Leserbrief
Hartz IV: „Der Staat muss Löhne wollen, von denen die Arbeiter leben können.“

„Der Hartz-IV-Artikel im Gegenstandpunkt (2-10, SS 5-10) enthält eine Übertreibung... “

Du wirfst uns Übertreibung vor – und steigst selbst mit Übertreibungen ein: In dem Artikel steht nicht geschrieben, dass die Arbeitslosen kein Problem mehr für die Sozialpolitik seien; und die These, dass eine Neuauflage des Kombilohns die Ideallösung sei, die der Staat endlich gefunden habe, liest du in den Artikel hinein, um sie zu verwerfen; es steht nicht da...

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Hartz IV: „Der Staat muss Löhne wollen, von denen die Arbeiter leben können.“

Liebe Genossen,

der Hartz-IV-Artikel im Gegenstandpunkt (2-10, SS 5-10) enthält eine Übertreibung. So heißt es dort:

„Sie verabschieden den Arbeitslosen als entscheidende Problemfigur der Arbeitsmarktpolitik und die Vermittlung in Arbeit als deren große Aufgabe; an ihrer Stelle küren sie den „Aufstocker“ zum Sorgeobjekt und zur neuen Leitfigur.“

Der Gegensatz ist konstruiert, weil die Regierung mit dem Aufstocker keineswegs ihre Ideallösung gefunden hat und insofern bleibt der Arbeitslose eine Problemfigur. Denn auch mit der Einrichtung des Niedriglohnsektors ist sie den Gegensatz, der in der Lohnarbeit eingeschlossen ist, nicht los. Als Geschäftsmittel ist er immer zu teuer, als Lebensmittel zum Erhalt der Klasse soll er nach wie vor taugen. Insofern sollen Arbeiter auch heutzutage noch von ihrem Lohn leben können. Auf den Aufstocker sind die Regierungen doch gekommen, um die Kosten für die Arbeitslosen zu senken. Durch Annahme von jeder Arbeit sollen sie einen Beitrag leisten, zu ihrem eigenen Unterhalt, den sie zugestandenermaßen sich gar nicht verdienen können. Insofern ist der Arbeitslose, der trotz Arbeitslosigkeit seinen Lebensunterhalt selber verdient, das Ideal der Politik.

Damit hat die Politik den Unternehmen ein einziges Angebot unterbreitet, den Lohn unter jeglichen Preis für die Arbeit, von der man leben kann, zu drücken. Das haben die auch genutzt, aber so war es von der Politik nicht gemeint. Denn zum flächendeckenden Subventionierer von Löhnen will der Staat nicht werden, wie der Schluss des Artikels nahe legt:

„Und für den Staat selbst, der den nationalen Preis der Arbeit senkt und eine entscheidende Standortqualität und Wachstumsbedingung stärkt. Dafür will die Arbeitsministerin auch in Krisenzeiten Geld in die Hand nehmen: Das Wachstum des Niedriglohnsektors voranzutreiben, ist kein Sparprogramm. Es kostet Geld, das sich ein Staat leisten können muss. Geld, das allerdings auch gut angelegt ist – für eine Standortwaffe im internationalen Vergleich der Arbeitslöhne.“

Deshalb arbeiten sich die Regierenden daran ab, wie sie Missbrauch vom Gebrauch der neuen Regeln unterscheiden können. Dazu gibt es Zitate im Artikel, die aber noch nicht erkennen lassen, wie die neue Regelung aussehen wird. Es ist ja schon einiges in die Diskussion und wieder verworfen worden.

Dass der Staat nach wie vor daran festhält, dass Arbeiter von ihren Löhnen leben können sollen, wenn auch auf niedrigerem Niveau, ist an den Mindestlöhnen abzulesen, die mit der schwarz-gelben Koalition nicht verschwunden, sondern ausgeweitet wurden. Das Thema taucht bezeichnenderweise in dem Artikel nicht auf, obwohl die Mindestlöhne zum staatlichen Umgang mit seinem neuen Lohnniveau gehören. Auch arbeitet Frau von der Leyen an einem Gesetzentwurf bezüglich des „Missbrauchs von Leiharbeit“ anlässlich der Schlecker-Aktion. Insofern ist es auch nicht richtig, dass sich der Staat den Sprüchen eines Arbeitgebervertreters anschließt und Müntefering obsolet wäre. Drücken diese Positionen doch nur die beiden Seiten des oben skizzierten Widerspruchs aus.

Antwort der Redaktion:

Du wirfst uns Übertreibung vor – und steigst selbst mit Übertreibungen ein: In dem Artikel steht nicht geschrieben, dass die Arbeitslosen kein Problem mehr für die Sozialpolitik seien; und die These, dass eine Neuauflage des Kombilohns die Ideallösung sei, die der Staat endlich gefunden habe, liest du in den Artikel hinein, um sie zu verwerfen; es steht nicht da.

Wir haben lediglich der Debatte zum fünften Jahrestag der Verabschiedung des Hartz-IV-Gesetzes einen neuen Reformwillen der Regierung entnommen. Arbeitsmarktpolitiker der Koalition finden die Zuverdienst-Regelungen für ALG-II-Empfänger zu restriktiv, geeignet, die Aufnahme von Arbeit über Minijobs hinaus zu behindern. Sie fordern, das zur Grundsicherung hinzuverdiente Einkommen nicht mehr progressiv mit der Arbeitslosen-Unterstützung zu verrechnen, sie also nicht mehr mit der Höhe des Zuverdienstes immer stärker zu kürzen, sondern degressiv: Leistungsempfänger sollen angereizt werden, mehr Arbeit bis hin zu Vollzeitstellen anzunehmen, indem sie nicht gleich im Maß ihres Verdienstes die staatliche Unterstützung entzogen bekommen; sie sollen sich durch Arbeit besser stellen können als ohne. Arbeitsministerin von der Leyen spricht ausdrücklich von einem Perspektivenwechsel, den die Arbeitsmarktpolitik vornimmt und von ihren Klienten verlangt.

Wir haben daraus gefolgert, dass der Regierung gerade der Erfolg von Schröders abschreckender Sozialreform neue Berechnungen nahelegt. Der hat den heute gewaltigen Niedriglohnsektor auf den Weg gebracht, indem er die Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der Sozialhilfe absenkte und so die Langzeitarbeitslosen zwang, jedwede Arbeit anzunehmen, ohne Rücksicht, ob sie vom dafür gezahlten Lohn auch leben können. Ein paar Jahre später erscheint Arbeitsmarktpolitikern die in Schröders Gesetzen gemachte Unterscheidung in Arbeitslose, die unterstützt werden und höchstens ein paar Euro dazuverdienen, und „Arbeitsplatzbesitzer“, die ihren Lebensunterhalt verdienen und keine Stütze brauchen, von beiden Seiten her unrealistisch und sogar schädlich für die Schaffung und Besetzung neuer Jobs. Die Fachleute gehen inzwischen davon aus, dass einerseits ein Großteil der Empfänger von Grundsicherung offiziell oder schwarz irgendwie Geld verdient – sie wissen eben, dass man von den 350.- Euro plus Wohngeld nicht leben kann, dass andererseits aber jede Menge Leute bis hin zu Vollzeit arbeiten und Lohn verdienen und dennoch nicht oder kaum über das Niveau der staatlichen Grundsicherung hinauskommen. Im Niedriglohnbereich ist der Unterschied zwischen dem Arbeitslosen und dem beschäftigten Arbeitnehmer in Auflösung begriffen. Die neue Lage erzeugt Bedarf für neue Regelungen.

Aber das steht ja im Artikel. Lies die Zitate, denen wir das entnommen haben; der Einspruch nämlich, den du erhebst, kümmert sich nicht um diesen Stoff. Getrennt davon erinnerst du an ein Prinzip des Sozialstaates, in dessen Licht nicht sein kann, was nach Auskunft der Zitate kaum zu bestreiten ist: Der Staat, so dein Einwand, wolle Löhne, von denen die Beschäftigten leben können; Arbeitsplätze, die ihren Mann nicht ernähren und deren Entgelt er bis zu dem von ihm definierten Existenzminimum aufstocken muss, könne er nicht wollen. Wenn er es aber doch gerade tut?!

Wie kommst du auf einen Satz wie diesen? Denn auch mit der Einrichtung des Niedriglohnsektors ist sie (die Regierung) den Gegensatz, der in der Lohnarbeit eingeschlossen ist, nicht los. Als Geschäftsmittel ist er immer zu teuer, als Lebensmittel zum Erhalt der Klasse soll er nach wie vor taugen. Insofern sollen Arbeiter auch heutzutage noch von ihrem Lohn leben können. Wer hat denn behauptet, dass die Regierung den Gegensatz loswerden würde oder dass sie das auch nur wollte? Sie organisiert ihn – von Anfang an und mit jedem kleinen Schritt; sie berücksichtigt dabei immer beide Seiten des Gegensatzes und erzwingt die Kompromisse zwischen ihnen, die sie nötig und zweckmäßig findet. Als Schutzherr und Organisator seiner wirtschaftlichen Basis zwingt der Staat dem Volk mit dem Arbeitslohn ein Lebensmittel auf, das nicht dafür geschaffen ist, davon zu leben. Er will den Dienst der Arbeiterklasse am Kapital, will Wachstum und dafür nützliche, rentable Löhne. Dann erst stellt er sich den Wirkungen der Rolle, die er dieser Klasse zuweist, und teilt ihr mit Gesetzen und Sozialkassen den Lohn so ein, organisiert ihn zwangsweise so hin, dass er doch irgendwie als Lebensmittel der Klasse funktioniert. Wo die Politik auf die soziale Funktion des Lohnes achtet, tut sie das nie ohne Rücksicht auf die ökonomische: Das Lebensmittel der Lohnarbeiter muss erst einmal verdient werden. Massenarbeitslosigkeit beweist die kapitalistische Unbrauchbarkeit des entsprechenden Volksteils: Er ist zu teuer für lohnende Anstellung und wird so zur teuren Last für den Staat. Der befreit sich von dieser Last und macht Arbeitslose wieder ein Stück weit ökonomisch nützlich, wenn er sie zwingt, für weniger und auch für ganz wenig Geld zu arbeiten. Die Brauchbarkeit für kapitalistische Rendite entscheidet über die ‚korrekte‘ Höhe des Lohns, nicht ein irgendwie vorgegebener Lebensstandard. Dieses Prinzip verkehrt die Regierung nicht ins Gegenteil, wenn sie sich mit Arbeits- und Lohngesetzen, Nachhilfen und einer Grundsicherung ums Überleben der Arbeiterklasse kümmert. Sie sorgt nicht gegen das Kapital für einen Lohn, von dem sich leben lässt, sondern definiert mit Bezug auf die Verwendung, die das Kapital vom Arbeitsvolk macht, und auf die Löhne, die sich für es lohnen, wie viel Geld zum Leben reichen muss.

Du beschwörst den Widerspruch des Staatsinteresses am Lohn – und denkst ihn doch nicht durch; du verselbständigst seine beiden Seiten gegeneinander, als ob es eine gute und eine schlechte Seite dieses Widerspruchs gäbe, und sie von verschiedenen Instanzen vertreten würden: Es ist aber nicht so, dass das Kapital den Lohn drückt, der Staat ihn dagegen als Lebensmittel verteidigt. Im Fall der vorerst nur skizzenhaften Reform des ALG-II-Gesetzes wendest du die, deiner Meinung nach von uns vernachlässigte, Seite des Widerspruchs gegen die Weise, wie er in diesem Projekt existiert. Die Regierung steht aber nicht vor der Wahl, ob sie Jobs haben will, von denen die Leute leben können, oder lieber andere, von denen sie nicht leben können. Sie agiert in dem Widerspruch, dass das Kapital als Lebensgrundlage der Nation und auch der Arbeiterschaft um so besser taugt, je mehr es wächst und Jobs schafft, und dass es das um so besser leistet, je weniger ihm abverlangt wird, Löhne zu zahlen, die auch nur ein bescheidenes Leben finanzieren. Mit Billig-Löhnen, so die Rechnung, kann mehr Sozialprodukt geschaffen und von der Arbeiterklasse insgesamt mehr verdient werden, als wenn der Staat auf der Alternative: „ordentlicher Lohn oder Arbeitslosigkeit“ beharren würde. Diesen Fortschritt, der als „gewachsene Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft“ und „günstige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt“ gefeiert und für die bisher gelungene deutsche Krisenbewältigung mit verantwortlich gemacht wird, will die Regierung nicht bremsen oder rückgängig machen; sie will ihn haltbar, dauerhaft und normal machen, indem sie die Existenzbedingungen im Bereich nicht existenz-sichernder Löhne reguliert.

Der Mindestlohn, der im kritisierten Artikel nicht „bezeichnenderweise“, sondern zu Recht unterschlagen wird, weil es um ein anderes Thema geht, taugt nicht, wofür du ihn anführst: als Beweis nämlich, dass der Staat doch bestrebt sein müsse, für einen Lohn zu sorgen, von dem der Arbeiter leben kann. Zunächst – das ist die Schwäche des Argumentierens mit Gegenbeispielen – wäre ein anderer Fall, bei dem eine Regierung in ihrem Widerspruch die Gewichte anders setzt, noch lange kein Beweis dagegen, dass sie sie in dem einen Fall eben so setzt. Aber das liegt beim Mindestlohn gar nicht vor: Auch hier steht nicht auf der einen Seite das Kapital mit seiner Tendenz, den Lohn immer weiter herunterzudrücken, und auf der anderen Seite die staatliche Sorge um den Lohn als Lebensmittel. Erstens ist schon der Bedarf nach einer Untergrenze des Lohnverfalls das Ergebnis des politisch gewollten, durch entsprechende Gesetzgebung ausgelösten Absturzes der Löhne. Selbstverständlich nutzen Unternehmer entsprechende Freiheiten, die vom Gesetzgeber eben auch so gemeint sind. Zweitens wird die Regierung, wenn sie um die Verordnung einer Mindestentlohnung angegangen wird, sehr zögerlich: Erforderlich wäre so etwas schon, weil die Leistung der Wirtschaft für den Lebensunterhalt des Volkes im unteren Bereich des Arbeitsmarktes offenbar nur durch Zwang zu sichern ist. Gefährdet ein Mindestlohn dann aber irgendwelche dieser ganz miesen Arbeitsplätze, drohen Unternehmer durch Vorschriften beim Bezahlen die Lust am Ausbeuten zu verlieren, dann ist die gute Sache kontraproduktiv und wird abgelehnt. Wo sie doch eingeführt wird, geschieht es zumeist mit der Zielsetzung, die Beschäftigung noch billigerer Arbeitskräfte aus dem Ausland für Unternehmen unattraktiv zu machen und diese Konkurrenten vom deutschen Arbeitsmarkt fernzuhalten; und nicht, um Arbeitskräften einen existenz-sichernden Lohn zu verschaffen. Deswegen führt der Mindestlohn, wo es ihn gibt, spätestens wenn der Arbeitnehmer Kinder zu ernähren hat – die Frau muss sowieso selbst arbeiten –, dazu, dass das Einkommen der Familie unter dem Niveau der Grundsicherung landet und sie zu genau so einem Fall von Aufstocker wird, gegen den die Mindestlohn-Politik ein Gegenbeispiel hat sein sollen.