Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Unsere Bundeskanzlerin in China: Chapeau!

Wie üblich hat die Kanzlerin gut zwei Dutzend deutsche Wirtschaftskapitäne im Schlepptau, die Milliardengeschäfte in China machen wollen und sollen. Davon ist im deutschen Blätterwald dieses Mal eher nur am Rande die Rede. Der Spiegel geht pünktlich zum Staatsbesuch in Vorlage und widmet seine Titelgeschichte dem Skandal, dass „Chinas Geheimdienste auf die Jagd nach dem wichtigsten Rohstoff von Exportweltmeister Deutschland gehen: Knowhow. Sogar Berliner Ministerien werden Opfer von Hacker-Angriffen. Die Bundesregierung ist entsetzt – und machtlos“, meint der Spiegel im Titel-Vorspann am 27.8. Das kann die Kanzlerin natürlich nicht auf sich sitzen lassen und teilt ihrem journalistischen Anhang mit, dass sie in Peking der chinesischen Führung sehr wohl einige „heikle Fragen“ nicht nur zu den Menschenrechten stellen werde, gerade jetzt, ein Jahr vor den Olympischen Spielen.

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Unsere Bundeskanzlerin in China: Chapeau!

Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel ist auf Staatsbesuch in China. Natürlich nicht allein – wie immer bei solchen Anlässen ist die 1. Auswahl der freien deutschen Presse vor Ort dabei: Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine, Die Welt, Die Zeit, Der Spiegel usw. Schließlich will die Crème de la Crème des deutschen Journalismus dem deutschen Leser aus nächster Nähe und erster Hand drei Tage lang den Staatsbesuch in Peking und Nanjing erläutern. (alle Zitate im Folgenden sind den genannten Druck- und Online-Ausgaben in der Zeit vom 26. - 29.8.07 entnommen, den Spiegel-Nummern 35/36 und der Zeit Nr. 36)

Wie üblich hat die Kanzlerin auch gut zwei Dutzend deutsche Wirtschaftskapitäne im Schlepptau, die Milliardengeschäfte in China machen wollen und sollen. Davon ist im deutschen Blätterwald dieses Mal eher nur am Rande die Rede.

Der Spiegel geht pünktlich zum Staatsbesuch in Vorlage und widmet seine Titelgeschichte dem Skandal, dass Chinas Geheimdienste auf die Jagd nach dem wichtigsten Rohstoff von Exportweltmeister Deutschland gehen: Knowhow. Sogar Berliner Ministerien werden Opfer von Hacker-Angriffen. Die Bundesregierung ist entsetzt – und machtlos, meint der Spiegel im Titel-Vorspann kurz vor Abflug. Das kann die Kanzlerin natürlich nicht auf sich sitzen lassen und teilt ihrem journalistischen Anhang mit, dass sie in Peking der chinesischen Führung sehr wohl einige heikle Fragen nicht nur zu den Menschenrechten stellen werde, gerade jetzt, ein Jahr vor den Olympischen Spielen. Merkel will ein härteres Vorgehen der chinesischen Führung zum Schutz geistigen Eigentums gegen Produktpiraterie und deutlich höhere Produkt- und Sicherheitsstandards anmahnen, außerdem die Chinesen an die Klimaschutzziele erinnern, kurz: Merkel verspricht forschen Auftritt in China, wie die Süddeutsche titelt.

Wem verspricht sie das eigentlich? Offenbar einer kritischen Opposition und einer noch kritischeren Öffentlichkeit, die gespannt darauf wartet, was sich unsere Kanzlerin in Sachen Menschenrechte und anderen Beschwerden gegenüber China so herausnimmt. Dass deutsche Kanzler den jeweiligen chinesischen Führungen mit Zurechtweisungen, Mahnungen und Anklagen zu kommen haben, das scheint geradezu eine Art Bringschuld gegenüber den Erwartungen der versammelten deutschen Presse zu sein. Insofern ist es kein Wunder, dass die Meute Journalisten ganz genau hinsehen will, was sich da während des Besuchs zwischen der deutschen und chinesischen Führung abspielt.

„Wir“ stellen den Chinesen „heikle Fragen“

Genau hinsehen, den Führern auf Schritt und Tritt folgen, der Kanzlerin über die Schulter schauen und die Besuchsatmosphäre aufmerksam registrieren, also der Macht ganz nah sein, das will und darf der journalistische Tross der Reisedelegation sowieso; schließlich gehört die einfühlsame Berichterstattung über das diplomatische Auftreten insbesondere ‚unserer‘ Regierenden zu den üblichen nationalen Informationspflichten. Dem daheim gebliebenen Lesepublikum wird das politische Umfeld des Staatsbesuchs gewissermaßen im Atmosphärischen vorsortiert, und da fällt dem geschärften Auge deutscher Weltjournalisten in Peking als allererstes auf, wie unecht und inszeniert die freundliche und auf Spontanität bedachte Besuchsatmosphäre in Wirklichkeit ist: Steif und präzise inszeniert Peking die Reise der Kanzlerin, auf dass nichts Ungeplantes geschehe.

An diplomatischen Besuchsprotokollen deren hochgradige Organisiertheit durchschauen und entlarven zu wollen, ist zwar einigermaßen verrückt – Staatsbesuche sind schließlich per se nichts anderes als der streng ritualisierte Ausdruck des Stands der Beziehungen von Staaten. Deutsche Journalisten tun es in diesem Fall trotzdem mal. Dass ihre eigene freie demokratische Regierung bei ihren Staatsempfängen nichts dem Zufall überlässt, das finden sie völlig selbstverständlich; das geht stillschweigend in Ordnung, das muss einfach so sein; und wenn etwas Unkontrolliertes vorfiele, wäre es ein Versäumnis der Polizei und ihrer politisch Verantwortlichen. Nicht so in China: Da sieht Nico Fried von der SZ alles organisiert, auch die Spontaneität; die Bevölkerung, mit der Merkel Kontakt aufnehmen darf, das sind wie immer bestellte Aktivisten; ganz zufällig im Park herumsitzende Rentner wirken auf Wulf Schmiese von der FAZ angestrengt unangestrengt; die Antworten, die sie der Kanzlerin geben, kein Zweifel: alle auswendig gelernt auf Geheiß des Regimes! So erinnern die deutschen Öffentlichkeitsvertreter die Leser daheim nachdrücklich daran, dass in China das Volk unterdrückt wird und deshalb das Regime um altstalinistische Gewohnheiten nicht herumkommt. Regimetreue Zustimmung muss in diesem Land künstlich herbeiorganisiert sein. Bei wirklich ungezwungenen Kontakten Merkels mit der Bevölkerung würde sich vermutlich unkontrollierte Regimekritik Bahn brechen – so die gar nicht heimliche Botschaft seriöser Journalisten. Mit diesen atmosphärischen Einlassungen in den ausgreifenden Kommentaren und Stimmungsberichten auf den Seiten zwei und drei lassen SZ, FAZ und Welt keinen Zweifel: In China regiert nach wie vor ein doch recht zweifelhaftes Regime, dem wir seine Legitimität beim besten Willen nicht attestieren können.

Und was macht Merkel nun? Hält sie ihr Versprechen? Sie tut‘s! Mehrmals spricht sie die Errungenschaften der deutschen Zivilgesellschaft an und empfiehlt den Chinesen Elterngeld oder Betriebsräte made in Germany – die Presse honoriert das unisono und lenkt des Lesers Aufmerksamkeit auf Begegnungen der folgenden Art, die sie für furchtbar interessant hält als Prüfstein deutscher Menschenrechtspolitik in China:

„Mit einem Mal rückt Angela Merkel nach vorne. Sie sitzt jetzt fast auf der Stuhlkante, aufrecht, als habe man sie eben geweckt. Die Sache scheint interessant zu werden. Eine Studentin hat gefragt, wie das so sei mit Familie und Beruf in Deutschland. Merkel referiert kurz über Elterngeld und Krippenplätze, sagt dann aber, wichtig für die Frauen sei doch vor allem, dass sich die Männer änderten. So, und jetzt wolle sie mal wissen, wie es darum eigentlich in China stehe. Sechs Männer sitzen um Merkel herum, die Leitung des deutsch-chinesischen Rechts-Instituts, und als diese die Übersetzung erreicht, schauen sie, als habe Merkel nach der Unabhängigkeit Taiwans gefragt. Ein Herr mit gelber Krawatte blickt gleich mal nervös auf die Uhr.
Zunächst antwortet ein junger Student und erzählt von anderen Traditionen. ‚So so‘, sagt die Kanzlerin. Sie fragt bei einer Studentin nach. Die meint, es entwickele sich da was. ‚Es entwickelt sich, aha‘, antwortet Merkel, ‚Naja, dann besteht ja noch Hoffnung‘, setzt sie trocken hinterher. Und dann entwickelt sich plötzlich wirklich etwas, denn eine Kommilitonin nimmt das Mikrophon, fasst sich ein Herz und ruft mit piepsiger Stimme, aber in exzellentem Deutsch: ‚Ich möchte an die Männer appellieren, dass sie mehr zu Hause und in der Familie machen.‘ Die Institutsleitung lächelt gequält. Merkel nickt nur und freut sich.“ (Nico Fried, SZ)

Niemand hält es für daneben oder wenigstens für ein bisschen überspannt, wenn die Kanzlerin einem Land wie China mit seinen 750 Millionen verelendeten Wanderarbeitern und Bauern die elaborierte deutsche Familienpolitik inklusive der Karrierechancen deutscher Mittelschichtsfrauen anempfiehlt. Im Gegenteil – Nico Fried und Co. zeigen sich ehrlich begeistert, dass sich da plötzlich etwas entwickelt in China durch Merkels Auftritte. Wahrscheinlich ist allen deutschen Beteiligten der arrogante Anspruch, der chinesischen Elite erklären zu müssen, wie man sein Volk richtig regiert, etwas zu Kopf gestiegen, so dass sie am Ende wirklich glauben, sie würden mit solchen Dialogen etwas bewegen im Reich der kleinen Schritte. Lächerlich ist es gleichwohl nicht. National meinungsbildend wirkt auf jeden Fall, dass man als Leser einem Stück werteorientierter deutscher Außenpolitik im Zusammenspiel von Politik und Presse beiwohnen darf: Merkel demonstriert der deutschen Öffentlichkeit, dass sie den urdeutschen Anspruch auf Einmischung in Chinas Politik geltend macht – die deutsche Öffentlichkeit sieht sich damit gut bedient und pflegt den Schein praktischer Wirksamkeit deutscher Menschenrechtspolitik in einfühlsamen Schilderungen.

Natürlich wollen wir an den Chinesen auch verdienen

Nicht nur Spiegel-Leser wissen heutzutage, dass die Bundeskanzlerin in China auch noch etwas andere Interessen zu vertreten hat:

„Die Manager in ihrem Tross, darunter die Chefs von MAN, Post und BASF, haben ihr schon auf dem Flug geflüstert, was sie in China wollen: ungestört Geschäfte machen.“ (Der Spiegel)

Das ist zwar keineswegs anrüchig, aber als politisch verantwortliche Journalisten wollen die Autoren vom Spiegel eine solche schlichte Interessensmeldung deutscher Manager nicht einfach so stehen lassen. Was die Wirtschaftskapitäne ihrer politischen Türöffnerin da antragen, bedarf schon einer gewissen Einordnung:

„Die 1,3 Milliarden Chinesen bilden einen so großen Markt, dass sich Aufstieg und Fall von Unternehmen künftig auch dort entscheiden werden. Und die Arbeitskräfte sind so billig, dass viele Firmen in China produzieren müssen, um wettbewerbsfähig zu sein.“

Journalistisch genau betrachtet bilden 1,3 Mrd. Chinesen also einen Markt. Spiegel-Redakteure finden offenbar nichts dabei, die praktische Unterordnung von 1,3 Milliarden Menschen mitsamt ihren Lebensumständen unter die globalen Geschäftsinteressen einfach in ihr Urteil zu übernehmen : Für sie ist ganz China eine einzige großartige Billiglohnsphäre, die mit Mann und Maus für die Bereicherung der internationalen Kapitalisten da zu sein hat. Und wenn China schon mal dafür da ist, muss deutsches Kapital die paradiesischen Ausbeutungsbedingungen in China natürlich auch in Beschlag nehmen; das gebietet den deutschen Konzernen schlicht der internationale Wettbewerb, die Globalisierung, der wir uns stellen müssen. Sonst immer wieder mal fällige Berichte über chinesische Armutsverhältnisse sind hier natürlich nicht angebracht, wo es um die Bedeutung Chinas für deutsches Geschäft geht, und da machen die Redakteure mit ihrem Sinn für die internationalen Realitäten dem Leser nichts vor, was in China mittlerweile an Macht und Reichtum zustande gekommen ist:

„Ein prosperierendes China ist eine Großmacht, die ein mittleres Land wie Deutschland klein aussehen lässt. Ohne China gibt es für Deutschland keinen Sitz im Sicherheitsrat. Ohne China ist der Klimawandel nicht zu stoppen, Merkels Herzensthema. Deutschland braucht China, aber braucht China auch Deutschland?“ (ebda.)

Das kleine Land Deutschland verdient soviel in China, dass wir unbedingt die Großmacht China brauchen – da droht natürlich die Gefahr, dass man von dieser Großmacht allzu abhängig wird. Also sorgen sich verantwortungsvolle deutsche Journalisten, wie es um die deutsche Erpressungsmacht gegenüber China bestellt ist, und siehe da: Merkel muss buhlen, und Merkel muss kritisieren, denn der Einsatz für Demokratie und Menschenrechte gehört zur Staatsräson der moralischen Großmacht Deutschland.(ebda.)

Dafür erlauben wir den Chinesen, moralisch an uns zu wachsen

Staatsmoralisch betrachtet, sind wir Deutschen im Vergleich mit denen in jedem Fall die Großmacht. Gegenüber so einem Regime, in dem der Mensch nichts zählt, haben wir geradezu die Pflicht, dessen moralische Defizite herauszustellen – Merkel muss kritisieren –, haben wir Deutschen doch neben unserem Kapital noch einen ganz anderen Exportschlager:

„Eines Tages werden die Chinesen womöglich auch den anderen Exportschlager der BRD, die Vergangenheitsbewältigung, importieren müssen. Denn bislang ist von den Millionen Hungertoten, die der Industrialisierungspolitik Maos zum Opfer fielen, nie in großem Stil gesprochen worden.“ (Die Welt)

Scheu vor Selbstgerechtigkeit kennen Deutschlands Presseorgane nicht. In ihrem Wahn, Deutschland erfülle mit der diplomatischen Anmeldung von Vorbehalten gegenüber China eine höhere Mission im Dienste der Menschheit, geraten sie über Merkels forschen Auftritt in Peking so sehr ins Schwärmen, dass sie gleich zwei Sachen für äußerst bemerkenswert finden: Merkel traktiert Chinas Funktionäre mit ihrer Kritik, und die werden darüber ganz locker und aufgeräumt:

„Sie hat etwas demonstriert,. Sie hat allen gezeigt, dass sie sich traut, den Finger in die Wunden zu legen. Und Wen hat gezeigt, dass ihn das nicht verstimmt.“ (Der Spiegel)
„Im Gegensatz zu Gerhard Schröder spart Angela Merkel in China nicht mit Kritik an der Menschenrechtslage oder der Umweltverschmutzung. Verärgert ist die Staatsführung in Peking deshalb nicht – weil die Kanzlerin ihre Gastgeber nicht nur als Handelspartner respektiert.“ (Die Welt)

Gleichgültig, warum Hu und Wen Merkels Unverschämtheiten so höflich über sich ergehen lassen – vielleicht war ihnen eine harmonische Besuchsatmosphäre einfach wichtiger: Spiegel, Welt und Co wissen es genau. Das war Merkels Leistung. So, wie die kritisiert, kommt das bei den Chinesen glatt als eine Art Vertrauensbeweis an. Denn selbstverständlich sind das kommunistische Menschenschinder. Aber wenn eine Könnerin wie Merkel von ihnen Läuterung verlangt, dann spüren sogar diese Schlitzaugen, dass wir ihnen damit nur die Chance eröffnen, selber moralische Größe zu beweisen:

„Ihr Amtsvorgänger Schröder machte auf seine männerbündlerische Weise zwar ein Angebot, das die chinesische Führung nur zu gern annahm: Vergessen wir das Gedöns (um die Menschenrechte, d.V.), kommen wir zum Geschäft. Aber letztlich bekamen sie dabei eine Seite von sich zu sehen, die nicht einmal KP-Chefs wirklich mögen. Merkel dagegen gesteht ihnen mit der Aufforderung, international die politische Verantwortung zu übernehmen, die dem wirtschaftlichen Gewicht der Chinesen entspricht, moralische Kompetenz zu. An so etwas kann man wachsen. Mit Schröder konnte man nur ins Geschäft kommen.“ (Die Welt)

So feiert die deutsche Presse ausgerechnet Merkels betont anmaßendes Auftreten als eine ganz besondere Respektsbezeugung gegenüber der chinesischen Führung, die sich derer natürlich erst noch würdig zu erweisen hat. In Angela Merkel hat die journalistische Elite die Führungsfigur gefunden, die alle deutschnationalen Besitzstände gegenüber China glaubwürdig vereint und verkörpert: Dass wir am chinesischen Menschen- und Naturmaterial ungestört verdienen wollen und Merkel dafür deutschen Managern die Türen öffnet, das ist eh klar. Dass man daneben aber auch die Pose der staatsmoralischen Überlegenheit, der gemäß wir dazu befugt sind, die Chinesen zum menschengemäßen Regieren zu erziehen, prima pflegen kann, das sieht Deutschlands Presse durch Merkels aktuelle Besuchsdiplomatie auf höchst zufriedenstellende Weise bestätigt.

Ab und zu müssen wir der „Werkbank der Welt“ aber auch gehörig auf die Finger schauen

Nicht immer aber reichen kleine undiplomatische Sticheleien. Manchmal, da sind sich politische und Meinungsführer wiederum ganz einig, müssen wir den Chinesen auch mal etwas deutlicher sagen, was sich auf der Welt gehört und was nicht – natürlich nur zu ihrem eigenen Besten:

„Vom bleihaltigen Spielzeug bis zu gefährlichen Reifen oder belasteten Nahrungsmitteln, von Dopingmitteln, die skrupellose Pharmakonzerne in alle Welt verkaufen, bis zum Produktklau. Die Liste an Vorwürfen wird täglich länger. Das zerstört nicht nur alles Ansehen von made in China, sondern den Ruf der Nation. Nicht einzelne schwarze Schafe stehen am Pranger, sondern China selbst. Die Werkbank der Welt wird, wenn sie nicht schnell gegensteuert, in eine schwere Krise stürzen.“ (Die Welt)

Dass deutsche und andere Manager China als ihre Werkbank genau so eingerichtet haben und benutzen, darf der geneigte Leser mal für einen Augenblick vergessen. Wenn sich diese Werkbank anschickt, sich mit ihren eigenen Konzernen auf angestammten deutschen Marktpositionen breitzumachen und deutschen Konzernen Geld und Märkte wegzunehmen, wenn also China an uns und auf unsere Kosten zu verdienen droht, dann entdecken wir im Reich der Mitte lauter Verstöße gegen die internationalen Spielregeln, die wir nicht hinnehmen können:

„‚Wir müssen alle Spielregeln einhalten‘, sagte Frau Merkel“ (FAZ)

– und zwar die Spielregeln auf dem Weltmarkt, die Deutschland z.B. in Gestalt seines famosen Urheber- und Patentrechts festgelegt hat und an denen sich alle aufstrebenden Konkurrenten auszurichten haben, damit z. B. der Nutzen aus deutscher Technologie für immer und ewig bei den deutschen Konzernen hängen bleibt und kapitalistisch verwertbare Erfindungen unser gutes deutsches geistiges Eigentum bleiben.

Als ideelle Schiedsrichter des Weltmarkts wissen deutsche Journalisten auch ganz genau, was China als aufstrebende Handelsmacht selbst braucht, also gefälligst zu tun und zu lassen hat:

„Die chinesische Regierung kann es sich bei ihrer weltpolitischen Bedeutung und Außenwirtschaft nicht mehr leisten, Anschuldigungen zu ignorieren oder als Ränke von Feinden abzutun. Sie muss schnell reagieren, den Sachverhalt aufklären, eigene Schuldige bestrafen und dazu mit dem Ausland zusammenarbeiten ... Pekings Führung muss dafür sorgen, dass die Aufklärung nicht immer aus dem Ausland kommt, sondern auch von chinesischen Journalisten geleistet wird.“ (Die Welt)

Das wär’s: Ein Volontariat für chinesische Journalisten bei den deutschen Hetzblättern!

Und wir müssen ihnen die Olympischen Spiele 2008 erklären – eine „Riesenchance“ für China, es uns recht zu machen

Für lächerlich oder überspannt scheinen jedenfalls weder die Kanzlerin noch ihre öffentlichen Sprachrohre die Pose des Gönners und Ratgebers der Großmacht China zu halten. Sie sind auch noch so frei, den Chinesen die Olympischen Spiele zu erklären und worauf sie da zu schauen haben:

„Die Bundeskanzlerin erinnerte zum Auftakt ihrer dreitägigen China-Reise daran, dass die Welt bei den Olympischen Spielen im kommenden Jahr besonders auf das Land schauen werde.“
“‘Die Olympischen Spiele sind eine Riesenchance‘, sagt ihnen (den Mitgliedern der Akademie der Sozialwissenschaften in Peking; d.V.) Frau Merkel. ‚Da wird geschaut werden: Wie präsentiert sich China in der Meinungs- und Pressefreiheit.‘“ (FAZ)

Dass internationale Sportveranstaltungen das Instrument der Selbstdarstellung von Nationen sind, die sich dem Rest der Welt möglichst großartig und einmalig präsentieren wollen, davon gehen nicht nur die deutschen Macher, sondern auch die Kommentatoren aus. Schließlich war nach ihrer eigenen unbescheidenen Einschätzung 2006 die Welt zu Gast bei Freunden, wo wir Deutschen eine mustergültige Vorstellung in Sachen nationaler Angeberei vor den Völkern der Welt hingelegt haben. Da kann man sich schon berufen fühlen, den Chinesen mit gutem Rat zur Seite zu stehen. Wenn nächstes Jahr also China mit den Olympischen Spielen dran ist, steht für die deutsche Politik und Presse jetzt schon fest, dass sie über Erfolg und Misserfolg dieser Riesenchance entscheiden und den Chinesen vorgeben, wie und wofür das Land nächstes Jahr die Olympiade ausrichten darf: China kann uns beweisen, wie es im Umgang mit umzusiedelnden Pekinger Bürgern, der Pressefreiheit, dem Doping usw. unsere Maßstäbe an Recht und Ordnung erfüllt. Im Klartext: Das völkerverbindende Schauspiel ist eine einzige Gelegenheit für Deutschland und andere machtvolle Staaten – für die ‚Welt‘ eben –, China weltöffentlich mit Forderungen nach ‚gutem Regieren‘ zu nerven.

Schließlich müssen wir den Chinesen ihren Platz in der Welt zuweisen: China soll „internationale Verantwortung“ übernehmen

„Angela Merkel hatte zwei Botschaften für die Chinesen: Die eine war demütig und lautete ‚Respekt‘. Die zweite war fordernd und hieß ‚Verantwortung‘ ... Respekt für China heißt für Merkel deshalb zunächst zu begreifen, was die Chinesen umtreibt: ein rasendes Wachstum, Kluft zwischen Arm und Reich, Korruption, Misswirtschaft, riesige Umweltprobleme usw. Merkels Respekt ist der des Verstehens, nicht der des Verständnisses ... Der höhere Zweck der ausgiebigen Respektsbezeugungen Merkels aber liegt in Teil zwei: Verantwortung ... Sie hat sich vorgenommen, die Chinesen in die internationale Verantwortung zu drängen. ‚Die Entwicklung von China verändert die Welt. China muss internationale Verantwortung übernehmen‘, sagt sie Ministerpräsident Wen ... Verantwortung. Was so selbstverständlich klingt, ist für die Chinesen eine unerwünschte Nebenwirkung ihrer Öffnung und ihres wirtschaftlichen Aufstiegs. Sie wollen ihr Land reformieren und sich dabei so in der Welt bedienen, wie es ihnen nützt.“ (Die Zeit)

Dass Staatsmänner sich Respekt bezeugen, weil sie sich wechselseitig dienstbar machen und die jeweils andere Staatsführung auf ihre Interessen verpflichten wollen: diese Usancen diplomatischer Heuchelei durchschauen gebildete Journalisten selbstverständlich, wenn ihnen danach ist. Im vorliegenden Fall ist ihnen ganz besonders danach, weil sie fast vom Hocker fallen ob des Geschicks, mit dem Frau Kanzlerin China als globalen Problemfall und Deutschland als befugten Aufseher und Kontrolleur des Problems ins rechte Licht rückt. Rücksichtslose Durchsetzung nationaler Interessen entdeckt und entlarvt man als deutscher Journalist anderswo, hier eben aus gegebenem Anlass in China: Das „bedient“ sich in der Welt so, wie es ihm nützt. Deutschland dagegen nimmt nur das Recht und die Pflicht wahr, das Riesenland an seine Verantwortung gegenüber der Welt zu erinnern. Die Kanzlerin gibt den Ton vor, und die Journalisten breiten vom rasenden Wachstums bis hin zu den Umweltproblemen aus, was China uns schuldig ist. Die Floskel Verantwortung, mit der deutsche Weltpolitiker vor der UNO und ihre journalistischen Dolmetscher zu Hause für ihre Nation gerne mehr Freiheiten und Zuständigkeiten beantragen, bedeutet im Falle Chinas: Es muss sich Schranken des Wachstums (das bei uns natürlich nie zu hoch ausfallen kann) auferlegen und z. B. die deutschen Vorgaben für Klima- und Umweltschutz als Rahmenbedingungen akzeptieren. Von daher ist es dann schon wieder sehr großzügig von uns, wenn wir den Chinesen und anderen Schwellenländern eine für sie günstigere Pro-Kopf-Emission klimaschädlicher Gase zubilligen.