Zersetzende Fortschritte in der Allianz der Imperialisten

Dass der Umgang deutscher und US-amerikanischer Weltpolitiker miteinander und in ähnlicher Weise die offizielle Völkerfreundschaft innerhalb der EU in auffällig zunehmendem Maß von der Beteuerung begleitet wird, die solide Partnerschaft miteinander wäre durch offen deklarierte Meinungsverschiedenheiten nicht umzubringen, ermöglichte vielmehr und forderte geradezu Klartext in Streitfragen. Es wirft ein Licht auf den Entwicklungsstand der fundamentalen nationalen Interessen und wechselseitigen strategischen Abhängigkeiten, die Europa und „den Westen“ (noch) zusammenhalten und (bereits) entzweien.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Zersetzende Fortschritte in der Allianz der Imperialisten

Die penetrant wiederholte methodische Versicherung, gerade unter Freunden müsse man sich offen und ehrlich die Meinung sagen können, weil echte Freundschaft durch einen guten Streit nur vertieft werden könne: die erfüllt schon im bürgerlichen Privatleben in der Regel den Tatbestand einer Heuchelei, mit der man Zerwürfnisse zu verleugnen, Übergänge ins Reich der Gehässigkeit zu beschönigen pflegt. Wenn diese Floskel im diplomatischen Verkehr zwischen verbündeten Staaten auftaucht, dann wissen erfahrene Beobachter, dass die Spitzenvertreter der jeweiligen Nationen in wichtigen gemeinsamen Angelegenheiten unvereinbare Positionen vertreten und nicht bereit sind, davon abzurücken. Dass der Umgang deutscher, US-amerikanischer und russischer Weltpolitiker miteinander und in ähnlicher Weise die offizielle Völkerfreundschaft innerhalb der EU in auffällig zunehmendem Maß von der Beteuerung begleitet wird, die solide Partnerschaft miteinander sei durch offen deklarierte Meinungsverschiedenheiten nicht umzubringen, ermögliche vielmehr und fordere geradezu Klartext in Streitfragen, wirft ein Licht auf den Entwicklungsstand der fundamentalen nationalen Interessen und wechselseitigen strategischen Abhängigkeiten, die Europa und „den Westen“ (noch) zusammenhalten und (bereits) entzweien. Es passt nämlich in Grundsatzfragen imperialistischer Ordnungsgewalt nichts mehr zusammen in dem schiefen viereckigen Verhältnis zwischen „dem Westen“ und den Russen, zwischen Europäern und Amerikanern, zwischen den EU-Mitgliedern selber sowie zwischen den rivalisierenden EU-Fraktionen, der transatlantischen Weltmacht und der Ex-Weltmacht im Osten.

Das ist allerdings auch kein Wunder. Dass da auseinanderfällt, was nicht zusammengehört, passt jedenfalls zu gewissen Grundprinzipien bürgerlicher Weltpolitik im Allgemeinen und im Besonderen zum Entwicklungsstand der Gewaltverhältnisse im Imperialismus des 21. Jahrhunderts.

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Dass Imperialisten im Nationalismus der Machthaber, die sie ihrer Vorherrschaft unterwerfen – wollen –, ihren besten Verbündeten haben: Dieses Paradox funktioniert – mehr oder weniger – im Krieg, wenn echte Überlebensnöte in einem Existenzkampf souveräner Gewalten einen Kandidaten in die Arme eines starken Partners treiben. Ein gemeinsamer Sieg entzweit die Waffenbrüder wieder, weil er für den von Vernichtung bedrohten Souverän die Freiheit wiederherstellt, sich autonom kalkulierend auf die übrige Staatenwelt zu beziehen, auch auf Forderungen und Angebote der im Kriegsbündnis bestimmend gewesenen Führungsmacht. Frieden zwischen Staaten bedeutet überhaupt nichts anderes, als dass die zuständigen Machthaber bei all ihren von unterschiedlichem Erfolg gekrönten Bemühungen um Nutzen bringenden Zugriff auf fremde Länder und um Kontrolle über deren Herrscher die Zuspitzung ihrer Interessengegensätze bis zur Existenzfrage: der Infragestellung der Souveränität eines andern, vermeiden; dass insbesondere die Stärksten zwar austesten, ab wann der Nationalismus ihrer Partner mit dem eigenen oberhoheitlichen Herrschaftsanspruch endgültig kollidiert und dem eigenen Zugriff nur gewaltsam zu überwindende Grenzen setzt, aus dem Ergebnis für sich aber keine Existenzfrage machen.

Nach dem gewonnenen 2. Weltkrieg haben die USA den über Jahrzehnte bemerkenswert erfolgreichen Versuch unternommen, souveräne Partnerstaaten auf eine Friedensordnung festzulegen, in der sie die Entscheidungshoheit in den letzten Fragen staatlicher Souveränität, in Sachen Krieg und Frieden für sich reservierten und dafür das nationalistische Kalkül ihrer wichtigsten Verbündeten auf ihrer Seite hatten. Geschäftsgrundlage dieser paradoxen Konstruktion einer imperialistischen Allianz war freilich ein neuer und auch neuartiger Kriegszustand: eine Konfrontation mit dem sowjetischen Machtbereich, die die Zerstörung eines jeden Allianz-Mitglieds in einem atomaren Weltkrieg real und akut genug machte, um zwischen den militärisch minder bemittelten Nationen und der amerikanischen Supermacht ein Verhältnis existenzieller Abhängigkeit zu stiften und eine freiwillige Unterordnung wie in einem wirklichen Krieg ums nationale Überleben zu begründen. Auf Basis dieser gemeinsam aufgebauten und ausgehaltenen strategischen Weltvernichtungsdrohung unter amerikanischer Führung haben die konkurrierenden imperialistischen Mächte eine stabile Geschäftsordnung ihrer Konkurrenz gegeneinander wie für ihren Zugriff auf die restliche Staatenwelt entwickelt und in supranationalen Institutionen vergegenständlicht, einen Weltmarkt in Gang gebracht und da für enorm viel freie Konkurrenz ihrer Kapitalisten gesorgt. Und nicht nur das: Die wichtigsten westeuropäischen „Vasallen“ der USA haben sich zu dem Standpunkt durchgerungen, dass sie untereinander Einiges, und zwar Entscheidendes an nationaler Abgrenzung aufgeben und eine neue kollektive Souveränität schaffen müssen, um in der Allianz mit ihrer Schutzmacht und zwischen der und der atomar hochgerüsteten Sowjetunion als gleichrangiges imperialistisches Subjekt auftreten zu können. Ihr Nationalismus ist zum Beweggrund der Unterordnung ihrer nationalen Souveränität unter einen gemeinschaftlichen imperialistischen Geltungsanspruch geworden; ihr Konkurrenzkampf tobt um den nationalen Nutzen aus der allseitigen Unterordnung, um Einfluss auf die strategische Zielsetzung des gemeinsamen Clubs, noch grundsätzlicher: um die eigene Position in der Hierarchie der Mitglieder.

Dieses Gesamtkunstwerk imperialistischer Paradoxien gerät aus den Fugen, seit mit dem Sieg des „Westens“ im Kalten Krieg gegen den sowjetischen Feind seine Geschäftsgrundlage entfallen ist. Ihren Triumph nehmen die Beteiligten nämlich, jeder auf seine Weise, als Chance wahr, neu errungene Freiheiten auszunutzen; insbesondere die, sich im ehemaligen Einflussgebiet der ehemaligen Sowjetunion breit zu machen und den russischen Erben der sowjetischen Militärmacht strategisch kaltzustellen und zwecks ökonomischer Ausnutzung gefügig zu machen. Zu diesem Zweck nutzen Europas Führungsmächte ebenso wie die USA, quasi nach gewohntem Muster, den freigesetzten Nationalismus der osteuropäischen Staaten als Hebel, um sie ihrem bündnispolitischen Regime zu inkorporieren: Die Amerikaner mobilisieren die Russenfeindschaft, die dem Neo-Nationalismus der Renegaten des „sozialistischen Lagers“ seine Schärfe gibt, und vereinnahmen das „neue Europa“ für ihre Weltordnungskriege und für ihre strategische Offensive gegen Russlands Kampf um Rettung und Erneuerung der Vorherrschaft im Bereich der ehemaligen Sowjetrepubliken. Die EU setzt für die Eingemeindung ihrer neuen östlichen Nachbarn auf deren kapitalistische Staatsräson und die Einsicht der dafür verantwortlichen regierenden Nationalisten, dass dem Aufbruch zu staatlichem Reichtum und neuer Größe nur im Rahmen der Union Erfolg beschieden sein kann; dabei kommt es ihr schon bei der ersten Erweiterungsrunde, und bei deren aktueller Fortsetzung erst recht, weniger bis gar nicht auf einen Zuwachs an Wirtschaftsmacht und viel mehr darauf an, die eigene imperialistische Ordnungsmacht in strategisch relevantem Umfang nach Osten auszudehnen und so auf ein neues Niveau zu heben. Damit kommen die Führungsmächte des kapitalistischen Weltsystems freilich nicht bloß den Russen, sondern mit voller Absicht einander in die Quere.

Die USA suchen nicht bloß neue Vasallen und Stützpunkte, sondern legen es mit ihrem Werben um die osteuropäischen Nationen darauf an, die EU zu spalten und die Kalkulation ihrer Führungsmächte mit neuer strategischer Größe und Bedeutung zu durchkreuzen. Die Protagonisten einer neuen europäischen Weltmacht verfolgen ihrerseits das doppelte Ziel, gemeinsam mit den USA die Macht Russlands zu schwächen und handhabbar zu machen und zugleich das Bemühen der USA um ganz auf sie zugeschnittene, von Washington aus dirigierte kriegstaugliche Bündnisnetzwerke zu konterkarieren, indem sie sich selbst und nach Kräften auch ihre neuen Unionsmitglieder der Vereinnahmung durch die Supermacht entziehen. Daneben pflegen beide Seiten ihren alten, so grundsolide institutionalisierten Pakt, verschaffen ihm sogar reale neue Aufgaben, erst auf dem Balkan, dann in Afghanistan; und auch fürs Verhältnis zu Russland fällt den Westeuropäern aus gegebenem Anlass eine neue Verwendung für die NATO ein: In der wäre der einsame strategische Plan der Bush-Regierung, in Tschechien, Polen und einem Kaukasusland ein Raketenabwehrsystem zu installieren, viel besser aufgehoben als im bilateralen Verkehr zwischen Washington und ausgewählten willigen Helfern; nicht zuletzt deswegen, weil sich – ausgerechnet! – in dem Rahmen, nämlich im NATO-Russland-Rat, Bedenken Moskaus wegen einer drohenden Entwertung seiner strategischen Waffen beschwichtigen ließen, die man andernfalls in Berlin und Paris nur allzu gut verstehen kann...

Die NATO als Instrument der Westeuropäer, um Amerika auf seinem abenteuerlichen Kurs zur strategischen Neuordnung des Globus gewissermaßen einzufangen und auf ein Europa-verträgliches Maß herunterzubremsen: So wird die Allianz allerdings nicht zur Stätte eines erneuerten Einvernehmens, sondern direkt und ausdrücklich als Austragungsort für das fortschreitende Zerwürfnis zwischen dem „alten Europa“ und seiner einstigen transatlantischen Führungsmacht ins Spiel gebracht. Und an den anderen Schauplätzen steht es nicht besser. In dem einen Fall, in Sachen post-jugoslawischer Balkan-Ordnung, bewegt sich die gemeinsame gewaltsame Befriedung der Szene auf einen fundamentalen Streit über neue Grenzziehungen und Ermächtigungen zu, bei dem es auch wieder um die Alternative geht, ob Beschwichtigen oder Übergehen der bessere Weg zur weiteren Reduzierung russischen Einflusses auf dem alten Kontinent sein soll – und damit: ob bei der Neugestaltung der strategischen Landkarte mehr die USA oder mehr die EU-Häuptlinge das Sagen haben.

Der gemeinsame Bündniskrieg am Hindukusch eint die Allianz erst recht nicht: Uneinig sind sich die Partner schon in der Frage, ob das überhaupt ein gemeinsamer Krieg sein soll, was sie dort veranstalten; sie nerven einander mit unvereinbaren Ansichten darüber, wie das formell gemeinschaftlich verfolgte Ziel, das Land unter die Kontrolle der eigenen Präsidenten-Marionette in Kabul zu bringen, überhaupt zu verwirklichen wäre; sie streiten um die Lastenverteilung innerhalb der Allianz – da steht schon wieder amerikanisches Drängen auf mehr Engagement nach amerikanischen Vorgaben gegen deutsch-europäische Vorbehalte. Einig ist man sich nur darüber, dass sich mit dem wie auch immer definierten Erfolg oder Misserfolg in Afghanistan das Schicksal der NATO entscheidet – und auch darin, dass keiner der Beteiligten zu dem Eingeständnis bereit ist, dass das Ende der Allianz damit auch dann schon besiegelt ist, wenn den NATO-Truppen die Herstellung eines befriedigenden Maßes an Friedhofsruhe in den „Unruheprovinzen“ zwischen Kabul und Islamabad gelingt.

Dem Exitus des „Westens“ als bestimmender weltpolitischer Größe entspricht auf der anderen Seite keineswegs ein programmgemäßer Aufstieg der EU zur neuen zweiten Weltmacht, im Gegenteil: Innerhalb der Union lebt mit jedem Fortschritt in Richtung „Erweiterung und Vertiefung“ die Konkurrenz der Nationen um den eigenen Stellenwert im gemeinsamen Ganzen, und das heißt ganz folgerichtig: um nationale Selbstbehauptung gegen das gemeinsame Unternehmen auf; eine Konkurrenz, die nicht bloß den traditionsreichen Europa-Idealismus früherer Jahrzehnte lächerlich macht, sondern den institutionell verfestigten Willen zu einem gemeinsamen machtvollen EU-Regime selber angreift und zersetzt. Auf der anderen Seite geraten die USA mit ihrem Projekt einer militärisch fundierten, von willigen Koalitionären mit getragenen Kontrolle über die Staatenwelt ausgerechnet da in Beweisnot, wo sie selber in aller Freiheit einen Krieg auf die Tagesordnung gesetzt und blitzartig gewonnen haben, um die Gemeinde der souveränen Machthaber mit ihrer globalen Richtlinienkompetenz zu konfrontieren; jetzt fürchtet sich die Welt vor den Konsequenzen, die die Bush-Regierung ankündigt, um aus der Notlage doch noch eine weltpolitische Lektion zu machen.

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So kommt er voran, der freiheitliche Imperialismus heute. Drei einschlägige Episoden, die den Weltlauf derzeit weiterbringen, sind im Folgenden Thema. Fortsetzung folgt – in Kosovo, in Heiligendamm und anderswo.