulationen der deutschen Sicherheitsverantwortlichen mit dieser Lage und ihren Gefahren ist damit aber die Grundlage entzogen. Denn es sind ja nicht bloß irgendwelche „westlichen Werte“, an denen sich aus offizieller deutscher Sicht der nunmehr als Präsident amtierende Immobilienfachmann aus New York mit seinem unkonventionellen Regierungsstil vergreift. Mit seinem kategorischen Imperativ America First nimmt Trump sich die Freiheit, auch in Bezug auf die westliche Allianz eine nationale Kosten-Nutzen-Rechnung aufzustellen, die dem Bündnis nicht automatisch einen eigenen Wert, die überhaupt keiner überkommenen supranationalen Partnerschaft irgendeinen Wert zuerkennt, noch nicht einmal einer unterwürfigen Gefolgschaft, wenn die sich nicht, wie auch immer, erkennbar für Amerika auszahlt. Er geht damit über die Sorte Kalkül hinaus, die seit dem Sieg über den sowjetischen Hauptfeind alle namhaften Teilhaber des Vereinigten Westens – auch die USA, und, wie dargestellt, Deutschland schon gleich – angestellt haben: Den Widerspruch, den die Beteiligten sich erhalten wollten, nämlich die Funktionalisierung ihres unkündbaren Bündnisses für ihre je neu definierten nationalen Sicherheitsinteressen, löst Trump programmatisch in einer Weise zugunsten des alleinigen amerikanischen Nutzens und Vorteils auf, die nicht gleich einer Kündigung der Allianz, aber durchaus einer Kündigung ihrer Unkündbarkeit gleichkommt. Und das tut er nicht als Chef eines subalternen Mitglieds, das aus seiner Allianzversicherung aussteigt und zusieht, ob es sich mit mehr Autonomie, aber ohne den Rückhalt einer kollektiven Weltmacht leichter tut in der Staatenwelt mit ihren Ungemütlichkeiten. Trumps Amerika schüttelt die Last der Führungsmacht im Bündnis ab, weil er im Kampf der letzten Jahrzehnte um Erhaltung resp. Restaurierung des Weltordnungsregimes des Westens nichts als einen fruchtlosen, ja für Amerika kontraproduktiven Aufwand erkennt, ein eindeutiges Minusgeschäft, das sein Land in fremde Händel verstrickt, andere größer, die USA als Weltmacht kleiner, von fremden Interessen abhängig gemacht hat. Dass er mit der Befreiung von der Last die Führungsmacht selbst die Einbindung der europäischen Rivalen in das Regime amerikanischer Gewalt in Frage stellt, darauf lässt Trump es ankommen – wenn er das überhaupt so sieht. Was er zurückgewinnt: die volle Ermessensfreiheit im Umgang mit allen anderen, für sich genommen allesamt schwächeren Staaten auf der Welt, ist ihm offenkundig mehr wert als ein Pakt, der zwar vor allem die großen Konkurrenten an die USA fesselt, ihm aber vor allem als Fesselung Amerikas vorkommt.

Der deutschen Weltordnungs- und Sicherheitspolitik ist damit im Prinzip der Boden unter den Füßen weggezogen. Ihr kommt ihre Prämisse abhanden: der gesicherte Rückhalt durch das Militärbündnis, als dessen Teilhaber Deutschland seine Macht weltweit entfaltet hat. Was der Nation erhalten bleibt, ist die problematische bis gefährliche Hinterlassenschaft der Weltordnungspolitik, für die die USA sich bislang hergegeben haben und an der die deutsche Republik teils kräftig und teils störend mitgewirkt hat. Wie Deutschlands Weltpolitiker ohne die alte kollektive Versicherung, unter den von Trump angekündigten und insoweit schon gesetzten Bedingungen, mit dieser Erblast fertig werden wollen, ist offen. Womit sie fertig werden müssen, wenn sie ihrem eigenen unverzichtbaren Anspruch auf eigenmächtig gesicherte Abhängigkeit vom Rest der Welt genügen wollen, davon erledigt sich gar nichts. Insofern mögen die – ohnehin sehr vagen – Handlungsperspektiven des Weißbuchs obsolet sein; die herrschende „Lage“, auf die sich seine Bedrohungsdiagnosen in aller nationalen Voreingenommenheit beziehen, ist es nicht. An der muss die nationale Sicherheitspolitik sich nach wie vor abarbeiten; nur muss sie sich dabei nun außerdem zur US-Politik des „America First“ ins Verhältnis setzen.

Geostrategisch umfasst dieses vom Weißbuch abgesteckte Umfeld, der Lage, den Mitteln und den Ambitionen Deutschlands entsprechend, zum einen Europa, das nach deutscher Definition Russland und dessen nahes Ausland unbedingt mit einschließt, sowie darüber hinaus einen wiederum ziemlich großzügig gefassten Krisenbogen von Nordafrika über die Sahelzone, das Horn von Afrika, den Nahen und Mittleren Osten bis nach Zentralasien (WB, S. 39). Die sicherheitspolitischen Herausforderungen, vor die die Verfasser des Weißbuchs Deutschland dort gestellt sehen, ergeben sich erstens aus der Politik, mit der Russland in den letzten Jahren auf den imperialistischen Zugriff des Westens reagiert; zweitens aus den Aktivitäten aufstrebender Regionalmächte im Mittleren Osten – exemplarisch zwar nicht für das Weißbuch, dafür umso mehr für die tatsächliche Lage die Türkei, Saudi-Arabien und Israel –, die der postsowjetischen Abschreckungspolitik des Westens in ihrer Region ihre eigenen Handlungsnotwendigkeiten und -optionen entnommen haben; sowie drittens aus der Ruinierung der Staatsgebilde im afrikanisch-asiatischen Umfeld Europas, die mit dem Ende des „Ost-West-Gegensatzes“ ziemlich folgerichtig ihren Status als irgendwie beachtliche „Entwicklungsländer“ eingebüßt haben und in die Kategorie fragile oder scheiternde Staaten (WB, S. 39) eingerückt sind.

1. Russland: Deutschlands und Europas Problem mit dem zum strategischen Konkurrenten gewandelten ehemaligen Hauptfeind

Den wichtigsten und zunehmend ärgerlichen Fall von ‚Herausforderung‘ haben deutsche Weltpolitiker im ehemaligen Hauptfeind selber, bzw. – das auseinanderzuhalten fällt ausweislich der einschlägigen Aussagen im Weißbuch definitiv nicht in ihr Ressort – in den Konsequenzen der konkurrierenden Umgangsweisen mit ihm, zu dem sich einerseits die USA und andererseits Deutschland und Europa nach dem Abtritt der Sowjetunion entschlossen haben. Wenn im Weißbuch – und nicht nur da – mit Blick auf Russland die Infragestellung der regelbasierten euroatlantischen Friedens- und Stabilitätsordnung (WB, S. 31) bedauert wird, dann gilt dieses Bedauern dem Ende der seit 1991 und sehr lange erfolgreich praktizierten Einbindung Russlands, die gleich von zwei Seiten bzw. in zweierlei Hinsicht betrieben worden ist:

Die USA ließen nach der Kapitulation und anschließenden Selbstauflösung der UdSSR keinen historischen Moment verstreichen, sondern arbeiteten sofort und dauerhaft darauf hin, den um die übrigen 15 Sowjetrepubliken reduzierten, aber immer noch gewaltigen russischen Rumpf des Ex-Reiches des Bösen um alle verbliebenen Machtmittel zu erleichtern und der neuen russischen Führung jede Ambition auf eine irgendwie mit der weggeschmissenen vergleichbare Weltgeltung abzugewöhnen. Der russische Verzicht auf weltpolitisches Gegenhalten war der Auftakt zur amerikanisch betreuten und assistierten, möglichst weitgehenden Verschrottung der militärischen Machtmittel Russlands sowie zur umgehenden Okkupation jedes Vor- und Umfeldes, das die neue einsichtige Macht räumte, weil sie nicht mehr ‚Konfrontation‘, sondern ‚Zusammenarbeit‘ wollte. Neben diesem alles überragenden Zweck gegenüber dem einstigen Feind war es den USA selbstverständlich ein Anliegen, der ökonomischen ‚Transformation‘ von der realsozialistischen ‚Hebel-‘ zur ‚Marktwirtschaft‘ den einzig akzeptablen Sinn zu verpassen. Der lautete ‚Öffnung‘ – für alle Formen, in denen amerikanisches Kapital ein in die amerikanische Ordnung des globalen Kapitalismus eingebautes Russland benutzen können wollte. Der damit einhergehende und unter Jelzin radikal vorangetriebene Ruin der ökonomischen Basis Russlands überraschte beide Seiten in seinem Ausmaß dann doch sehr, wobei die USA damit ganz gut zurechtkamen, zumal dieses ökonomische Desaster sie darin bestätigte, dass die russische Macht auch nur annähernde Ebenbürtigkeit mit ihnen weder verdiente noch sich leisten konnte. Dementsprechend verfuhren sie mit allen russischen Beschwerden über die Konsequenzen und Verlaufsformen der neuen wonderful friendship: Immer wenn Jelzin anmerkte, dass ihm gewisse westliche Übergriffe auf das strategische Umfeld Russlands dann doch zu weit gingen, ließen ihn seine amerikanischen Freunde wissen, dass ihre Lesart der Beendigung der Blockkonfrontation den grundsätzlichen russischen Verzicht auf eine eigene Einflusssphäre einschließt. Und wo die russische Führung angesichts der desaströsen Wirkungen der ökonomischen ‚Transformation‘ und ‚Öffnung‘ bemüht war, irgendwie noch irgendwelche nationalen Potenzen zu retten, bestand Amerika darauf, dass sich solche angeblichen ‚Rückfälle‘ in staatsdirigistische Unsitten verbieten.

Der Umgang Deutschlands und Europas, soweit Berlin das auf seine Linie zu bringen vermochte, mit Russland funktionierte jahrelang auf eine Weise, die einer Arbeitsteilung mit dem amerikanischen Partner gleichkam: Die Ex-Partnerländer der Sowjetunion und die Ex-Unionsrepubliken – allesamt ohne das einzige kapitalistische Lebensmittel – Kapital –, nur mit mehr oder weniger viel Industrie und Landwirtschaft ausgestattet – waren für ihre ‚Transformationen‘ auf westliches Kapital angewiesen, das ihnen der europäische Wirtschaftsblock und vor allem eben dessen ökonomische Hauptmacht gerne zur Exploration und Exploitation ihrer ehemals sozialistischen und nunmehr größtenteils unbrauchbaren Ökonomien anboten. Diese ökonomische Inbesitznahme der östlichen Transformationsstaaten zielte freilich auf weit mehr als ein paar neue Absatzmärkte und Standorte für europäisches Kapital: Der Osten Europas, nämlich das westliche Ausland Russlands, sollte strategisch in den europäischen Staatenbund eingemeindet werden; der sollte nicht zuletzt durch diese Erweiterung nach Osten selber ganz neu zu einem eigenständigen strategischen Machtblock mit Kernmächten und Peripherien transformiert werden. Die USA befürworteten und benutzten die EU-Osterweiterung ihrerseits lange Zeit quasi als politisch-ökonomische Unterfütterung der NATO-Osterweiterung, also der Erweiterung der strategischen Dominanz Amerikas bis an die Westgrenzen Russlands. Und die von Deutschland angeführten Europäer wiederum behandelten die Osterweiterung der NATO als strategische Absicherung ihres eigenen ordnungsmächtigen Ausgreifens; tatsächlich war die harte strategische Linie der USA gegenüber Russland die von ihnen weidlich ausgenutzte Basis ihrer ‚friedlichen‘ Angebots- und Einbindungspolitik. Diese wechselseitige Funktionalisierung war der konstruktive Umgang mit der Konkurrenz, in der diese beiden Erweiterungsprojekte immer zueinander standen – einer Konkurrenz, die umso deutlicher wurde, je mehr die doppelte Erweiterung vorangetrieben wurde. Die deutsche Ostpolitik ging unter Schröder immerhin bis an den Rand einer ‚strategischen Partnerschaft‘ mit Russland nicht nur in Energiefragen, die ausdrücklich dazu dienen sollte, die alternativlose strategische Verwiesenheit Europas auf die USA und damit die Unbezweifelbarkeit von deren Führungsrolle im westlichen Bündnis und auf der ganzen Welt ein entscheidendes Stück zu relativieren. Funktioniert hat diese expansive westliche Kombination von Gleichschritt und Konkurrenz, solange die Zugewinne gen Osten, die jede der beiden Seiten für sich verbuchen konnte, deren widerstreitenden Charakter kompensierten. Und die letzte Quelle dieser Zugewinne war jedoch weder das strategische Geschick der westlichen Außenpolitiker noch gar ein gegen Russland als Verlierer des jahrzehntelangen Ringens wirkender historischer Sachzwang zum Nachgeben, sondern die auf Einvernehmen mit den westlichen ‚Partnern‘ zielende Nachgiebigkeit der russischen Führung.

Der solcherart in die Gebräuche des Imperialismus eingeführte ehemalige Gegner hat dann aber doch – mit gewisser Verzögerung seitens des ersten russischen Präsidenten, dafür umso zügiger nachholend unter Putin – seine Lektionen gelernt, wenngleich nicht so ganz im Sinne derer, die sie ihm erteilt haben. Vor allem die eine, dass man sich den Respekt imperialistischer Konkurrenten gegenüber eigenen, und sei es als noch so elementar erachteten nationalen Ansprüchen, nicht durch Wohlverhalten erkauft, weil sich dies lediglich als untauglicher Ersatz für den Willen bzw. die Fähigkeit erweist, gewaltbewehrt auf diesen Ansprüchen zu bestehen. Unter Putin hat sich Russland zunehmend entschlossen als militärisch ernstzunehmende atomare und konventionell gerüstete Macht zurückgemeldet. Es insistiert auf ‚Respekt auf Augenhöhe‘, und zwar nicht zuletzt mit den Mitteln militärischer Machtentfaltung. Putin praktiziert inzwischen, was die konkurrierenden westlichen Alliierten seit dem Sieg über die Sowjetunion als ihr exklusives Recht beanspruchen: Er zieht wirksam ‚rote Linien‘ eigener imperialistischer Ansprüche und markiert damit praktisch das Ende der amerikanischen wie der europäischen Strategien mit ihren jeweils verschiedenen Mischungen aus Einhegung, Entmachtung und Instrumentalisierung Russlands auf weltpolitisch und ökonomisch niederem Rang.

Und: Er deckt damit notwendigerweise den eben gar nicht einfach arbeitsteiligen Charakter dieser Strategien auf. Mit dem Scheitern der von den USA bezweckten endgültigen Degradierung Russlands zur ‚Regionalmacht‘ zwischen Ostsee und Pazifik, verbunden mit dem Scheitern der immer weiteren ökonomischen und strategischen Okkupation des russischen ‚nahen Auslands‘ durch die EU wird offenbar, wie sehr da von dies- und jenseits des Atlantik konkurrierende Projekte betrieben werden. Diesen Offenbarungseid leisten die westlichen Alliierten selbst spätestens damit, dass sie die russische Politik in der Ukraine und die Besetzung der Krim zwar einmütig und mit viel Schaum vor dem Mund verurteilen, aber dieser Herausforderung für die Sicherheit auf unserem Kontinent (WB, S. 32) alles andere als eine gemeinsame Abwehr folgen lassen, weil sie sich als imperialistische Mächte unterschiedlich betroffen sehen.

Für Deutschland besteht die große Herausforderung tatsächlich im Angriff auf das bis dahin so ertragreiche Verfahren, den Zugewinn an weltordnerischer Gestaltungsfreiheit, den es mit dem Ende der Sowjetunion verbucht hat, Stück um Stück, immer berechnend, einerseits in strategische Präsenz auf den Schauplätzen westlicher Abschreckungspolitik umzusetzen, andererseits dabei ökonomisch von den neuen Besitzständen auch noch zu profitieren und schließlich darüber – beides zusammengenommen – Europa als politisch-ökonomischen Block unter deutscher Führung immer mächtiger zu machen. Das alles steht mit Putins neuer Politik auf dem Spiel: Die USA mit ihrer in der NATO verankerten traditionsreichen Weltkriegsbereitschaft sehen sich auf den Plan gerufen und forcieren die Konfrontation mit Russland in einer Weise und auf einer Ebene, die deutsche Politiker dazu veranlasst, vor einem ‚neuen Kalten Krieg‘ zu warnen; auf keinen Fall nämlich wollen sie ihre Macht wieder durch einen womöglich nuklearen Krieg auf ihrem Kontinent bedroht sehen – schon allein, weil dieses Szenario noch vor jedem wirklichen heißen Krieg auf dem Boden Europas die absolute und einseitige Abhängigkeit von den USA erneuern würde, die Deutschland seit dem Ende des Kalten Krieges als seiner neuen Größe nicht mehr angemessen überwinden will. Und nebenbei sehen sich die Vertreter der deutschen Macht damit konfrontiert, dass auch innerhalb Europas die verschiedenen Momente ihrer Expansionsstrategie durcheinander kommen und in Gegensatz zueinander geraten: Die von den USA angeführte und breit angelegte Bestrafung russischer Bereitschaft, die eigenen Interessen auch gewaltsam durchzusetzen und völkerrechtlich garantierte Grenzen einseitig zu verschieben und dafür auch zu hybriden Bedrohungen (WB, S. 39) zu greifen, beschädigt die zielstrebig eingerichteten ökonomischen Beziehungen zu Russland, offenbart die ziemlich ungleichgewichtigen Abhängigkeiten von diesen Beziehungen innerhalb der EU und spaltet den Kontinent entlang der Frage, wie viel eigenen ökonomischen Schaden man sich die neue Konfrontation mit Russland kosten lassen darf bzw. muss. Deswegen lassen die deutschen Sicherheitspolitiker ihre uneinigen Allianzpartner wissen, dass Europa mit Russland aber nach wie vor ein breites Spektrum gemeinsamer Interessen und Beziehungen (verbindet)... Nachhaltige Sicherheit und Prosperität in und für Europa sind daher auch künftig nicht ohne eine belastbare Kooperation mit Russland zu gewährleisten. (WB, S. 32)[1]

So ist der Problemfall Russland ohnehin schon zum prominentesten Fall für die grundsätzliche Problemlage geworden, in die der Westen sich mit seinem Welterfolg hineingesiegt hat: Am Anspruch auf gemeinsames Vorgehen gegen die Eigenmächtigkeit des neuen Russland, das sich andererseits von der feindlichen Alternative zum potentiell ausnutzbaren Konkurrenten fortentwickelt hat, haben sich die ungleichen Führungsmächte unübersehbar geschieden. Mit dem Amtsantritt Trumps erhält diese innerwestliche Konkurrenz um das Verhältnis zur russischen Macht und seine Instrumentalisierung für die Über- und Unterordnung zwischen den transatlantischen Partnern eine neue Schärfe und wird für Deutschlands Politiker zum wichtigsten Fall für die Gefahr, die sie in der Aufkündigung ‚des Westens‘ erblicken, als dessen letzte aufrechte Vertreter sie sich sogleich stilisieren. Wenn Trump während seines Wahlkampfs Putin mit Komplimenten bedenkt; wenn er als president elect per Interview Putin und Merkel zumindest moralisch auf eine Stufe stellt; wenn er in diesen und anderen Formen also andeutet, dass ihm womöglich an einer Entspannung des konfrontativen Verhältnisses zu Russland gelegen sein könnte: Dann sehen jedenfalls die Führer Deutschlands, die stets mit dem besonnenen, zivilen Charakter ihres weltpolitischen Auftritts anzugeben belieben, die weitere Wahrnehmung ihrer Verantwortung für die ‚europäische Friedensordnung‘ im Osten des Kontinents akut bedroht; zu Recht. Diese Verantwortung hat ja darin bestanden, den strategischen Zugriff des europäischen Staatenblocks auf Osteuropa über jede von Russland für sein westliches Vorfeld reklamierte Grenze hinauszutreiben; sie hat ihre Fortsetzung darin gefunden, gegen das in der Ukraine militärisch praktizierte russische ‚Njet‘ an dem exklusiven Anspruch auf ganz Europa einschließlich der Ukraine festzuhalten und mit diplomatischen und wirtschaftlichen Strafmaßnahmen auf die russische Gegenwehr zu antworten; und sie ist schließlich in heftige Bemühungen gemündet‚ die von den USA betriebene umfassende militärisch-strategische Eskalation gegen Russland dadurch auf einem für Deutschland nützlichen und handhabbaren Niveau einzuhegen, dass deutsche Politiker ihre Kompromisslosigkeit gegenüber Russland um ihre Vermittlertätigkeit für einen ‚Friedensprozess‘ zwischen den ukrainischen Kriegsparteien sowie deren jeweiligen weltpolitischen Auftraggebern – zu denen sie selber gehören! – ergänzen. Mit dem vom neuen US-Präsidenten angedrohten Schwenk finden sich die stets vor ‚Kriegsgefahr‘ und ‚Säbelrasseln‘ warnenden deutschen Friedensfreunde völlig ohne eigenes Zutun in der Rolle des wichtigsten Protagonisten der antirussischen Konfrontationspolitik der NATO wieder, die die Grundlage der eigenen Beschwichtigungspolitik gegenüber Russland darstellt. Das von ihnen mitgetragene und vorangetriebene Sanktionsprogramm muss nun nicht mehr dafür herhalten, neben der Beschädigung Russlands der amerikanischen Eskalationspolitik die nicht gewollte Spitze abzubrechen, sondern dafür, die antirussische Front aufrechtzuerhalten – und zwar, das ist ja nur die andere, für sie so unerfreuliche Seite davon –, ohne die Rückendeckung durch die übermächtige amerikanische Gewaltmaschinerie und die antirussische Entschlossenheit einer Obama-Regierung. Schwere Zeiten für die deutschen Verfechter der europäischen ‚Einheit in Freiheit‘ und der westlichen Wertegemeinschaft überhaupt, die ihr europäisches Projekt unter Druck (WB, S. 33) geraten sehen durch innere Krisen und Zerwürfnisse – und nunmehr auch aus Westen, wo neuerdings ein Präsident regiert, der in diesem Projekt vor allem eines der Konkurrenz zu Amerika entdeckt und den Briten zu ihrem vorbildlichen Brexit gratuliert.

2. Regionalmächte in näherer und weiterer Umgebung: zu ehrgeizig für die ihnen zugewiesenen Funktionen, zu potent für ihre wirksame Kontrolle, kontraproduktiv beim autonomen Gebrauch ihrer Gewalt

Das Weißbuch berichtet von einer Renaissance klassischer Machtpolitik, die auch den Einsatz militärischer Mittel zur Verfolgung nationaler Interessen vorsieht und mit erheblichen Rüstungsanstrengungen einhergeht (WB, S. 38), wodurch sich die Gefahr gewaltsamer zwischenstaatlicher Konflikte (ebd.) verschärft. Dieses Wiederaufleben von in den Augen gesitteter Imperialisten überholten außenpolitischen Verhaltensmustern haben die Verfasser des Weißbuchs vor allem bei den notorisch erstarkenden Staaten mit ihren beneidenswert dynamischen Wachstumsgesellschaften festgestellt. Vor allem in dem besagten Krisenbogen zwischen nordafrikanischer Atlantikküste und Zentralasien gibt es machtpolitische Rivalitäten zwischen nach Hegemonie strebenden Regionalmächten (ebd.), irgendwie – das Weißbuch lässt sich darüber nicht weiter aus – begleitet durch interkonfessionelle Gegensätze wie zwischen Sunniten und Schiiten sowie Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Religion und Staat (WB, S. 39 f). Und überdies ist es wohl auch so, dass das erhebliche Bevölkerungswachstum und die Erschöpfung natürlicher Ressourcen ... diese Zusammenhänge – welche auch immer – in Zukunft weiter verstärken (ebd.) werden. Zu allem Überfluss betreiben die regionalen Rivalen in diesem Zuge auch die entsprechende Beschaffungspolitik:

„Machtansprüche wirtschaftlich erstarkender Akteure und regionale Spannungen schlagen sich auch in regionalen Rüstungswettläufen nieder.
Aufrüstung kann die Stabilität des internationalen Systems und mittelbar auch die Sicherheit Europas und Deutschlands gefährden. Konventionelle Aufrüstung kann militärische Gleichgewichte auf regionaler und globaler Ebene verändern und das Risiko gewaltsamer zwischenstaatlicher Konflikte erhöhen. Die Entwicklung neuer Technologien, die von geltenden Rüstungskontrollregimen noch nicht erfasst werden, kann diese Tendenz erheblich verstärken. Gerade mit der Proliferation nuklearer, biologischer und chemischer Kampfmittel sind unkalkulierbare Risiken verbunden. Dies gilt umso mehr, wenn damit die Entwicklung oder Verbreitung von Trägermitteln einhergeht. Zudem könnten terroristische Netzwerke in den Besitz von Massenvernichtungswaffen gelangen.“ (WB, S. 40 f)

Sicherheitspolitiker werden ihrem Beruf gerecht, wenn sie auf diese Weise die Welt der Staaten und die sie behausenden Akteure und deren Aktivitäten betrachten und schildern. Ihnen reicht es festzuhalten, dass andere Staaten mit ihrem Gebaren und ihren Gewaltmitteln den eigenen Ansprüchen in die Quere kommen – und zwar ausgerechnet in einer Weltgegend, die der westliche Imperialismus nicht nur seit jeher als strategisch bedeutsam einstuft und behandelt, sondern die speziell europäische Mächte mit ihrem wachsenden Emanzipationsdrang von den USA als ‚südliche Gegenküste‘ bzw. als ‚südöstliches Vorfeld‘ o.ä. arrondieren und beanspruchen.

Was sie da – sachlich genommen – registrieren, ist ein weiteres Ergebnis von 25 Jahren schöner neuer Weltordnung ohne kommunistischen Staatenblock. Die beklagte Renaissance klassischer Machtpolitik vor allem im Mittleren Osten ist weniger eine Renaissance als vielmehr die ganz neu entfesselte Konkurrenz von ein paar besseren der nachrangigen Nationen. Die lebten vorher davon, dass sie sich in der einen oder anderen Weise strategisch für die vom Westen gezogene weltweite antisowjetische Front nützlich machten, wofür sie auch mit entsprechenden Gewaltmitteln ausgestattet wurden – nicht zu knapp auch mit solchen ‚made in Germany‘. Ihre Integration in den Weltmarkt bestand im vergleichsweise einträglichen Abliefern von Öl und Gas bei den kapitalistischen Metropolen, in der Rolle als Arbeitskräftereservoir oder als Billiglohnstandort.

Diesem, im Krisenbogen auch in den verflossenen Tagen der Blockkonfrontation periodisch kriegerischen Idyll trauerten die wenigen Staaten vor Ort, die es unter den besagten Bedingungen tatsächlich zu nennenswerten Potenzen in Sachen Geld und Gewalt gebracht hatten, keinen Moment lang nach. Gemäß der Logik, die auch die imperialistischen Vormächte beherzigten, definierten sie allesamt die neue Lage als Herausforderung für ihre Machtentfaltung: als Befreiung von einer Fessel und als Notwendigkeit, sich in der Konkurrenz um die Neuordnung der bis dato als strategischer Nebenkriegsschauplatz des Ost-West-Gegensatzes definierten Region erfolgreich gegen die anderen durchzusetzen. Den historischen Auftakt gab der Irak, der noch in der Phase der Auflösung der Sowjetunion, nach Beendigung seiner langen Schlacht gegen Iran versuchte, seinen nationalen Ertrag aus der schönen neuen Weltordnung frühzeitig einzufahren. Er wollte die ökonomischen Schäden seines jahrelangen Abnutzungsfeldzugs, den er auch im westlichen Interesse gegen den Iran geführt hatte, kompensieren und die akkumulierte militärische Macht in eine politische Vormacht über den Nahen Osten ummünzen, indem er sich das Ölscheichtum Kuwait aneignete.

Das scheuchte zum einen die halbwegs potenten Mächte in seiner Umgebung dazu auf, sich ihrerseits mit Gewaltmitteln neuer Qualität und in neuen Größenordnungen einzudecken. Vor allem aber die verbliebene Weltmacht sah sich dadurch herausgefordert. Sie nahm diese mittelöstliche Variante von nationaler Wiedervereinigung zum Anlass für ein paar einführende Klarstellungen über die von ihr geforderten Sitten innerhalb der Neuen Weltordnung, vor allem dahingehend, sich einen souveränen Gewaltgebrauch durch andere Mitglieder der Völkerfamilie nicht gefallen zu lassen. Im Verlaufe von reichlich zehn Jahren diente der Irak den USA in zwei großen Kriegen und einer zwischenzeitlichen Dauersonderbehandlung zum Exempel dafür, was im Rahmen ihrer Weltordnung so alles nicht erlaubt ist – von eigenmächtigen Grenzverschiebungen über den nicht autorisierten Besitz gewisser Waffenarten bis hin zu bestimmten Verhaltensweisen beim Verkauf von Öl und Gas kam da sehr schnell eine stattliche Liste zusammen. Die Präsenz, mit der sich die USA in diesem Zuge zur größten mittelöstlichen Streitmacht aller Zeiten aufgebaut haben, sollte einerseits die Basis dafür sein, den Krisenbogen, den amerikanische Politiker seit G.W. Bush als Broader Middle East (BME) definieren, entlang ihrer periodisch erneuerten und allen Mächte als verbindlich und unverhandelbar präsentierten Freund-Feind-Definitionen zu sortieren und politische Gefolgschaft sowie umfangreiche militärische Hilfsdienste für ihre Waffengänge einzufordern. Diese sollten andererseits nie bloß unrechtmäßig verschobene Grenzen wieder zurechtrücken wie im Golfkrieg von 1991, eine Terrororganisation ausschalten wie in Afghanistan 2001 oder die Gefahr von partout nicht auffindbaren Massenvernichtungsmitteln in den falschen Händen beseitigen wie im Golfkrieg von 2003. Stets waren diese Kriege von den USA darauf ausgelegt, exemplarisch ihren unipolaren Weltordnungsanspruch zu erneuern und zu beweisen, wie ernst Amerika den meint.[2] Militärisch waren dies allesamt keine Weltkriege, politisch waren sie gleichwohl für die ganze Welt bestimmt, die nach amerikanischem Dafürhalten insgesamt und immer mehr den Respekt vor der absoluten Überlegenheit des amerikanischen Vernichtungspotenzials hat vermissen lassen. Was auch bzw. vor allem für die europäischen Mitglieder des freien Westens galt und gilt: Nicht zuletzt dessen Restauration unter der anerkannten Führung Amerikas sollte das gewalttätige Auftreten der US-Macht in ihrem BME bewirken. Doch genau diese beabsichtigte Wirkung einer ordentlichen Disziplinierung der westlichen Alliierten, der Mächte vor Ort und obendrein der restlichen Staatenwelt durch glaubwürdige Abschreckung ist nicht so recht eingetreten, wie auch das deutsche Weißbuch nicht umhinkommt zu registrieren.

Auf die Mächte in der Region wirkt die US-Politik seither als Stachel, sich darum zu bemühen, ihrer jeweiligen Definition von regionaler Ordnung nicht nur gegeneinander, sondern vor allem gegenüber den USA Geltung zu verschaffen. Das betrifft mit gewisser Folgerichtigkeit in erster Linie diejenigen Staaten, die unbeschadet ihrer Konkurrenz untereinander eigentlich als unverbrüchliche Verbündete Amerikas in der Region gegolten haben. Denn die in mancherlei Hinsicht konstanten, in vielerlei Hinsicht immer wieder modifizierten US-Vorgaben in Sachen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Ansprüche, in Sachen Ge- und Missbrauch von nationalen Potenzen, in Sachen Freund und Feind, Krieg und Frieden führen ihnen laufend vor, wie wenig Rücksicht Amerika letztlich auf ihre nationalen Anliegen zu nehmen gedenkt, die es immer wieder durchkreuzt. Sie müssen registrieren, wie äußerst bedingt und vorübergehend sie ihre Ambitionen also in der Gefolgschaft zu Amerika unterbringen können. Inzwischen sind alle konkurrierenden Regionalmächte, jede auf ihre Weise, zu der Überzeugung gekommen, dass auf Amerika als Schutzmacht ihrer Sicherheitsansprüche im Prinzip kein Verlass ist. Darum versuchen sie sich allesamt an einer doppelten Umgangsweise mit dem großen Partner: Weil und in dem Maße, wie sie ihn als noch immer unverzichtbar definieren, ringen sie darum, in die amerikanischen Ordnungsanliegen und Projekte ihre nationalen Ansprüche einzubringen und denen Anerkennung zu verschaffen. Gleichzeitig suchen sie nach Wegen, sich von der für sie nur bedingt bis gar nicht mehr nützlichen Partnerschaft zu emanzipieren. Also folgen sie den amerikanischen Anträgen und Ansagen nur noch da, wo sie sich eine Verweigerung nicht zutrauen; sie verweigern sich zunehmend da, wo sie umgekehrt meinen, sich das leisten zu können und den eigenen Ansprüchen schuldig zu sein. Amerikanischen Angeboten auf mehr Zusammenarbeit beim ‚Ordnen‘ der Region lauschen sie ein ums andere Mal den Antrag auf Unterordnung ab, den sie abschlägig bescheiden. Und wenn Amerika seinerseits mit einer Verschlechterung der Beziehungen, mit einer Abkühlung der Freundschaft, gar mit der Kündigung lang gehegter, womöglich ‚einzigartiger‘ Allianzen droht, sehen sie sich erst recht dazu ermuntert, auf der Eigenständigkeit ihrer Macht zu bestehen: Immer öfter verweisen sie die USA darauf, dass die mit ihren Oberordnungsansprüchen auf regionale Koalitionäre angewiesen sind, die sich darum nicht alles gefallen zu lassen brauchen.

  • Israel, der einst engste aller engen Alliierten der USA außerhalb der NATO, hat aus der amerikanischen BME-Politik den Schluss gezogen, dass die Gleichung zwischen israelischer Sicherheit und amerikanischen Ordnungsanliegen für die Region überhaupt nur sehr bedingt gilt. Amerikanische Verweise darauf, dass der Bestand Israels an den Schutzgarantien der USA hängt und sie diese Garantien auch weiterhin politisch und materiell gewährleisten werden, beantwortet Israel mit ‚the need to defend ourselves by our own means‘. Unter dieser Parole besteht der vor allem von Amerika hochgerüstete Siedlerstaat darauf, seine Sicherheitsbedürfnisse selbst zu bestimmen und zu erfüllen: Mit einer Politik der Faits accomplis und der begleitenden kompromisslosen Diplomatie, mit immer neuen Rüstungsdeals und der Dauerdemonstration, wie schwer er es aushält, keinen Krieg zu führen, verfolgt er das anspruchsvolle Programm, für den großen Alliierten verbindlich zu definieren, was der eigentlich schützt, wenn er ‚das Existenzrecht Israels‘ schützt. Dazu gehört der lange verleugnete, inzwischen fast offiziell zur Staatsräson erklärte Anspruch, seinen Bestand als jüdischer Volksstaat durch Annexion der seit fünf Jahrzehnten besetzten Palästinensergebiete zu sichern. Eine von den USA mit mal mehr, mal weniger Vehemenz verfolgte „Zwei-Staaten-Lösung“ ist für Israel inakzeptabel, gilt mittlerweile sogar als Angriff auf den israelischen Staat und dessen jüdischen Charakter, über dessen völkerrechtlich einzig verbindliche Ausdehnung israelische Diplomaten alle Welt per Verweis auf das Alte Testament belehren. Dem palästinensischen Staatsgründungsterror der Hamas wie der auf Einvernehmen setzenden Linie der anderen Palästinenserfraktion begegnet Israel mit periodischen Feldzügen größeren Kalibers gegen den Gazastreifen, mit dem Ausbau der Siedlungen auf der Westbank und der Abwehr aller Anträge auf eine diplomatische Einigung mit den Palästinensern. Wenn diese Anträge gar in Form von Forderungen aus Washington, aus der New Yorker UN-Zentrale oder aus europäischen Hauptstädten ergehen, baut sich die israelische Staatsmacht erst recht als letzter Schutzschild der auf ihrem Boden und in weltweiter Diaspora lebenden Juden auf und schreitet zur diplomatischen Scheidung der Welt in unbedingte Israel-Freunde und Israel-, also Judenfeinde – bis hin zur Verweigerung obligatorischer Beitragszahlungen an die UNO und der lässigen Abqualifizierung der jüngsten Nahost-Konferenz in Paris als letzte Zuckungen einer Welt von gestern.

    Zweitens umfasst das israelische Sicherheitsinteresse seit 50 Jahren auch die totale und anerkannte Überlegenheit gegenüber jeder anderen Macht in der näheren und weiteren Nachbarschaft. Den Einbau Israels in eine amerikanische Nah- und Mittelostordnung, die dieses Recht verletzt, Forderungen nach Frieden oder gar gleichberechtigten zivilen Beziehungen mit seiner Nachbarschaft lehnt dieser Staat ab. Seine Sonderbeziehung zu den USA nutzt Israel für hartnäckige Versuche, seine Feinddefinitionen – an erster Stelle betrifft das die Atommacht Iran – auch für die amerikanische Politik verbindlich zu machen; mit seinen außerordentlichen militärischen Potenzen demonstriert es den regionalen Mächten seine Überlegenheit und den USA seinen Unwillen und sein Störpotenzial in Bezug auf jegliche Pax Americana, die das Recht Israels auf das ganze Heilige Land bis zum Jordan und auf Krieg auch nur potenziell einschränkt.[3]

  • Auch die Türkei treibt auf ihre Weise die Ausgestaltung der regionalen Ordnung, also deren Zersetzung voran. Nach Osten hat der ehemalige NATO-Frontstaat an der Südwestflanke der ehemaligen Sowjetunion deren asiatischen Teil zum Gegenstand seines turkvölkisch-islamisch legitimierten Großmachtstrebens, ganz ohne Auftrag durch die westliche Allianz, erklärt. Nach Westen, gegenüber dem europäischen Wirtschaftsblock, nutzt das Schwellenland Türkei seine ökonomischen Potenzen und seinen Nutzen für Europa für den Kampf gegen die europäische Strategie der Einbindung der Türkei als zwar wichtigen, aber subalternen Partner in die Peripherie des von Brüssel administrierten und von Berlin dominierten Staatenblocks. Und nach Süden beansprucht die Türkei mit Verweis auf ihre Betroffenheit von allen regionalen ‚Verwerfungen‘ die Rolle als Mitaufsichts- und Regelungsmacht und mit ihrer speziellen Mischung aus Kapitalismus und islamischem Nationalismus die Vorbild- und Vormachtrolle für die arabisch-islamischen Länder. Und in alle Richtungen stellt die Türkei klar, dass sie sich von niemandem einen Umgang mit der Kurdenfrage vorschreiben oder es sich gefallen lässt, wenn die Kurden gegen türkische An- und Einsprüche zum Hebel für inner- oder zwischenstaatliche oder regionale Affären benutzt und aufgebaut werden.

    Mit diesem umfassenden Bestreben, sich vom untergeordneten Frontstaat und Entwicklungsland zu einer neuen, gar nicht nur regionalen Macht zu emanzipieren, gerät die Türkei in Konflikt mit allen anderen ambitionierten Staaten in der Region und vor allem mit den Ansprüchen der USA. Es liegt in der Logik eines solchen Programms, dass dessen Vertreter diese Konflikte als eine Bestätigung dafür nehmen, wie richtig sie mit diesem Programm liegen. Insbesondere die von den USA in ihrer Umgebung angezettelten Kriege definiert die Türkei als Gefährdung ihres nationalen Bestandes und ihres Zukunftsprojekts – und begreift dies konsequenterweise nicht als Auftrag, sich für ihre Beendigung stark zu machen, sondern sich als machtvoller Akteur in sie einzubringen: Sowohl die durch Kriege und Sanktionen bewerkstelligte Zerstörung des Irak als auch das mit viel Waffengewalt betriebene ‚nation building‘ im Irak misst sie von Anfang an daran, wie sehr ihre ‚Sicherheitsbedürfnisse‘ berücksichtigt werden. Mit regelmäßigen Militärinterventionen, mit diversen Formen der politischen Einmischung in die ‚Streitfrage‘ um eine Aufspaltung oder Rettung des irakischen Nationalstaats, immer unter der Parole der Abwehr des kurdischen Sezessionsterrorismus und ihre besondere Verantwortung für die Turkvölkerschaften im Irak, kämpft die Türkei beherzt um die Rolle einer Macht, ohne die im und für den Irak keine ‚friedliche Lösung‘ welches Konfliktes auch immer möglich ist. Die strategische Partnerschaft mit Israel, zustande gekommen auf den ausdrücklichen Wunsch der USA, sollte zum Hebel einer entsprechend beeindruckenden militärischen Präsenz der Türkei in der Region werden; weil aber Israel der Türkei eine ‚Augenhöhe‘ innerhalb dieser Partnerschaft nie zugestehen wollte, war es dem inzwischen regierenden Erdoğan Pflicht und Ehre, auch mit dieser ansehnlichen Militärmacht einen Konflikt um Respekt und Geltung vom Zaun zu brechen. So durften die Palästinenser einmal mehr zum Anlass und Berufungstitel für einen vorderorientalischen Machtkampf herhalten, den Erdoğan angelegentlich der Aushungerung des Gaza-Streifens und dagegen gerichteter humanitärer Aktionen bis an den Rand bewaffneter Auseinandersetzungen mit Israel forcierte. Die von den USA auf die Tagesordnung gesetzte Beseitigung Assads in Syrien, mit dem die Türkei in den paar Jahren davor eine ansehnliche ‚strategische Allianz‘ geschmiedet hatte, sollte nach dem Willen Erdoğans ebenfalls nicht ohne die Türkei stattfinden, wenn sie nun schon einmal anstand. Unter Rückgriff auf das gesamte einschlägige Arsenal von Vermittlungsangeboten, über die Beherbergung der ‚zivilen Opposition‘, die Aufnahme und Instrumentalisierung von syrischen Flüchtlingen bis hin zur Rekrutierung und Bewaffnung von ‚bewaffneten Rebellen‘ und eigenen Militäraktionen auf bzw. über syrischem Boden gestaltet die Türkei dieses Kapitel des ‚Arabischen Frühlings‘ mit. Dabei achtet sie streng darauf, sich nicht zum Erfüllungsgehilfen übergeordneter amerikanisch-westlicher Strategien zu machen; und sie testet ihre NATO-Alliierten umgekehrt darauf, wie sehr die sich dazu bereitfinden, türkische Definitionen in Sachen Freund & Feind, Selbstverteidigungsrecht & Beistandspflicht als für die Allianz verbindlich anzuerkennen. Der Höhe- und Wendepunkt dieser Politik besteht darin, sich mit der Militärmacht Russland anzulegen, der sie ein Flugzeug vom syrischen Himmel holt, um Richtung Osten und Westen klarzumachen, dass der Krieg in Syrien vor allem die Türkei betrifft, die also alles Recht hat, als für diesen Krieg zuständige Macht respektiert zu werden. In dieser Hinsicht erhält sie eine diplomatische und praktische Absage nach der anderen von ihren NATO-Partnern. Weil die nichts von dem zugestehen, was die Türkei für sich fordert, revidiert die türkische Führung ihre Politik gegenüber dem russischen Rivalen; in Moskau findet sie die Anerkennung als mitbestimmende Kriegsmacht, die ihr aus den westlichen Hauptstädten versagt wird. Zusammen mit Russland und Iran, ohne die USA und andere NATO-Mächte, eröffnet die Türkei in einer mittelasiatischen Hauptstadt eine neue Runde Kriegsdiplomatie. Unabhängig davon, worauf immer deren drei Betreiber sich sonst noch einigen mögen, bekunden sie einmütig Zufriedenheit darüber, dass nun endlich einmal die – und nur die – Kräfte an einem Tisch säßen, die wegen ihrer erwiesenen Tüchtigkeit beim Kriegführen auch die einzig Berufenen dafür seien, Frieden zu stiften. Das wiederum verwechselt niemand mit einer Lagebeschreibung – schließlich sind die USA und die restlichen bei der neuen Dreierdiplomatie ausgeschlossenen Mächte ja nicht untätig in Bezug auf das anhaltende syrische Gemetzel. Alle, die es angeht, entdecken darin den Anspruch dieser drei tüchtigen Nationen, für ein Stück Ordnung ohne, also gegen diejenigen zu sorgen, die regionale Kriege und ‚Friedensprozesse‘ stets als Feld ihrer exklusiven Zuständigkeit zu beanspruchen pflegen. Für die Türkei gehört dazu ganz prominent und ausdrücklich, im Zuge der von ihr angestrebten ‚Lösung‘ jeden politischen und militärischen Aufwuchs wieder zunichtezumachen, den die Kurden im Zuge des irakisch-syrischen Krieges erfahren haben, weil gewissen westlichen Alliierten der Türkei an kurdischen Kriegshilfsdiensten gelegen ist. Sie bekämpft die Kurden kompromisslos an allen Fronten, um damit zum einen alle Partner und Rivalen zur Anerkennung ihrer Terrorismusdefinition gegen den kurdischen Sezessionismus zu nötigen. Zum anderen ringt sie auf diese Weise gegenüber allen maßgeblichen Mächten um den generellen imperialistischen Status eines Ordnungsstifters, den sie beansprucht und gegen alle Widerstände durchzusetzen gedenkt.[4]

  • Der dritte große Regionalalliierte der USA, Saudi Arabien, hat den Ehrgeiz, zur von allen anerkannten arabisch-islamischen Vormacht aufzuwachsen. In den zweieinhalb Jahrzehnten Kampf um eine neue ‚Nahost-Friedensordnung‘ hat das saudische Regime den amerikanischen Bedarf nach ganz viel gewaltsamer Kontrolle der Region und entsprechend ausgerüsteten regionalen Kontrollbeauftragten dazu genutzt, sich mit Kriegsgerät (fast) aller Art auszustatten. Der von westlichen Nationen teils gefeierte, teils unterstützte ‚Arabische Frühling‘ ist für diese Monarchie der letzte praktische Beweis dafür gewesen, dass eine gegen solcherart politische Wetterumschwünge resistente saudische arabisch-islamische Vormacht eine Notwendigkeit für das Königreich und ein Segen für die ganze Region und damit letztlich auch im Interesse der USA sei. Es bezieht alle regionalen Gewaltaffären auf sich, also auf seine Auseinandersetzung mit dem gleichartigen und darum so wenig verträglichen Standpunkt Irans. Den Aufruhr in Bahrain unterdrückt es auf Bitten der dort herrschenden Clique militärisch, verurteilt den Iran als Strippenzieher und verbittet sich forsch jegliche westliche Belehrung über die rechtsstaatlich einwandfreie Verhältnismäßigkeit bei der Aufstandsbekämpfung. Im Jemen eröffnet es seinen ersten richtig eigenen Krieg, den es demonstrativ als stellvertretenden Antiterrorfeldzug gegen Iran inszeniert. Den Krieg in Syrien führt es nach eigenem Gutdünken, beteiligt sich an der amerikanischen „Antiterrorkoalition“ genauso streng nach eigenen Kriterien wie an der Front gegen Assad, gründet dafür eigens eine ganz eigene „Antiterrorkoalition“ und behält sich stets vor, ob es westlichen Einordnungen gewisser verbündeter Kämpfer als Terroristen folgen will oder nicht. Dem Schwenk der amerikanischen Iran-Politik entnimmt es die Dringlichkeit, seine Iran-Feindschaft unabhängig von und falls nötig gegen amerikanische Vorgaben voranzubringen – nicht zuletzt in der Frage ziviler und militärischer Nuklearpotenzen sowie der nötigen Trägermittel. Auch im Bereich sensibler und technologisch fortgeschrittener Waffentechnologien hält es sich schon länger nicht mehr an die Sitten aus der guten alten antikommunistischen Zeit, als amerikanische Petrodollars umgehend in Form von Waffenkäufen in den USA oder Großbritannien recycelt wurden, sondern verhandelt u.a. mit dem russischen Rivalen der USA über High-Tech-Waffen wie Luftabwehr- und maritime Offensivsysteme.

Was die USA mit bzw. seit ihrem Sieg über den Hauptfeind in dieser Region losgetreten haben, was sie unter aufeinanderfolgenden Administrationen auf unterschiedliche Weise und mit jeweils für passend gehaltenen Titeln – ‚Demokratisierung‘, ‚War on Terror‘, ‚Nation Building‘, ‚Leading from behind‘... – mal mehr bekämpfen und einhegen, mal mehr instrumentalisieren wollen, ist der Ehrgeiz von Regionalmächten, der sich weder verlässlich einhegen noch im gewünschten Maß instrumentalisieren lässt. Was wiederum gar nicht einfach an dem überbordenden Ehrgeiz und den gewachsenen Potenzen dieser Mächte liegt, sondern auch daran, dass sie es in ihren gegeneinander und gegen die Unterordnung unter die USA gerichteten Ambitionen aus den genannten Gründen seit 1990 nicht mehr mit dem Westen zu tun haben, sondern mit den USA und einem ganz eigenen Bezug der übrigen westlichen Mächte auf die ‚Probleme einer Neuordnung‘ der Region. Die vom Weißbuch als Sicherheitsbedrohung fürs deutsche Vaterland und sein europäisches Umfeld registrierte Lage des „Krisenbogens“ und seines nahöstlichen Zentrums verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, dass die transatlantischen Partner der USA, Deutschland vor allem, die beabsichtigte Restauration des westlichen Weltmachtbündnisses im Zeichen amerikanischer Unipolarität stets verweigert haben. Das drückt an anderer Stelle der deutsche Ex-Außenminister folgendermaßen aus:

„... als die Vereinigten Staaten und die EU außer Tritt gerieten, hat Deutschland seine Stellung gehalten und trat als eine der großen Mächte hervor, im Wesentlichen durch den Ausfall der anderen. Während die Vereinigten Staaten wegen der Folgen des Irakkriegs wankten und die EU sich durch eine Serie von Krisen kämpfte, hat Deutschland seine Position gewahrt. Es hat sich aus den wirtschaftlichen Schwierigkeiten zurückgekämpft und nimmt nun die Verantwortung an, die der größten Wirtschaft in Europa gebührt. Deutschland trägt auch diplomatisch zur friedlichen Lösung verschiedener Konflikte auf dem Globus bei: am offensichtlichsten mit dem Iran und in der Ukraine, aber auch in Kolumbien, Irak, Libyen, Mali, Syrien und den Balkanländern... Heute ringen beide, die Vereinigten Staaten und die Europäische Union darum, der Welt Führung zu geben. Die Irakinvasion von 2003 hat Amerikas Ansehen in der Welt geschadet. Nach dem Sturz von Saddam Hussein riss sektiererische Gewalt den Irak auseinander und die US-Macht in der Region begann zu schwächeln. Nicht nur, dass es die George W. Bush-Administration nicht geschafft hat, die Region durch Gewalt wieder zu ordnen – die politischen, wirtschaftlichen und Softpower-Kosten dieses Abenteuers haben die gesamte Position der Vereinigten Staaten untergraben. Die Illusion einer unipolaren Welt verblasste.“ (Steinmeier in: Foreign Affairs, Juli/August 2016)

Wenn Steinmeier kritisch anmerkt, die US-Macht in der Region begann zu schwächeln, dann müsste er der Vollständigkeit halber noch hinzufügen, dass Deutschland und Frankreich und mit ihnen eine Reihe weiterer europäischer Nationen die US-Macht schon vorher in einer entscheidenden Frage haben schwächeln lassen: Sie haben Amerikas Bedrohungsanalysen nicht als die Existenzgefahr und die entsprechenden Abschreckungsmaßnahmen nicht als die Lösung anerkannt, die für sie ein hinreichender Grund gewesen wären, sich hinter den USA wieder zur globalen Front zu formieren und die Bündnisdisziplin wieder aufleben zu lassen, die Amerika als globale Führungsmacht bestätigt hätte. Dem ersten, explizit als Maßnahme zur Ordnung der Welt deklarierten Irakkrieg von 1991 hat Deutschland sich entzogen, in Afghanistan kollaborieren die Deutschen seit 2001 dosiert und unter Verfolgung betont eigener und eigenständiger Methoden. Den zweiten Irakkrieg von 2003 haben Deutschland und seine europäischen Partner dann dafür genutzt, Amerikas Ansehen als Richter und Vollzugsorgan von Weltordnung im Bündnis zielstrebig zu schaden, als Schröder & Fischer mit ihrem pathetischen not convinced der Irakinvasion von 2003 die Zustimmung und das praktische Mittun verweigert und damit zugleich ein Signal an den Rest der Welt gegeben haben. Tatsächlich konkurrieren die europäischen Mächte mit den USA um nicht weniger als die Führung der Welt. In Bezug auf Anspruchsniveau und Verantwortungspathos und die dazu gehörigen ideologischen Floskeln haben sie auf jeden Fall schon Gleichstand erreicht. Steinmeier beherrscht es, weil er auf eine Weltführungsrolle Europas aus ist, die von den USA beanspruchte Rolle als einzige Weltmacht zur „Illusion“ zu erklären und den eigenen globalen Führungsanspruch als freundliche Gabe an die Welt zu präsentieren. Dass die politischen, wirtschaftlichen und Softpower-Kosten dieses Abenteuers ... die gesamte Position der Vereinigten Staaten untergraben, war also durchaus im Sinne der europäischen Konkurrenten Amerikas. Einerseits.

Andererseits leidet mit der overall position der USA die des Westens überhaupt, also die der Konkurrenten der USA, und zwar auch dann, wenn sie sich selber gar nicht als ‚der Westen‘ aufzuführen gedenken. Und so entbehrt Steinmeiers antiamerikanisches Selbstlob nicht einer gewissen Unglaubwürdigkeit: Ein Blick auf das wirkliche Geschehen in der Ukraine, aber auch in Kolumbien, Irak, Libyen, Mali, Syrien zeugt jedenfalls nicht gerade von einer unwiderstehlichen Potenz Deutschlands, rund um die Welt oder wenigstens im eigenen ‚Krisenbogen‘ den diversen ‚Konflikten‘ zu einer friedlichen Lösung zu verhelfen. Der Sache nach bestünden diese ‚Lösungen‘ in einer für Deutschland strategisch vorteilhaften Bewirtschaftung der jeweiligen Gegensätze – zu einer solchen sind aber die europäischen Mächte und an ihrer Spitze Deutschland gerade auf den genannten Schauplätzen keineswegs in der Lage. Weil vor allem die wichtigsten regionalen Mächte sich dazu vorarbeiten, die eigenen Machtansprüche mit den übergeordneten Anliegen der USA für nur noch bedingt bis gar nicht mehr vereinbar zu halten, zeigen sie sich entsprechend unwillig gegenüber den von übergeordneten Weltordnungsinteressen geleiteten US-Ordnungsbemühungen. Was dazu führt, dass die jeweiligen Auseinandersetzungen nur noch schlecht dafür taugen, dass sich die Europäer diplomatisch vermittelnd, mit Waffenlieferungen assistierend oder sonstwie im eigenen Sinne einschalten, um von der Gewalt vor Ort und deren amerikanischer Betreuung zu schmarotzen; und als zu Amerika alternative Schutzmacht irgendwelcher regionalen Akteure können und wollen sie sich realistischerweise gleich gar nicht aufspielen. Deutschland profitiert nicht im beanspruchten Maß von der praktischen Relativierung der unipolaren amerikanischen Weltordnungsmacht, sondern sieht sich seinerseits von Gewaltaffären betroffen, die es nicht von oben herab bestimmt – das ist der harte Kern von Steinmeiers messerscharfer Analyse bezüglich des amerikanischen ‚Schwächelns‘.

Kein Wunder, dass Steinmeier es nicht bei Aufschneidereien in Sachen angeblicher deutscher Erfolge bei Konfliktlösungen belässt, an denen die USA gescheitert sein sollen. Er ist auch einer der politischen Wortführer der öffentlich breitgetretenen deutschen ‚Sorge über den künftigen Kurs der USA‘ angesichts dessen, dass deren neuer Präsident seiner Diagnose entschieden beipflichtet, derzufolge die gesamte Position der Vereinigten Staaten untergraben worden ist – gerade durch ihr Engagement in den Kriegen von Afghanistan bis Libyen –; freilich mit genau entgegengesetzten Konsequenzen. Die angekündigte amerikanische Neudefinition der Fronten im Krisenbogen – entschiedene Unterstützung Israels beim Vorantreiben seiner Ein-Staaten-Lösung; ‚vorurteilsfreie‘ Begutachtung der russischen Intervention zugunsten Assads in Syrien unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit bei der Ausrottung des IS; Rückabwicklung aller für Europa so vielversprechenden ‚Deals‘ mit Iran – widerspricht allen Positionen, zu denen Deutschland sich hinsichtlich der jeweiligen ‚Konfliktfelder‘ entschlossen hat und die es mit wohlbekanntem moralischem Pathos legitimiert. Seine außenpolitischen Vorstände müssen nun registrieren, dass Trump offensichtlich – auch – für Europas Nahen Osten eine Ordnung vorschwebt, die sich vor allem durch eines auszeichnet: durch die entschlossene Revision aller Strategien und bündnispolitischen Festlegungen, die seine Vorgängerregierungen für nützlich hielten, unter der Generalprämisse, dass sie sich für Amerika offensichtlich nicht gelohnt haben. Dass nicht wenige der in der Region involvierten Mächte, auch und gerade die europäischen Verbündeten, in die laufenden – seien es gemeinsame oder leicht abweichende – Friedenslösungen einige diplomatische sowie militärische Anstrengungen investiert und so ihre Mitordnungsansprüche untermauert haben, erscheint aus dieser Perspektive nicht als Grund für deren Berücksichtigung und ‚Einbindung‘, sondern als Indiz dafür, wie viele un-amerikanische Interessen da am Werk waren und sind, also für die mangelnde Durchsetzung der amerikanischen. Wenn Trump mit dieser Linie Ernst macht, beendet er deutlich mehr und für die Deutschen Entscheidenderes als nur die diplomatische Heuchelei, amerikanische Machtentfaltung in dieser Region diene vor allem der ‚Lösung gemeinsamer Probleme‘. Egal ob als ‚ehrlicher Makler mit traditionell guten Beziehungen zu allen Seiten‘ in Fragen der Iran-Politik, ob als ‚der eigenen furchtbaren Vergangenheit verpflichteter‘ Akteur, der aus reiner Sorge um Israels Sicherheit mit Waffen und guten Ratschlägen für eine alternative Politik aufwartet, oder sonstwie: Deutschland könnte schon bald überhaupt nicht mehr gefragt sein, wenn America First! auch im Vorderen Orient zum bestimmenden Moment der Lage wird.

3. Der imperialistische GAU: Der „Zerfall von Staatlichkeit“ wird zur Pandemie in den südlichen Breiten

Ausführlich widmet sich das Weißbuch einer Reihe von Gefahren, die ganz eigener Natur sind und im Wesentlichen eine Gemeinsamkeit haben: Hier geht die Gefahr für unsere Sicherheit nicht von feindlichen oder konkurrierenden staatlichen Mächten aus, sondern umgekehrt vom Fehlen einer verlässlichen Staatsgewalt überhaupt.

Da ist vor allem der transnationale Terrorismus:

„Die Herausforderung durch den transnationalen Terrorismus besteht weltweit, ist nicht auf einzelne Staaten oder Regionen beschränkt und nimmt in der Tendenz zu. Transnational operierende Terrororganisationen und Netzwerke profitieren von Staatszerfallsprozessen, die ihnen Rückzugs- und in Einzelfällen sogar Herrschaftsräume verschaffen. Sie nutzen soziale Medien und digitale Kommunikationswege, um Ressourcen zu generieren, Anhänger zu gewinnen, ihre Propaganda zu verbreiten und Anschläge zu planen. Sie verfügen zunehmend über die Fähigkeit, Ziele mit Cyberfähigkeiten anzugreifen oder chemische, möglicherweise künftig auch biologische und radioaktive Substanzen bei einem Anschlag einzusetzen. Darüber hinaus bedienen sie sich krimineller Methoden, um sich zu finanzieren und ihre Handlungsfähigkeit auch überregional auszubauen. Ihre Finanzströme lassen sich nur schwer nachverfolgen und unterbinden.
Neben al-Qaida und seinen Regionalorganisationen, deren Terror weiterhin auch auf westliche Ziele wirkt, hat sich in Teilen des Nahen Ostens die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) mit staatsähnlichen Strukturen festgesetzt. Der IS zielt aktuell auf Territorialpräsenz und Machtprojektion im gesamten Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika zur Verwirklichung seines archaisch intoleranten sogenannten Kalifats ab. Bereits jetzt trägt er zudem seine menschenverachtende Ideologie und seinen Terror auch auf unseren Kontinent und in unsere Gesellschaft.
Unsere offene, freie und auf Respekt vor Vielfalt gründende Gesellschaft ist diesem Terror Feind und Anschlagsziel. Terroristische Anschläge stellen die unmittelbarste Herausforderung für unsere Sicherheit dar.“ (WB, S. 34)

Auch hier erspart das Weißbuch seinen Lesern zunächst jede nicht zielführende Reflexion über Gründe oder sonstige Zusammenhänge, sondern konzentriert sich darauf, das, was als transnationaler Terrorismus definiert wird, mit der imperialistischen Betroffenheit davon zu identifizieren: Er breitet sich aus, versucht, seiner Bekämpfung zu entkommen, bedient sich dafür allerlei Mittel – vor allem, wer hätte das gedacht, krimineller – und ist bei seinem weltordnungszersetzenden Treiben unerfreulich wirksam, vor allem dahingehend, dass er die schöne Trennung von allfälliger militärischer Gewalt zur Sicherung der Benutzbarkeit des Globus vom zivilen Innenleben der gesitteten Nationen des Westens programmatisch aufhebt. Immerhin registriert das Weißbuch, dass die Seuche des Terrorismus in Staatszerfallsprozessen eine gute Ausbreitungsbedingung vorfindet.

Schließlich kommt das Weißbuch dann doch noch auf so etwas wie Ursachen zu sprechen. Über das Phänomen, dass der religiös motivierte Terrorismus gerade im Krisenbogen zwischen Sahelzone und Mittelasien so einen ungebrochenen Zulauf erfährt, bietet es unter der Überschrift Radikalisierungspotenzial als Folge mangelnder Entwicklungsperspektiven in rasch wachsenden Gesellschaften seinen Lesern folgende Erklärung an:

„Zahlreiche sich entwickelnde Gesellschaften zeichnen sich durch einen überproportional hohen jungen Bevölkerungsanteil aus. Diese jungen Menschen suchen nach Perspektiven – für die eigene Entwicklung, für wirtschaftliche Sicherheit und soziale Integration. Durch die Förderung von Bildungsbiographien kann Deutschland hier stabilisierende Beiträge leisten.
Arbeit ermöglicht soziale Teilhabe, gesellschaftliche Integration und Selbstbestätigung und ist damit ein wesentlicher Kitt für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Integration in die Erwerbsarbeit verleiht dem Leben der Menschen innere und äußere Struktur. Probleme bei der Erwerbsintegration und die frühe Erfahrung von Arbeitslosigkeit sowie die daraus häufig erwachsende Perspektivlosigkeit können Nährboden für Gewalt und Radikalisierung sein. Die Arbeitsmarktintegration junger Menschen ist daher eng mit Gewaltprävention verbunden und ein Schlüsselfaktor auch für unsere Sicherheit.
Weltweit ist das Arbeitslosigkeitsrisiko von unter 25-Jährigen fast dreimal so hoch wie das Älterer. In einigen Ländern sind bis zu zwei Drittel der jungen Menschen nur unvollständig oder gar nicht in das Erwerbsleben integriert.
Gerade im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika ist die ausgesprochen schwierige Erwerbssituation vor allem der männlichen Jugend eine Ursache für den Zulauf zu radikalen Gruppierungen. Dies kann zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht nur in den jeweiligen Staaten, sondern auch in angrenzenden und weiter entfernten Regionen führen.“ (WB, S. 44)

Es mag gewagt sein, den ökonomischen Ruin ganzer Nationen mit Verweis auf die dazu gehörende ausgesprochen schwierige Erwerbssituation als jugendgefährdendes Umfeld zu charakterisieren, als Ursache gar, die zum Zulauf zu radikalen Gruppierungen führt. Die sozialpsychologisch gebildeten Weißbuchautoren machen aber hinreichend klar, wie sie darauf kommen: Auf diese Weise fassen sie die Zuständigkeit für das ganze Nationen und Regionen erfassende Elend, die sie wegen der sicherheitspolitischen Betroffenheit, also genau unter diesem Gesichtspunkt, völlig selbstverständlich für Deutschland reklamieren.

Es ist eben kein bloßer – womöglich gar luxuriöser oder haltloser – Anspruch imperialistischer Mächte, bei allem, wo und womit auch immer sie den Globus zivil oder militärisch traktieren, auf ordentliche, nämlich staatliche ‚Ansprechpartner‘ vor Ort zu treffen. Davon lebt vielmehr ihre moderne Art, die Welt ökonomisch zu benutzen, sie politisch unter Kontrolle zu halten, und sogar bzw. gerade ihre militärischen Unternehmungen sind darauf gemünzt, staatliche Gewalten mit Krieg zu bearbeiten, damit deren Führungen von ihren dezimierten Potenzen fürderhin nicht mehr falschen, sondern richtigen, also imperialistisch genehmen Gebrauch machen. Der besteht, worin auch immer sonst noch, vor allem darin, die einheimischen Völker bei der nationalen Stange oder wenigstens im Zaum zu halten. Und er besteht umso mehr darin, je weniger mit den fraglichen Ländern ansonsten anzufangen ist – was eben bedeutet, dass auch die betreffenden lokalen Herrschaften immer weniger mit ihrem menschlichen Inventar anfangen können.

Dass sich die Zahl solcher Länder ständig vergrößert, konstatiert das Weißbuch als eine Tendenz, an der es in seiner streng auf das Wesentliche konzentrierten Art nur interessiert, dass den jeweiligen staatlichen Gewalten die elementaren Maßnahmen nicht gelingen, die dafür nötig sind, das Elend der Bevölkerung innerhalb der nationalen Grenzen und sich selbst für alle Ordnungsansprüche zur weiteren Verfügung – stabil – zu halten. Stattdessen werden sie fragil und lassen sich von ansteckenden Krankheiten heimsuchen, die ihre Strukturen überfordern und den Zusammenbruch medizinischer Versorgung oder staatlicher Ordnung bewirken. Regionale Destabilisierung kann die Folge sein (WB, S. 44). Zu allem Überfluss werden sie zur Quelle einer Massenbewegung namens unkontrollierte und irreguläre Migration und, wie gesagt, zum Hort des transnationalen Terrorismus unter dem Banner des radikalen Islam.

Wie den schreibenden und den wirklich regierenden Vertretern der weltpolitischen deutschen Vernunft diese sachlich genommen einigermaßen disparaten Phänomene unterkommen, beweist ihre Abgebrühtheit: Für sie sind Verhältnisse, aus denen Millionen Menschen einfach nur noch fliehen wollen, in denen – medizinisch längst beherrschte – Krankheiten periodisch zu Pandemien ausarten, genauso nur brisante Sicherheitsprobleme wie der neuartige Antiimperialismus Marke islamischer Fundamentalismus. Sie subsumieren alles der Frage der eigenen nationalen Betroffenheit, also der Frage, wie man die dortigen Probleme für die hiesigen Zustände unschädlich und für die politischen und ökonomischen Interessen, die man dort verfolgt, handhabbar macht.

Was ihnen da unterkommt, hat freilich mit ihren nationalen Standorten und deren überall angesiedelten Interessen ein bisschen mehr zu tun, als dass die potenziell oder aktuell von Pandemien, Flüchtlingen und Terroristen gestört werden: Diese ‚Störungen‘ sind das letzte Produkt imperialistischer Ordnungspolitik, die zwar einen Globus staatlicher Gewalten braucht und kontrollieren will, aber in der Durchsetzung ihrer Ansprüche noch nie übermäßige, nach dem Ende der großen Spaltung der Welt erst recht keinerlei Konzessionen gemacht hat hinsichtlich der Existenznotwendigkeiten dieser Sorte Staaten, die sie als lokale Erfüllungsgehilfen für alle ihre Anliegen betrachtet und beansprucht. Im Gegenteil.

Ökonomisch hat denen der Einbau in die Welt des freien Handels und Wandels – zu der es nach Ende der Sowjetunion keine Alternative mehr gibt – mehrheitlich nicht sonderlich gut getan, ihren Bevölkerungen erst recht nicht; entsprechend sehen die heute über weite Strecken aus. Darauf durften die in den kapitalistischen Metropolen residierenden Protagonisten der Globalisierung, die bekanntlich ein Sachzwang ist, natürlich keine Rücksicht nehmen.[5] Und sobald Vertreter von ein bisschen oder ein bisschen mehr staatlicher Macht in der globalen Peripherie des Kapitalismus politisch auf Korrekturen, gar auf Alternativen drängten, sich womöglich zusammentaten oder gar dem inzwischen nicht mehr vorhandenen feindlichen Block im Osten zuwandten, waren es die imperialistischen Führer und Führerinnen ihrer Verantwortung für das Wohl der Völker schon immer schuldig, per Einsatz von verdeckter, offener, kriegs- oder bürgerkriegsmäßiger Gewalt vorzuführen, dass in ihrer Welt alle staatliche Souveränität Gegenstand ihrer Konzession, also für sie nützlich oder illegitim ist. Mit dem Abgang ihres Systemgegners sind insbesondere die USA diesbezüglich zu großer Form aufgelaufen und haben im ‚Krisenbogen‘ per Krieg und/oder ‚Demokratisierung‘ keine überkommene staatliche Stabilität geduldet, die ihnen irgendwie nicht proamerikanisch genug vorgekommen ist.

Und was die Anhänglichkeit der in diesem Bogen hausenden Völkerschaften an den Einen und Unteilbaren Allmächtigen anbelangt, so ist auch die nicht einfach von Gottes Himmel gefallen. Für ihren Dauerkampf um die prowestliche und eben insbesondere proamerikanische Ausrichtung der dort liegenden Staaten war den Regierenden des aufgeklärten Abendlandes keine Spielart abrahamitischer Frömmigkeit im Nahen Osten jemals zu archaisch intolerant. Egal ob als ‚Staatsreligion‘ des Königreiches Saudi Arabien oder als antisowjetische Guerilla in Afghanistan: Den ‚archaisch-intoleranten‘ Islam erkannten und benutzten und förderten sie jahrzehntelang als einen Hebel in ihrem Kampf gegen den Kommunismus. Auch nachdem der besiegt war, hatten sie noch jede Menge Verwendung für die in diesem Kampf herangezüchteten Islamisten: Auf dem Balkan bei der Zerlegung Jugoslawiens, in Afghanistan, Libyen, Syrien waren bzw. sind ihnen islamistische Fundis immer recht, wenn sie sich ihrer zur Beseitigung unliebsamer Regimes bedienen wollen; zwecks endgültigen Regimewechsels im Irak durften sich sogar einmal Schiiten amerikanischer Unterstützung erfreuen. Mit den jeweiligen Herrschaftsapparaten ist dummerweise regelmäßig auch der politische Wille zu dem jeweiligen Staat beseitigt worden, der doch nicht ausgelöscht, sondern auf Linie gebracht werden sollte. Die Islamisten, die nun stattdessen über Teile von Staatsvolk und Territorium herrschen, reklamieren anders geartete Gefolgschaften in Grenzen, die mit der schönen, in der UNO verwalteten Aufteilung der Welt nichts zu tun haben – wenn sie nicht gleich, wie der IS, einen grenzenlosen Weltkrieg gegen den Unglauben auf die Tagesordnung setzen.[6] Das Building von absolut proamerikanischen Nations, das die USA nach jedem gelungenen Zerstörungswerk auf die Tagesordnung setzen, schreibt also genauso regelmäßig die Zerstörung fort – die religiös untermauerten Stammesloyalitäten, auf die der Westen in seinen diversen nationalen Versöhnungs- und demokratischen Staatsaufbauprogrammen zurückgreift, taugen weder von sich aus zum Ersatz der zerstörten Staatsordnungen, noch werden sie auch nur annähernd mit den Mitteln bedacht, die sie allenfalls dafür tauglich machen könnten. Die Mittel, über die sie wirklich verfügen, nutzen sie für ihren ethnisch und/oder religiös definierten Kampf gegeneinander und gegen ‚ausländische Besatzer‘ und qualifizieren sich damit für immer neue Runden des umfassenden Kampfes gegen Terror und Staatszerfall, wobei sie je nach aktueller Konstellation mal mehr Feinde, mal mehr Verbündete sind...

Dass das der Nährboden für die beklagte unkontrollierte und irreguläre Migration ist, die durch bewaffnete Konflikte, Verfolgung und Vertreibung, widrige wirtschaftliche, soziale oder ökologische Rahmenbedingungen sowie Armut oder Hunger (WB, S. 42) entsteht, dummerweise Europa und besonders Deutschland zum Ziel hat und obendrein dazu geeignet ist, zur regionalen Ausbreitung derartiger Konflikte beizutragen, ist dem Weißbuch ebenfalls klar. Auch diesen ‚Zusammenhang‘ bespricht es gleich in der Form der deutschen Zuständigkeit; von deren Standpunkt aus stellen auch diese Konsequenzen des Zerfalls von Staatlichkeit wieder nur eine neue Herausforderung dar.

Die besteht auch auf diesem Feld letztlich nicht einfach in einem abwehrenden oder präventiven Umgang mit den Zerfallsprodukten in Form von Massenmigration oder gewalttätigen NGOs im Geiste Allahs. Für eine Macht wie Deutschland bedeutet eine gelungene Bewirtschaftung von Flüchtlings- und Terrorkrisen, daraus Definitionen der Weltlage und der globalen Agenda zu machen, denen sich ihre potenten Partner und Konkurrenten nicht entziehen können. Wie weit es Merkels Deutschland dabei bringt, wie weit es seine bereits erreichten Erfolge überhaupt sichern kann: Auch dies wird allerdings mit dem neuen, forschen Präsidenten der USA fraglich. So löst denn auch seine Ankündigung, den IS endgültig auszurotten, in Berlin alles andere als Freude aus. Denn Trump identifiziert den international agierenden islamistischen Terror, der vom Nahen und Mittleren Osten ausgeht, über die ortsübliche Religion mit der Flüchtlingsbewegung, die ebenfalls schwerpunktmäßig von dort ausgeht. Von daher hält er Merkels Flüchtlingspolitik im Prinzip für Terrorunterstützung. Öffentlich bedauert er Deutschland dafür, Opfer einer solchen Politik geworden zu sein – Look at Germany, it’s crime-riddled right now –, und kündigt umgekehrt an, den Terror im Nahen Osten zu bekämpfen und gleichzeitig die amerikanischen Grenzen für Migranten von dort zu schließen. Er ringt also auch hier nicht um eine alternative Definition eines ‚gemeinsamen Problems‘, um für dessen Lösung die führende Rolle zu reklamieren, sondern fasst seine Doppellösung für Amerika ins Auge und teilt der restlichen Welt mit, wie sie sich im Lichte dieser Lösung für die amerikanische Macht darstellt und worauf sie sich gefälligst einzustellen hat. Dass er mit seiner Merkel-kritischen Lesart vom Kampf gegen den Terrorismus der xenophoben Anti-EU-Bewegung in den europäischen Nationen Schützenhilfe leistet, also das verstärkt, was das Weißbuch unter der Überschrift Europäisches Projekt unter Druck (WB, S. 33) warnend als weitere große Herausforderung für die deutsche Sicherheitspolitik anführt, ist ihm – auch daran lässt er keinen Zweifel – nur recht.

***

Das also ist die Weltlage des Imperialismus 2017, von der deutsche Politiker ihr Heimatland betroffen, für die sie sich also zuständig sehen: die Hinterlassenschaft eines Vierteljahrhunderts der Bemühungen der USA darum, ihr internationales Ordnungsregime von der westlichen Hemisphäre aus auf die ganze Welt auszudehnen und gegen alle Anfechtungen zu verteidigen – aktuell bereichert um die Perspektive, dass die neue Führung der Supermacht mit ihrer prinzipiellen Kritik an den Anstrengungen ihrer Vorgänger alle bisherigen Methoden Deutschlands in Frage stellt, sich darauf im Sinne seiner europäisierten Weltmachtambitionen zu beziehen.

[1] Die Zeitschrift GegenStandpunkt hat die Osterweiterung der NATO samt der amerikanisch-europäischen Konkurrenz um ihre strategischen Erträge, der Konfrontation mit Russland etc. in den vergangenen 25 Jahren laufend verfolgt und diesem Themenkomplex eine ganze Reihe von Artikeln gewidmet. Hingewiesen sei hier insbesondere auf den in Heft 1-15 des GegenStandpunkt erschienenen Artikel Westlich-russischer Stellvertreterkrieg in der Ukraine: Herausforderung und Haltbarkeitstest für das NATO-Kriegsbündnis.

[2] Manchen amerikanischen Politikern und Politikberatern ging die nach Kräften vorangetriebene, alle Waffentechnologien umfassende Runderneuerung der USA als dominant force viel zu langsam voran, sodass sie schon einen epochalen Niedergang befürchteten – es sei denn, es kommt zu einem katastrophalen Ereignis, das wie ein Katalysator wirkt – so etwas wie ein neues Pearl Harbor (PNAC: Rebuilding America’s Defenses. Strategy, Forces and Resources For a New Century); was ihnen just ein knappes Jahr vor 9/11 eingefallen ist.

[3] Zu Logik und Fortschritten von Israels Bemühungen um die Verwirklichung und Sicherung seines exklusiven Rechts auf staatliche Existenz zwischen Mittelmeer und Jordan lohnt sich die Lektüre des Artikels Gaza-Krieg 2014 – Israels Kampf um die Einstaatenlösung in Heft 3-14 des GegenStandpunkt. Worin und warum die jeweiligen Ansprüche der ‚unique allies‘ USA und Israel an ihre einzigartige Allianz zunehmend unvereinbar werden, erklärt der Artikel Ein Anschlag auf den ‚jüdischen Staat‘ und seine Sicherheit: Obama besteht auf Diplomatie mit Israels Feinden in Heft 2-10.

[4] Zum Kampf der von Erdoğan regierten Türkei um imperialistische Größe enthält der Artikel Werdegang und Mission des frommen Anatoliers Recep Tayyip Erdoğan im GegenStandpunkt 4-15 einige Auskünfte. Die zunehmend erbitterte Konkurrenz der Türkei mit der EU um Gleichrangigkeit oder Unterordnung, die sich insbesondere auf dem Feld der Politik mit den Flüchtlingen aus Syrien abspielt, untersucht der Artikel Von der ‚Europäisierung der Flüchtlingspolitik‘ zur ‚Zusammenarbeit mit der Türkei‘ und wieder zurück: Der humanistische deutsche Imperialismus kommt voran in Heft 2-16 dieser Zeitschrift.

[5] Zum Umgang der imperialistischen Mächte mit den ‚Entwicklungsländern“ empfiehlt sich das Studium der grundsätzlichen Überlegungen des Artikels Eine Hinterlassenschaft von 40 Jahren Entwicklung und ihre imperialistische Betreuung: Der Verfall der Dritten Welt in Heft 4-92 sowie des Artikels 10 Jahre ‚Schuldenerlass‘: Die Fortentwicklung der ‚schwer verschuldeten armen Länder‘ – HIPCs – zu ‚Failing States‘ in Heft 1-06 des GegenStandpunkt.

[6] Dessen Vertreter zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Welt streng durch die Brille ihrer religiösen Werte betrachten und beurteilen, also in dem Imperialismus, der ihnen wirklich begegnet, einen Feind ausmachen, der ihnen entspricht: einen Gegner Allahs und der Gemeinde seiner Anhänger, der den einen Zweck hat, den christlich-jüdischen Unglauben mit Gewalt gegen den einzig wahren Glauben durchzusetzen. In ihrem religiösen Wahn gibt es keinen Unterschied zwischen nationalen Führungen und ungläubigen Bürgern, und ihre militärische Unterlegenheit erscheint ihnen als Auftrag zum berechnungslosen Selbstopfer – mit der für ihre Gegner unerfreulichen Konsequenz, dass sie die Grenze zwischen Kriegsschauplatz und Zivilleben dann und dort auflösen, wann und wo sie es vermögen. Näheres zu dieser speziellen Sorte Staatsgründungsprogramm, zu dessen globaler terroristischer Praxis sowie zur Logik des von den imperialistischen Mächten auf die Tagesordnung gesetzten ‚Kampfes gegen Terrorismus‘ findet sich in den Artikeln Antiterrorkrieg nächster Akt: Luftschläge und eine neue Allianz-Politik der USA gegen den Heiligen Krieg des Islamischen Staates in Heft 4-14 und – etwas ausführlicher – Der Staat des Islamischen Kalifats (IS): Ein Störfall für die imperialistische Weltordnung und seine ordnungsgemäße Verarbeitung in Heft 1-16 des GegenStandpunkt.