Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Kursk gesunken:
Vom politischen Nutzen eines U-Boot-Untergangs

Der Untergang des U-Boots Kursk ist Anlass für eine Russenhetze wie zu besten Sowjetzeiten, nur verdankt sich die Rekonstruktion des Feindbildes der überaus aktuellen Feindschaft des Westens zur russischen Macht: deren Anspruch auf Wiedergewinnung alter Stärke ist nicht hinnehmbar – also böse und dem Untergang geweiht.

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Kursk gesunken:
Vom politischen Nutzen eines U-Boot-Untergangs

1. Während eines Manövers in der Barentssee sinkt das russische Atom-U-Boot „Kursk“. Ein paar Stunden später, im Grunde sogar schon vorher, ist der Vorgang ein Fall des Westens und seiner freien Öffentlichkeit: Norwegische Seismologen registrierten zwei Explosionen in kurzem Abstand, eine kleinere und eine größere; amerikanische und britische U-Boote begleiten solche Manöver regelmäßig in nächster Nähe; die Nato kennt die Aufenthaltspunkte der russischen Unterwasserflotte zu jeder Sekunde… – ganz klar und ein erster Punktsieg, dass wir das Unglück vor den Russen melden! Ganz klar auch und ein selbstverständlicher Akt der Menschlichkeit: Wir müssen helfen, das schafft der Russe nicht alleine! Ein englisches Bergungsboot geht in Wartestellung; HOLT SIE RAUS, fordert die Bildzeitung als Anwalt der Opfer und im Namen der Weltöffentlichkeit. Die Freie Welt ist mit Euch, die Katastrophe täglich eine Sondersendung wert. Aber was heißt hier „Katastrophe“? Der Berichterstattung ist die überhaupt nicht klammheimliche Freude anzumerken, welch günstige Gelegenheit sie in der Seenot der russischen Soldaten entdeckt, den Staat, in dessen Auftrag sie unterwegs waren, an den Pranger zu stellen, an den er immer schon gehört. Die betroffenen Mienen der Gabi Bauers und Thomas Roths künden von dem ideologischen Triumph, den sie dem Drama im Nordmeer im Geiste westlicher Zuständigkeit augenblicklich abgewinnen können: Das U-Boot-Unglück als Chance zur Rekonstruktion des Feindbildes. Als hätte der Westen – seit zehn Jahren und erst recht seit Putin – nur darauf gewartet, löst der Untergang und vor allem die Weigerung des neuen Präsidenten, sofort ‚Nato, hilf!‘ zu rufen, eine Russenhetze wie zu besten Sowjetzeiten aus.

2. Die Unglücksursache ist noch nicht geklärt – gehandelt werden: Torpedoexplosion an Bord, Kollision mit einem Nato-U-Boot, Zusammenstoss mit eigenem Boot oder „friendly fire“, deutsche Seemine aus Weltkrieg II –, da wissen wir längst: Die wahre Unglücksursache heißt Russland. Das Urteilsvermögen westlicher Analytiker ist da unbarmherzig: Eine Verkettung besonderer Umstände, Fremdeinwirkung, Erblasten und andere Möglichkeiten scheiden aus, sind die üblichen Ausreden, Vertuschungsmanöver oder dem Kalten Krieg verhaftete Wahnvorstellungen; alle Katastrophen, an denen Russen beteiligt sind, liegen am System. Was etwa im Fall „Concorde“ keiner auch nur denkt – mit dem Unglücksvogel am besten gleich dessen Betreiber aus dem Verkehr zu ziehen –, der Fall „Kursk“ geht auf die Kappe der Verhältnisse in Russland und ihres Oberbefehlshabers.

3. Allein schon das Gerät, mit dem diese Russen hantieren. Da verkündet der Kremlchef jüngst, die russische Flotte werde nun wieder auf allen Weltmeeren Präsenz zeigen, und dann kommt die ‚Kursk‘, diese tauchende Festung und Symbol der Stärke nicht mal bis kurz hinter Murmansk. Das hätte ihnen der TÜV vom deutschen Fernsehen aber gleich sagen können: Mit solchen Kähnen hat man auf den Weltmeeren nichts verloren. Marode, verrostet, kein Geld für Reparaturen, die russische Hochseeflotte ist in einem erbärmlichen Zustand: So repräsentativ verwitterte Kriegsschiffe auf Trockendock die erfreulich gediehene Verkommenheit der russischen Staatsmacht beleuchten, so sehr gebietet der hübsche Anblick den Schluss auf die politische Niedertracht ihrer Inhaber. Die Russen ziehen aus dem teilweisen Verfall ihrer militärischen Substanz keineswegs die Konsequenz, sich dann auch als Weltmacht wegzuschmeißen, im Gegenteil: Sie tun frech so, als hätten sie noch hütenswerte Geheimnisse, müssten Spionage der westlichen Helfer befürchten und bestehen auf der international völlig unüblichen Position des Souveräns, was wir mühsam mit der uns unbekannten Kategorie Nationalstolz erklären. Die Sturheit des Russen ist schon darum absurd, als „westliche Militärs ohnehin bestens über die Kursk informiert sind, deren Nato-Bezeichnung Oscar II lautet“. Die Angebote des Westens als weltöffentliche Demonstration russischer Ohnmacht zu denunzieren, fällt erst recht unter moralische Paranoia einer Herrschaft, die nicht weiß, wann es Zeit ist, sich bei der Abdankung helfen zu lassen.

4. Vor allem aber das Bedürfnis, dem neuen Führer der Russen eine erste Niederlage zu bereiten, lässt die Berichterstatter zu alter Hochform auflaufen. Ausnahmslos alles, was die antikommunistische Propaganda gegen die Sowjetunion auf Lager hatte, tut auch gegen den postkommunistischen und postjelzinschen Staat seine Dienste, und ein paar neue Einfälle dazu. Nach dem Motto Mehr als nur ein U-Boot versunken arbeitet die westliche Sittenpolizei für gutes Regieren am Untergang Putins und reißt dem neuen Präsidenten binnen 10 Tagen die Maske vom Gesicht: Antidemokrat, Feigling, Lügner, Zyniker, Urlauber, Technokrat, von U-Booten null Ahnung, gefühllos, Showman, menschenverachtend, schlechter Judokämpfer, Napoleon-Verschnitt, Ras-Putin, Stalin II, Kalter Krieger, der alte Geheimdienstmann, Gefahr für den Weltfrieden.

Die Logik des vermutlich unvollständigen Charakterbildes, das zusammengesetzt einen Steckbrief ergibt, folgt der Absicht der Anklage. Man misst Putin erstens an seinen eigenen Vorsätzen und dem Bild, das der Führer seinem Volk vermittelt, zweitens an unseren Grundsätzen des Regierens und Idealen politischer Glaubwürdigkeit, und blamiert dann ihn daran, dass er weder dem einen noch dem anderen genügt, also alles verkehrt macht. Schließlich erinnert man sich, dass Putin, der den Westen ein paar Monate mit seinem Ordnungsgetue irritiert hat, überhaupt den falschen Staat in Ordnung bringen wollte, und schon ist der Mann ein einziger Fehler, gleich doppelt entlarvt, als Kombination von Schwächling und Rückfall in Sowjetzeiten: Mal zu schwach, mal zu stark.

Der will ein Führer sein? Unfähig ist er! Was für eine Blamage des Machtmenschen Putin: Alles Fassade. Auch nicht besser als der oft kranke und unzurechnungsfähige Jelzin: Die Kritik, gar nicht der starke Mann zu sein, als der er sich ausgibt, will der Westen sich keinesfalls schenken. Ungeeignet, Russland zu führen! Und dann noch nicht einmal unser Mann in Moskau. Kaum ist der Spott genossen, greift die tiefe Erkenntnis, dass Putin Russland regiert und dessen Verfall stoppen will: Ein klarer Missbrauch unseres berechnenden Respekts vor den Fähigkeiten des neuen Präsidenten.

Will der Russland etwa wieder zur Weltmacht führen? Das ist böse! Die aktuelle Hetze ergreift die Gelegenheit, den Verlust eines jetzt wieder hochmodernen High-Tech-Bootes mit 24 Nuklearraketen in die hämische Entlarvung dessen zu übersetzen, was wir an Putin eindeutig nicht schätzen: die Verkörperung des Anspruchs auf Wiedergewinnung russischer Stärke.

5. Die Anklagepunkte folgen daraus wie von selbst. Wir hören von der maßlosen Selbstüberschätzung der Russen, ihre Jungs glatt eigenhändig rausholen zu wollen. Wir erschaudern vor einem Kremlchef, der die Katastrophe im Eismeer partout nicht zur internationalen Affäre aufwerten will und ungerührt Urlaub im sonnigen Sotschi macht, statt wie jeder westliche Regierungschef oder Verteidigungsminister in der Stunde der Verantwortung auf Katastrophentourismus umzubuchen und der bewaffneten Elite der Nation aus erster Hand für den selbstlosen Heldentod zu danken. Wir wissen nämlich, welche zynische Ehrerbietung Menschen gebührt, die ihrem Staat als Soldaten dienen, und ereifern uns allabendlich vor den Bildschirmen über Zynismus, wahlweise: Dilettantismus, mit dem ein ebenso inhumanes wie schwaches Russland sein Staatsvolk verhöhnt bzw. verheizt. Wir können Schlamperei bei der Buchhaltung des Menschenmaterials nicht ausstehen, die keine Ahnung hat, ob sie 116 oder 118 Särge benötigt. Wir leiden mit Soldatenmüttern, denen die verständnistriefenden Aufwiegler an den ARD- oder BBC-Mikros etwas mehr Zivilcourage wünschen, gegen ihren gewählten Diktator einmal ganz kolossal aufzustehen. Wir werden im Schnellkurs zu Rettungsluken- und Überlebensexperten im U-Boot ausgebildet. Wir lernen, dass das Menschenrecht auf freie Information über jeden eingetretenen Schaden schlimmer als in Tschernobyl getreten wird, weshalb allen russischen Strahlenwerten oder Sturmmeldungen prinzipiell nicht zu trauen ist. „Die Informationspolitik der sowjetischen … entschuldigen Sie …der russischen Regierung – aber die Informationspolitik ist sowjetisch – ist eine einzige Katastrophe“ (Thomas Roth, live aus Murmansk): Im Grunde genommen die Katastrophe.6. So sind sie, die Russen! Der Rassismus der mitfiebernden öffentlichen Reportagen ist nicht einfach nur dumm und gemein, sondern hat Methode. Dass das Schatzkästlein antikommunistischer Meinungsbildung den Systemwechsel so offensichtlich unbeschadet überdauert, ist beileibe nicht nur ein Indiz dafür, dass die guten alten Reflexe noch stimmen: Der geistige Sumpf der Kampagne gegen die immerwährende Sowjetmentalität im Russen ist die überaus aktuelle Feindschaft des Westens zur russischen Macht. Deren Anmaßung, sich nicht nur schon eine Dekade zu behaupten, sondern in Gestalt ihres Putin ein Staatsneugründungsprogramm aufzulegen, weckt hierzulande das Bedürfnis, an einem modernen Remake der bewährten US-Parole „Knall oder Winseln“ zu stricken. Alle tot, das Feindbild lebt. (Zitate aus: Deutsche öffentlich-rechtlich-private Einheitsmedien ARD/ZDF/RTL/SZ/Bild)