Rupert Murdoch und der „phone-hacking scandal“
Von den skandalösen Leistungen der Massenpresse in der Demokratie

Das Mutterland der Demokratie ist stolz auf seine unabhängigen Medien: „Britischer Journalismus war – und ist – mit der beste in der Welt!“ (Labour Führer Ed Miliband, stellvertretend für alle, im New Statesman vom 08.07.2011). Jetzt hat eine Abteilung dieser freien Presse, angeführt vom linksliberalen Guardian und der öffentlich-rechtlichen BBC, aufgedeckt, dass eine andere Abteilung, ein Blatt des Medienunternehmers Rupert Murdoch, das Recht gebrochen hat: Journalisten der News of the World, des Massen-Sonntagsblatts in Murdochs News Corporation, haben ihre Stories durch das Abhören von Mobiltelefonen und die Bestechung von Polizisten gewonnen. Über Monate übertrifft sich eine aufgeregte Öffentlichkeit in lauter Enthüllungen über den „phone-hacking scandal“, die unlautere Meinungsproduktion und die intimen Beziehungen zwischen dem Murdochschen Medienimperium und den britischen Regierungen. Die sollen gar dazu geführt haben, dass in den letzten vier Jahrzehnten die Regierungsentscheidungen nicht von den Premierministern Thatcher, Blair oder Cameron, sondern von einem „Medienmogul“ bestimmt wurden. Na ja.

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Rupert Murdoch und der „phone-hacking scandal“:
Von den skandalösen Leistungen der Massenpresse in der Demokratie

Das Mutterland der Demokratie ist stolz auf seine unabhängigen Medien: Britischer Journalismus war – und ist – mit der beste in der Welt! (Labour Führer Ed Miliband, stellvertretend für alle, im New Statesman vom 08.07.2011). Jetzt hat eine Abteilung dieser freien Presse, angeführt vom linksliberalen Guardian und der öffentlich-rechtlichen BBC, aufgedeckt, dass eine andere Abteilung, ein Blatt des Medienunternehmers Rupert Murdoch, das Recht gebrochen hat: Journalisten der News of the World, des Massen-Sonntagsblatts in Murdochs News Corporation, haben ihre Stories durch das Abhören von Mobiltelefonen und die Bestechung von Polizisten gewonnen. Über Monate übertrifft sich eine aufgeregte Öffentlichkeit in lauter Enthüllungen über den „phone-hacking scandal“, die unlautere Meinungsproduktion und die intimen Beziehungen zwischen dem Murdochschen Medienimperium und den britischen Regierungen. Die sollen gar dazu geführt haben, dass in den letzten vier Jahrzehnten die Regierungsentscheidungen nicht von den Premierministern Thatcher, Blair oder Cameron, sondern von einem „Medienmogul“ bestimmt wurden. Na ja.

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Der Ausgangspunkt des Skandals ist die Sorte Berichterstattung, von der die Massenblätter voll sind: Ein Mädchen wird entführt – und die News of the World lässt ihre Leserschaft teilhaben an den Spekulationen, ob das Entführungsopfer noch lebt, an dem Leiden der besorgten Eltern und an der Suche nach den verbrecherischen Entführern. Und das so authentisch wie möglich: In der Suche nach Informationen aus erster Hand sind Murdochs Reporter auch in die Voicemail des entführten Mädchens eingedrungen. Darüber herrscht nun große Aufregung im Königreich – worüber die volksbildende Leistung ganz in Vergessenheit gerät, um die sich die Massenpresse mit ihrer „Sensationsberichterstattung“ verdient macht.

Ihren Lesern eröffnet sie den Blick auf die privaten Schicksale, die sich in ihrer näheren und weiteren Umgebung abspielen. Millionen Briten, die ganz andere Sorgen haben, können ideell Anteil nehmen an den menschlichen Nöten der besorgten Eltern des jugendlichen Entführungsopfers. Sie erfahren von den Hoffnungen, aber auch der Verzweiflung der Angehörigen – und kommen in den Genuss des Gefühls, bei allem dabei zu sein. Das ist das Prinzip der Berichterstattung in diesem Fall wie in allen anderen, mit denen diese Presse ihre bunten Seiten füllt, und in England wie in anderen Ländern für die Meinungsbildung prägend ist: Neben all dem, was die Leser und Zuschauer sonst so sind und treiben, werden sie mit einem Gegenstand von allgemeinem Interesse befasst, der nichts mit einem wirklichen Interesse zu tun hat und zu tun haben muss, weder dem individuellen der verschiedenen Leser noch dem, was an den vielen wirklichen Interessen wirklich als allgemeine Bestimmung dran ist. Durch die Berichterstattung wird eine Angelegenheit – für den Tag oder, wenn es sich so ausschlachten lässt, für eine Woche – interessant; die Aufmerksamkeit der Lesergemeinde wird okkupiert, auf eine allgemein bekannt und wichtig gemachte Affäre bezogen. Und das ist auch schon die erste und elementare Leistung dieser Berichterstattung: Sie bildet Gemeinschaft jenseits aller wirklichen Interessen, offen für Themen und Affären jeglicher Art – sie schafft das, was man in der Demokratie hochachtungsvoll Öffentlichkeit nennt. In den Blättern, die sich an dieser Aufgabe volksnah zu schaffen machen, kommt die Welt als ein eher chaotisches Potpourri von Ereignissen vor, die aber alle einen gemeinsamen Nenner haben: Presse, Funk, Fernsehen und Internet kümmern sich darum; jeder zurechnungsfähige Zeitgenosse hat dazu eine Meinung; und in der Meinungsbildung entsteht und betätigt sich ein öffentliches Bewusstsein, die täglich erneuerte Basis für das eigenartige Ding namens Zeitgeist. Die private Meinung muss natürlich eine jede Privatperson sich selber bilden. Aber was in den privaten Köpfen an Kenntnissen und Meinungen über die Welt zustande kommt, das bleibt nicht dem Zufall überlassen: Das machen die Macher der bunten Medien zu ihrer Sache, und das professionell. Was sie zum Thema des Tages machen, präsentieren sie ihrem Publikum gleich so, dass es jeden angeht. Möglichst hautnah werden den Lesern katastrophale Großereignisse in Text und Bild nahegebracht, die allein schon wegen ihrer spektakulären Größe Aufmerksamkeit verdienen. Möglichst eindringlich wird das Publikum hineingezogen in unerhörte Begebenheiten aus dem Mikrokosmos des Alltagslebens, in Groß- und Schandtaten, in Glanz- und Fehlleistungen, die im Umkreis der eigenen Heimat oder bei fremden Kulturvölkern vorkommen. Der Leser darf sich einfühlen in Familientragödien unter Eisbären, auch in das Glück, das ein Lottogewinn oder Fünflinge den Glücklichen beschert – und wird auf die Art in seinem moralisch verfestigten Gefühlsleben von Angelegenheiten betroffen gemacht, die ihn gar nicht betreffen, geistig in eine Welt hineingezogen, die ihn nichts angeht, aber so zu seiner Welt wird. Die derart zweckmäßig arrangierte Betroffenheit der Leserschaft vereint sie zu einer großen Gefühlsgemeinschaft von Leuten, die außer ihrem moralischen Sachverstand, der weiß, was sich gehört und was nicht, nichts gemeinsam haben – und mit dem wühlen sie sich dann jeder für sich und alle zusammen in den ihnen unterbreiteten Stoff hinein.

Gar nicht selten lernen sie Hand in Hand mit dem Anlass, der die Spalten füllt, auch die Richtlinien kennen, nach denen sie ihre Anteilnahme auszurichten und zu gewichten haben, wofür und gegen wen sie in einem „Skandal“ unbedingt Partei ergreifen, mit wem sie das Leid teilen sollen. Manchmal bringen diese Blätter das sittliche Kollektiv der Anständigen ausdrücklich mit „Kampagnen“ in Fahrt, manchmal erübrigen sich die auch – und gut informierte Bürger belagern aus eigenem Antrieb das Haus eines aus der Haft entlassenen Unholds. Die Massenpresse leistet damit – Bild in Deutschland, Murdoch in England – die Ausbildung eines Gemeinschaftsgefühls von unten, das dem abstrakten nationalen ‚Wir‘, dem sich ohnehin jeder zurechnet, gleichsam Leben einhaucht. Unter kundiger Anleitung ihrer Presse können sich die Bürger als in Moral und Sittlichkeit vereintes Kollektiv ausleben, sich die zur öffentlichen Sache gemachten Nöte und Sorgen, aber auch Karrieren und Erfolge von ganz gewöhnlichen wie sehr berühmten Mitbürgern, zu ihrer eigenen Angelegenheit machen und ihr Urteilsvermögen an allem betätigen, was sich in ihrem Gemeinwesen gehört und was keinesfalls. So kennen sich die Massen bei allem und jedem aus, können – um auf die britischen Bürger zurückzukommen – mitreden über das Knie von Prinz William, die Seelennot des Verbrechensopfers, die Bosheit des Täters und die Busengröße des Page Three Girls. Aber nicht nur Celebrities, Crime & Sex werden als Gegenstand der privaten Anteilnahme präsentiert: Auch die großen Fragen der Nation werden vermenschlicht, alles Politische kommt unter dem Gesichtspunkt des Privaten vor, das die Menschen einander näher bringt. Die Leser, die als Wähler ihre Politiker ermächtigen sollen, lernen sie als Ihresgleichen kennen, mit Führungsstärken oder Charakterschwächen, mit Sorgen wie du und ich sie haben, aber auch mit der persönlichen Last der Verantwortung für die Zukunft des Landes. Über den Krieg in Afghanistan berichtet die Sun – oder News of the Week, Daily Mail und Daily Mirror, allesamt englische Pendants zur deutschen Bild – so lebensnah, wie es nur geht, wie „our heroes“ beim Entschärfen von Minen der Schweiß im Gesicht steht. Die Versenkung eines feindlichen Kreuzers im Falklandkrieg feiert sie mit der legendären Schlagzeile „Gotcha!“ (Erwischt) ungefähr genauso als Regung allernatürlichsten Empfindens wie einen der wenigen Fußballsiege über die „Krauts“; und mit David Cameron, der gerade Urlaub in der Toskana macht, darf sich die Leserschaft über die Unverschämtheit einer italienischen Bedienung aufregen, die ihren Prime Minister ewig warten lässt. Kein Wunder, sagt sich dann der Zeitung lesende Brite, dass dieses Land nicht nur bei ihm, sondern auch an den Finanzmärkten keinen Kredit mehr genießt.

Die Welt, wie sie von den Massenpresse präsentiert wird, mag wie ein riesiges Durcheinander erscheinen, wo das Wichtige unwichtig und das Unwichtige wichtig ist – das Chaos ihrer Meldungen und Stories hat den oben genannten gemeinsamen Nenner: Über die private Anteilnahme an allem und jedem werden die Leser sittlich vergemeinschaftet, zum im moralischen Gefühl vereinten Volk formiert. Diese Leistung wird auch von allen anderen Abteilungen der Öffentlichkeit für unbedingt anerkennenswert und wichtig gehalten, die sich als „seriös“ begreifen: Ohne „Infotainment“ und die obligatorischen Crime- und Celebrity-Meldungen zur Erbauung des moralischen Gemüts wollen auch die großen Tageszeitungen wie die Times und der Guardian oder die öffentlich-rechtliche BBC in ihren Nachrichtensendungen schon lange nicht mehr auskommen. Das hat sie freilich nicht davon abgehalten, als Wächter der guten Sitten und des gültigen Rechts den Massenblättern auf die Finger zu schauen, ob bei denen in der Konkurrenz um die authentischsten Berichte und Auflagen steigernden Stories auch alles mit rechten Dingen zugeht.

Bei der News of the World sind sie dann fündig geworden: Natürlich darf und muss über ein Entführungsopfer, die Verletzten von Terroranschlägen, die Seitensprünge eines Fußballers oder die Malaisen von Royals berichtet werden, darauf hat der Bürger in der Mediendemokratie einen selbstverständlichen Anspruch – aber im Fall des entführten Mädchens sind die NoW-Reporter mit ihrem „phone-hacking“ einen Schritt zu weit gegangen: Erstens gegenüber den Betroffenen, deren Würde sie verletzten, zweitens gegenüber dem geltenden Recht, gegen das sie verstoßen haben und wodurch sogar die polizeilichen Ermittlungen behindert wurden, und last but not least haben Murdochs Zeitungen die Polizei bestochen. So hat die News of the World nicht nur das Vertrauen des Volks in die Ordnungskräfte des Staates untergraben und eine Säule der Demokratie in Misskredit gebracht, sondern eben auch sich selbst: Der Unternehmensauftrag der News of the World war, andere zur Rechenschaft zu ziehen. Sie versagte, als die Reihe an ihr war. (Rupert Murdoch am 18.07.2011). Der Unternehmensboss sieht keine Zukunft mehr für seine Zeitung und stellt sein Sonntags-Massenblatt ein. Zu Ende ist der „phone-hacking scandal“ damit freilich nicht.

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Dafür sorgt die andere, seriöse Abteilung der Öffentlichkeit, die den Skandal auf eine neue, höhere Ebene hebt. Sie kritisiert lautstark den Machtmissbrauch, den Murdochs Boulevardpresse betreibt: Ein „Medienimperium“ vernebelt in ihrer Sicht den Verstand der Massen, ersetzt Information durch Unterhaltung, vergewaltigt die Nachrichtenscrews the news – und sagt uns, wen wir wählen sollen (The Guardian vom 19.07.2011) – mit einem Wort: statt Democracy herrscht Murdochracy! Doch was heißt hier „statt“?! Das Ethos, das Murdoch für sich und sein „Imperium“ in Anspruch nimmt, wenn er „andere zur Rechenschaft ziehen“ will, ist dasselbe wie das, dem seine Kritiker sich verpflichtet wissen. Dieses zielt bei dem „Medienmogul“ darauf, die, die im Land das Sagen haben, auf den Erfolg hin zu überprüfen, den sie Volk und Nation mit ihrem Wirken schuldig sind, und genau dieses eine und immer wieder nur dieses eine Prüfkriterium bringt auch die „seriöse“ Abteilung der Öffentlichkeit in Anschlag, wenn sie im Zuge der Wahrnehmung ihrer Informationspflichten den kritischen Blick auf die Herrschaft richtet. Nur betreibt sie dieselbe politische Urteilsbildung eben anders als die von ihr der „Unsachlichkeit“ geziehenen Medien. Die sind Profis in der Kunst, die Kenntnisse ihres Publikums von und Urteilsbildung über Politik auf die Persönlichkeitsmerkmale ihrer Macher zu fokussieren, das schwierige Handwerk der politischen Herrschaft kindgerecht zu vermenschlichen und so die Masse zu politisieren. Mit ihren News öffnen die Boulevardmedien dem Volk den Blick durchs Schlüsselloch auf den Menschen, der im Politiker steckt. Wenn die Sun berichtet, wie die Eiserne Lady Thatcher ihre Handtasche auf den Verhandlungstisch knallt und Führungsstärke beweist, Tony Blair angesichts des Todes von Lady Di mit seinem „spin doctor“ die Rede von der „People’s Princess“ erfindet und damit sein geschicktes Gespür für die Volksseele beweist, wenn der „cholerische“ Gordon Brown seine Kabinettsmitglieder mit seiner „stalinistischen“ Art abfertigt und David Cameron sich nicht nur um den britischen Staatshaushalt, sondern auch um seine schwangere Frau sorgt – dann ist alles Nötige dafür getan, dass sich das Volk eine differenzierte Meinung über seine Politiker bilden kann: Als Menschen mit Stärken und Schwächen, als mehr oder weniger vertrauenswürdige Persönlichkeiten, die Anerkennung oder Ablehnung verdienen. Praktisch bedeutend wird diese Meinungsbildung in der Wahl, wenn das Volk als Souverän über die Politikerfiguren entscheidet, die es in das Regierungsamt befördert und mit der Machtausübung über sich beauftragt. Für diese Wahlentscheidung schafft die Massenpresse beim Volk die feste Basis: Sie macht nicht nur überhaupt erst die Politiker im Volk bekannt, sondern liefert auch gleich noch die moralisch-menschlichen Gesichtspunkte mit dazu, mit denen die Masse der stimmberechtigten Bürger interessiert Anteil an der politischen Machtausübung nimmt, das Herrschaftspersonal begutachtet und über dessen Karrieren entscheidet. Das macht die Macht der Massenpresse und ihren unverzichtbaren Dienst für die Demokratie aus: Welchen Grund sollten die englische Hausfrau oder der schottische Arbeiter haben, einen Tony Blair oder David Cameron zu wählen – außer den, dass sie den Typ eben sympathisch finden?! Wenn es bei der demokratischen Wahl um die Ermächtigung der Politiker geht, dann gibt es in der Tat kein verlässlicheres Argument für die Stimmabgabe als die Qualitäten des Menschen, den man kennt und als kompetent anerkennt, als zupackenden Entscheidungsträger irgendwie mehr schätzt als die Konkurrenz – und dem man/frau deswegen die Führung der Amtsgeschäfte anvertraut, von der das eigene Wohlergehen abhängt.

Diese von der Boulevardpresse mit durchschlagendem Erfolg betriebene Volksbetörung begründet bei denen, die diese Sorte Politisierung für primitiv, weil eine höhere Art der staatsbürgerlichen Meinungsbildung für geboten halten, einen schlimmen Verdacht: Vom Anspruch der „seriösen“ Medien, die für andere Leser schreiben, erscheinen die Massenmedien mit dem ihnen eigentümlichen „Infotainment“ als Manipulation der dummen Masse und Vergehen gegen den eigentlichen Auftrag der vierten Gewalt im Staat. Dieser Vorwurf bezieht sich dem Inhalt nach darauf, dass für den Geschmack der Anwälte einer gediegenen Meinungsbildung in den Revolverblättern die Probleme und Anliegen der Politik nicht in gebotener Weise gewürdigt werden, dort eigentlich bloß die Nebensache der Hauptsache sind, die sich allein ums politische Personal dreht. Sie selbst hingegen stellen bei ihrer politischen Berichterstattung die Sache in den Vordergrund und in ihren Berichten vor allem die Sachkompetenz unter Beweis, über die sie verfügen. Mit den Machern der Politik stehen die Macher der „seriösen“ Zeitungen grundsätzlich auf einer Stufe. Sie sorgen sich mit ihnen um das Gelingen ihrer Vorhaben, diskutieren alternative Lösungswege, warnen vor Fehleinschätzungen oder Versäumnissen, Irrwegen oder was auch immer, geizen aber auch nicht mit Lob, wenn ein politischer Wurf einmal zu ihrer Zufriedenheit ausfällt. Die Vermenschlichung des Gewerbes ist ihnen freilich auch nicht fremd, nur sind sie auch da in ihren Sachurteilen viel kompetenter als ihre Kollegen vom Boulevard. Sie berichten nicht nur darüber, was der eine oder die andere zum Aufpolieren des eigenen Erscheinungsbilds so unternimmt. Sie fassen immer auch kritisch nach und erörtern, ob der Schauspielkunst auch Erfolg beschieden ist, ein neues Brillengestell tatsächlich dem Image gut tut und ein betont kämpferisches Auftreten auf dem Parteitag beim Publikum auch wirklich so verfängt wie beabsichtigt: Nicht nur in den Sachthemen der Politik, auch bei deren Vermenschlichung wissen sie sich als kompetente Richter und Ratgeber der Mächtigen und weisen ihre Leser in die politische Urteilsbildung ein, wie sie sich geistig niveauvoll gehört. Denn die Volksmeinung zu bilden, in dem Fall eben die Meinung der gehobenen Volksteile: die Mission haben sie mit ihren Kollegen von der Massenpresse gemein, und da setzt die zweite, formelle Seite des Vorwurfs an, diese würden ihre Leser manipulieren. Was die abliefern, halten sie für einen Missbrauch ihres Gewerbes, nämlich mit verantwortungsvollen Erörterungen der politischen Problemlagen wie des Geschicks derer, die sie bewirtschaften, dem mündigen Bürger ein Angebot für seine echt eigenständige Urteilsbildung nach ihrem Gusto zu unterbreiten – mit viel Hintergrundwissen und noch viel mehr differenziertem Abwägen, wie passendere Lösungen für die von oben aufgeworfenen ‚Probleme‘ aussehen könnten. Eine Erziehung zur Mündigkeit sehen sie bei den Produkten der Massenpresse und ihrer Ansprache ans moralische Gefühlsleben der Leute nicht vorliegen. Die halten sie für so etwas wie geistige Vergewaltigung – gerade so, als würden sich die Leser dieser Blätter ihre Meinung gar nicht selbst bilden und alles, was sie lesen, ungefiltert unter der Rubrik ‚eigene Meinung‘ ins Hirn kopieren. Sie selbst legen selbstverständlich allergrößten Wert darauf, ihre gebildete Leserschaft zu einer Gemeinde von Trägern der Meinungen zu organisieren, die sie in ihren Redaktionsstuben aushecken, und sie einzuspannen in die Wahrnehmung ideeller Verantwortung für die Geschicke des Gemeinwesens. Wenn ihren Kollegen dasselbe auf ihre Art gelingt, wenn sie die großen Massen des demokratischen Fußvolks in eine professionell vermenschlichte Welt von Politik und Herrschaft hineinziehen und ihnen so alles und jedes als Gegenstand ihrer privaten Verantwortlichkeit ans Herz legen, halten sie das für einen höchst problematischen Gebrauch der Macht, die die Presse hat – weil nämlich in ihren Augen da der Wille im Volk nicht gebildet, vielmehr in es hineingetragen wird, den es dann als seinen vertritt. In ihrem Vorwurf, die Journalisten der Massenmedien bedienten sich manipulativer Machenschaften, bringen die „seriösen“ Meinungsbildner mithin ihre Verachtung des Geisteszustands der Massen zum Ausdruck, die von denen bedient werden, und vereinnahmen für ihre Volksverachtung dann auch gleich ihr eigenes Publikum. Bekanntlich stecken hinter ihren Blättern ja die klugen Köpfe, die sich gerne so ansprechen lassen, als wären sie in allem kompetent, stünden mindestens auf Augenhöhe mit den Mächtigen und Wichtigen im Land und blickten im Unterschied zu denen vor allem dahinter. In dem Bewusstsein, zur besseren Elite zu gehören, dürfen sie sich in diesem „Skandal“ ein weiteres Mal ergehen, wahlweise über schlechten Journalismus die Nase rümpfen oder über die minderbemittelten Geister, die ihn verdienen, am besten natürlich über beides. So kopieren sie die Ansichten ihrer Lieblingsjournalisten in ihr höchstpersönliches Weltbild hinein...

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Von elitären Skrupeln über die Methode des Zustandekommens des politischen Volkswillens sind Politiker selbstverständlich nicht befallen. Die politischen Parteien, die um die Staatsmacht im Vereinigten Königreich konkurrieren, finden in der Macht der Massenmedien wie der seriösen Presse, Zustimmung zu generieren oder Reputation zu zerstören – ein höchst brauchbares Instrument zur Beförderung ihres Erfolgs in der Parteienkonkurrenz. We believe in the power of news! – das ist eben nicht nur das Unternehmensmotto von Murdochs News Corporation, und schon gleich nicht nur ein Glaube. Noch jede Regierung und Partei hat ihre „spin doctors“, die so heißen, weil sie den Partei-Botschaften den Dreh verpassen, der sie bei Öffentlichkeit und Wahlvolk gut ankommen lässt. Und natürlich kaufen sich die Parteien für ihre „public relations“ erfolgreiche Ex-Journalisten von den großen Massenblättern, die über direkte Kontakte in die Redaktionsstuben der Zeitungen hinein verfügen. Als Erfolg verbuchen sie dann, wenn im Wahlkampf das Leitblatt des Boulevards über ihren Spitzenkandidaten titelt: The Sun backs Blair. Oder drei Wahlkämpfe später Cameron – our hope! und Labour’s lost it! – Labour hat „es“, sprich die Unterstützung der Sun, vergeigt.

Die Anstrengungen aller Parteien, die Unterstützung von Murdochs Medienimperium zu gewinnen und sich seiner Macht zur eigenen Imagewerbung zu bedienen, gehören zur Normalität von Pressewesen und Parteienkonkurrenz in der englischen Demokratie. Hierzulande heißt das Zentralorgan der völkischen Meinungsbildung BILD und erfreut sich seitens deutscher Politiker derselben Werbung um Aufmerksamkeit. In Großbritannien avanciert genau dieses Interesse zum eigentlichen Kern des „phone-hacking scandal“, jedenfalls in den Augen der seriösen Abteilung der Öffentlichkeit: Sie beschuldigt die Politiker, mit Murdoch zu kungeln, um seine Medienmacht für ihre Werbung zu benutzen, und als Gegenleistung dafür mit neuen Mediengesetzen den Ausbau seines Imperiums zu fördern. Der investigative Journalismus deckt auf, wie oft sich der konservative Premier, sein Stellvertreter von den Liberaldemokraten und der Labour-Oppositionsführer allein in diesem Jahr „privat“ mit Murdoch getroffen haben, und wirft der Regierung, die zur Machtausübung legitimiert ist, den verantwortungslosen Gebrauch ihrer Souveränität und die Unterordnung unter eine nicht legitimierte Macht im Staat vor. Solche „Fakten“, mit denen das staatsbürgerlich gebildete Publikum monatelang unterhalten wird, kultivieren allerdings nur das interessierte Missverständnis, die Politik, welche die Massenpresse für ihre Ziele einspannt, mache sich damit zum Büttel eben dieser Presse. Und sie klären bestenfalls über sich, nämlich den Standpunkt einer seriösen Öffentlichkeit, auf, die sich um die Unabhängigkeit der Politik sorgt. Sie sieht ihre Rolle als vierte Gewalt im Staat darin, über den ordnungsgemäßen Gebrauch zu wachen, den Regierung und Opposition von der Staatsgewalt machen; der soll ganz souverän, allein am Kriterium der Macht selbst, nämlich dem nationalen Erfolg und der Bewältigung aller Hindernisse, die ihm entgegenstehen, ausgerichtet sein. Wo sie Anhaltspunkte für ihren immerwährenden Verdacht entdeckt, die Politik ließe sich bei ihren Entscheidungen von partikularen gesellschaftlichen Interessen beeinflussen, gar von den Profitinteressen eines „Medienmoguls“ kaufen, sind BBC und Guardian ganz in ihrem Metier: Sie sehen sich herausgefordert, schonungslos „Kumpanei“ und „Korruption“ von Massenpresse und Politikerelite aufzudecken und politische Konsequenzen aus dem Skandal einzufordern.

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Den Vorwurf, sie seien Marionetten eines Medienimperiums, lassen die politischen Parteien nicht auf sich sitzen und bieten ein Lehrstück demokratischer Skandalbewältigung. Die öffentliche Kritik an ihrer Kumpanei mit der Massenpresse weisen sie zurück, indem sie ihr recht geben. Weil sie sich jetzt öffentlich an die Brust schlagen und selbst ihrer vergangenen Nähe zu Murdoch beschuldigen, kann man ihnen ab sofort glauben, dass sie in Zukunft auf die Distanz zu den Massenmedien gehen, die die Puristen der demokratischen Informationskultur für angebracht halten:

„Die Parteiführer waren so bemüht, die Unterstützung der Presse zu gewinnen, dass wir vernachlässigt haben, unser Verhältnis zur Presse in Ordnung zu bringen… Die Wahrheit ist, wir alle waren gemeinsam darin verwickelt, die Presse, die Politiker, die Führer aller Parteien – und, ja, auch ich.“ (Premierminister David Cameron im Parlament, 8.7.2011)
„Das Problem liegt tiefer als nur News International. Was in den letzten Wochen ans Licht gekommen ist, ist nur das Symptom eines weit größeren Problems…verschiedene Teile des britischen Systems, die Presse, Polizei, Politiker waren zu nah zusammen…Es sollte keine Interessenüberschneidungen geben. Natürlich braucht es eine freie Presse…Aber es ist wichtig, dass wir nicht zulassen, dass eine freie Presse durch eine außer Kontrolle geratene Presse untergraben wird.“ (Vize-Premier Nick Clegg in BBC Radio 4, 14.07.2011)
„Was passiert, wenn Zeitungen, die zu Recht beanspruchen, die Rechte der Bürger zu verteidigen, ihrerseits diese Rechte brechen? Wenn diejenigen, die beanspruchen, die Öffentlichkeit vor staatlichem Machtmissbrauch zu schützen, ihrerseits Macht willkürlich, gemein und kriminell gebrauchen? Wenn einer Abteilung der Medien gestattet wird, so mächtig zu werden, dass sie immun wird gegen politische Kritik und Kontrolle ihres Verhaltens, das ordentliche Kontrollsystem zusammenbricht und Machtmissbrauch die Folge ist. Wir alle müssen dafür die Verantwortung übernehmen. Meine Partei war nicht immun gegen diese Entwicklungen. Genauso wenig wie die aktuelle Regierung und der Premierminister.“ (Labour-Oppositionsführer Ed Miliband im New Statesman vom 08.07.2011)

Das Volk soll die Selbstkritik der Politik würdigen – als Auftakt dazu, der politischen Klasse wieder die Glaubwürdigkeit zuzubilligen, die unter dem Skandal gelitten hat, sowie als Beleg für die Souveränität der ersten beiden, der gesetzgebenden und der regierenden Gewalt über die vierte, die freie Presse. Die Regierung verspricht, in Zukunft dafür zu sorgen, dass kein Medienunternehmen mehr die Freiheiten der Presse missbraucht und das Vertrauen in die britische Demokratie untergräbt, indem Reporter einfach Telefone abhören, Polizisten bestechen und der frühere Chefreporter, der das alles angestiftet hat, am Kabinettstisch der Regierung sitzt. Zum Beweis ihrer Entschlossenheit leitet die Regierung Strafverfahren gegen korrumpierende Redakteure und korrupte Polizeibeamte ein, verurteilt die Schuldigen und kommandiert den Unternehmenschef persönlich vor einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. All das, um zu unterstreichen, dass die freie Presse den Glauben an die Integrität der Politiker, die Unbestechlichkeit der Polizeiorgane und die Leistungen einer demokratischen Öffentlichkeit zu fördern hat und nicht beschädigen darf. So stellen die Politiker klar, dass die Freiheit der Medien ein Herrschaftsinstrument des Staates ist: Wenn etwas ein Akt von „Murdochracy“ ist, dann diese Art, sich von dem „Medienmogul“ zu distanzieren – mit einer Show-Veranstaltung, die die Redakteure seiner Tabloids gar nicht besser hätten inszenieren können!