Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Fall Litwinenko
Deutsche Journalisten ermitteln gegen den Kreml

Nach einem Abendessen mit zwei Ex-Kollegen aus dem Geheimdienstmilieu stirbt in London ein ehemaliger Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes an einer Vergiftung durch die radioaktive Substanz Polonium. Bei Beresowski in Ungnade gefallen, soll sich Litwinenko die letzte Zeit mit nicht ganz ungefährlichen Erpressungsgeschäften über Wasser gehalten haben, die Rede ist auch von Waffen-, Drogen- und Menschenhandel – und dieselben Medien, die das alles kolportieren, weisen das Giftopfer die ganze Zeit ungerührt als „Kreml-Kritiker“ aus.

Aus der Zeitschrift

Der Fall Litwinenko
Deutsche Journalisten ermitteln gegen den Kreml

Nach einem Abendessen mit zwei Ex-Kollegen aus dem Geheimdienstmilieu stirbt in London ein ehemaliger Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes an einer Vergiftung durch die radioaktive Substanz Polonium. Was man die Tage darauf aus den hiesigen Medien so erfährt, ist unter anderem, dass der Mann, nachdem er sich mit seiner Behörde und deren Auftraggeber überworfen hat, die Seiten gewechselt hat und als ziemlich durchgeknallter Verschwörungstheoretiker mit einschlägigen Enthüllungen in Erscheinung getreten ist. Bis neulich soll er der Mannschaft eines gewissen Beresowski angehört haben, einem russischen Milliardär mit Ansprüchen auf die Macht in Russland; ansässig derzeit in London, weil die englische Regierung ein besonders großes Herz für alle Kräfte hat, die sich gegen Putin aufstellen; darunter nebenbei bemerkt auch Vertreter der Sorte ‚Opposition‘ aus Tschetschenien, die in Russland wegen Terrorismus gesucht werden. Bei Beresowski in Ungnade gefallen, soll sich Litwinenko die letzte Zeit mit nicht ganz ungefährlichen Erpressungsgeschäften über Wasser gehalten haben, die Rede ist auch von Waffen-, Drogen- und Menschenhandel – und dieselben Medien, die das alles kolportieren, weisen das Giftopfer die ganze Zeit ungerührt als Kreml-Kritiker aus.

Das hat den Vorteil, dass damit die anstehende kriminalistische Ermittlung, an der Spiegel, Süddeutsche Zeitung, FAZ und Konsorten ihr Publikum zum Zwecke der politischen Meinungsbildung und Unterhaltung regen Anteil nehmen lassen wollen, schon mal auf der richtigen Fährte ist. Ein dringender Tatverdacht fällt – man braucht nur die Frage nach dem ‚cui bono?‘ nachzuschieben – wie von selbst auf den Kreml-Chef, sein nächstes Umfeld bzw. auf gewisse ominöse Kreise, die hinter ihm stehen sollen. Wer sonst außer dem Kreml könnte ein Interesse an der Ermordung eines Kreml-Kritikers haben?! Es finden sich auch gleich Zeugen, die diesen Verdacht bestätigen. Als erstes das Mordopfer selber, das kurz vor seinem Ableben noch gesagt haben soll: Es ist ganz eindeutig: Sie arbeiten eine Liste ab. Der Staat hat sich zu einem Serienkiller entwickelt. Ein Freund des Ermordeten wird zitiert, der zwar bezweifelt, dass Putin die Vergiftung persönlich angeordnet hat, dafür aber bestimmte Elemente unter seinen Verbündeten verdächtigt, die er, Putin, nicht fähig oder willens sei, an die Leine zu nehmen. Glaubwürdige Zeugen sind darüberhinaus sonstige Insider aus der sogenannten Dissidentenszene, Separatisten und andere NGOs, die den russischen Staat oder seine heutige Führung bis aufs Messer bekämpfen. Deren regierungsunabhängige Einschätzung und Meinung ist für unsere naturgemäß kritischen Journalisten, die staatsoffiziellen Stellungnahmen, wenn sie aus Russland kommen, grundsätzlich mit äußerstem Misstrauen begegnen, natürlich besonders interessant. Überparteilich und unvoreingenommen, wie sie ihre Berichterstattung zu gestalten pflegen, ermitteln sie selbstverständlich nach allen Seiten; sie erwägen z.B. auch, dass jemand aus dem Umfeld von Beresowski die Tat inszeniert haben könnte, um Putin zu schaden; dass Litwinenko einem gewöhnlichen Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte oder er sich durch unsachgemäßen Umgang mit der hochbrisanten Materie aus Versehen selber vergiftet haben könnte... Aber ein Zweifel, wenn nicht der Verdacht bleibt. Und das ist die Hauptsache. Er rechtfertigt auf jeden Fall schon mal, den Mordfall unter dem Spiegel-Titel: Todesurteil aus Moskau abzuhandeln – ohne Fragezeichen. Was den dort residierenden Präsidenten der russischen Föderation oder Angehörige des ihm unterstellten Apparats zu einem solchen Mordbefehl bewogen haben könnten, ist natürlich keine Frage, sondern liegt auf der Hand – die Berufsbezeichnung des Opfers verweist ja nicht nur in eindeutiger Weise auf den Kreis der nächsten Tatverdächtigen, sondern liefert auch gleich noch deren Motiv fertig mit; mit ihr wird überhaupt der ganze Tatbestand konstruiert, über den man sich seine freie Meinung machen soll: Man wollte in Moskau, was denn sonst, einen Kritiker aus dem Weg räumen; der muss – offenkundig, sonst wäre er ja nicht aus dem Weg geräumt worden! – für die russische Führung mindestens so etwas wie der Staatsfeind Nr. 1 gewesen sein. Was natürlich alles ein Licht auf das Regime wirft, das so etwas erstens nötig hat und sich zweitens mit solchen Methoden an der Macht hält.

Von russischer Seite unternommene Versuche, den Profis der hiesigen Öffentlichkeit – wie zuvor schon im Fall Politkowskaja – klarzumachen, dass sie mit ihrer cui-bono-Logik schief liegen, weil die russische Führung die Sorgen gar nicht hat, die sie ihr unterstellen, werden konsequent gegen den Strich gelesen:

„Dass Putin versuchte, die Bedeutung Anna Politkowskajas zu schmälern, indem er sie als ‚unbedeutende Person mit wenig Einfluss auf die russische Gesellschaft‘ bezeichnete, zeigt freilich eine besondere Art von zynischer Verachtung.“

Wenn Putin das, was die hiesige Öffentlichkeit bei der Konstruktion eines Motivs unterstellt, für abwegig erklärt – dass die ermordete Journalistin für ihn und seine Regierung zum gefährlichen Gegner geworden war –, dann beweist das seine menschenverachtende Gesinnung. Dasselbe Spielchen treiben sie im Fall des vergifteten „Kreml-Kritikers“:

„Ein Vertreter des russischen Geheimdienstes FSB ließ sich dieser Tage mit der Bemerkung vernehmen, Litwinenko sei keine Person, deretwegen man die Beziehungen zu einem anderen Land riskiere. Das heißt aber, dass es durchaus Personen gibt, deretwegen der FSB auch Beziehungen aufs Spiel zu setzen bereit wäre. Und deshalb ist es natürlich möglich, dass staatliche Stellen Russlands beim Tod Litwinenkos ihre Hand im Spiel hatten.“

Sie verdrehen den russischen Stellen einfach so lange das Wort im Mund, bis aus dem, was sie mitteilen, nur noch herauszuhören ist, dass sie „natürlich“ hinter diesem Mord stecken können.

Was man am Fall Litwinenko sieht – den menschenverachtenden Charakter des Putin-Regimes – sieht man noch viel klarer, wenn man ihn unter Anleitung hiesiger Kommentatoren gleich entsprechend einordnet; ihn also in Kenntnis der in Putins Russland üblichen Herrschaftspraktiken würdigt, über die diese Kommentatoren selbstverständlich bestens im Bilde sind; schließlich ist das nicht der erste Fall, dem sie nichts anderes entnehmen als ihre Einschätzung, dass der russischen Obrigkeit alles zuzutrauen ist:

„Der Tod Litwinenkos weckt Erinnerungen (bei wem?) an eine ganze Reihe von Giftanschlägen, die allesamt mit dem russischen Geheimdienst in Verbindung gebracht werden (von wem?).“

Die Vertreter der meinungsbildenden Zunft können es einfach nicht lassen, die Weise, in der sie die Sachverhalte parteilich manipulieren, als unpersönliche neutrale Wahrnehmung der Dinge zu schildern. In dem Fall assoziieren sie z.B. ziemlich wüst eine „ganze Reihe“ zusammen, bestehend aus einer verkrachten Existenz aus Geheimdienstkreisen, einer Journalistin, einem tschetschenische Sicherheitschef, dem Vizechef der russischen Zentralbank, einem Abgeordneten usw. – aber das Ergebnis ihrer Assoziationskünste kann sich sehen lassen: Aus dem Fall Litwinenko wird so der Höhepunkt einer Mordserie, deren Auftraggeber vor allem Furcht verbreiten. Und ist erst einmal erfolgreich insinuiert, dass die Sache höchstwahrscheinlich System hat, lässt sich daran verschwörungstheoretisch wunderbar fortspinnen: Wenn sie System hat, darf man getrost davon ausgehen, dass hinter all diesen Morden immer dieselben Auftraggeber stehen. Und wer mag das sein? Und was mögen sie bezwecken?

Da wir über keinerlei Informationen verfügen, können wir über die Identität und die Agenda derjenigen nur spekulieren, die die Tötung in London in Auftrag gegeben haben, meint Garri Kasparow, früherer Schachweltmeister und heutiger Oppositionsführer, in der Süddeutschen Zeitung. Also warten wir gar nicht erst auf irgendwelche Informationen, sondern spekulieren munter darauf los; und zwar nach dem Motto: In unser Bild vom heutigen Russland würde sich ungefähr folgendes passgenau einfügen:

„Die Bluttaten tragen dazu bei, das Klima in Putins straff gelenktem Staat weiter zu vereisen.“
„Die Auftragsmorde und auch der Gifttod des früheren KGB-Mannes Litwinenko schaffen jedenfalls – in alter Geheimdiensttradition – ein Klima der Verwirrung und der Angst.“

Herrschaftskritik vom Feinsten.

Sire, geben sie Gedankenfreiheit! (Friedrich Schiller, Don Carlos)

Als genaues Abziehbild des wahnhaft überhöhten Selbstbildnisses, das sie von sich und ihrem Gewerbe haben, phantasieren demokratische Journalisten ein Szenario zusammen, in dem Geheimdienste, welche notorisch das Licht der Öffentlichkeit scheuen, mit ihrem Terror für ein Klima der Einschüchterung sorgen. Was diese Mächte mit ihrer Schreckensherrschaft bezwecken, ist natürlich schon wieder keine Frage: Sie wollen Land und Leute unterdrücken; und für das Gewerbe des Unterdrückens kennen sie wiederum nur ein sinnvolles Objekt: die Meinungsfreiheit. Aufklärung und Wahrheit sollen in Russland keine Chance haben. Verhältnisse, so wie bei uns, wo bekanntlich eine freie Presse und unabhängig meinende Journalisten die Regierung jederzeit kritisch in die Schranken weisen, die Mächtigen das Fürchten lehren, ihre Lügen entlarven und die Regierten zum eigenständigen Denken anhalten, sind diesen finsteren Mächten nämlich ein Grauen. Und hinter all dem steht, mindestens als Nutznießer, wenn nicht als der eigentliche Auftraggeber, Putin, der als Ex-KGB-Mann in der Sowjetunion gelernt hat, dass sein „straff gelenkter Staat“ nur auf der Grundlage so eines vergifteten Klimas funktionieren kann. Ein krudes Bild zeichnen diese Presseleute von den politischen Verhältnissen in Russland. Dort scheint sich alles um die Frage zu drehen, wie es um die Anerkennung ihres ehrenwerten Standes steht. Im Zentrum des Geschehens stehen die Vertreter regierungskritischer Meinungen. Daneben gibt es noch Geheimdienste, die dagegen ihr Unwesen treiben, sowie eine Regierung, die sich fragen lassen muss, wie ernst sie es mit der Demokratie meint – und das war’s dann im Wesentlichen. Mutig schleudern sie der russischen Führung ihr eigenes Credo entgegen:

„Während die Demokratie nach Aufklärung verlangt und die Wahrheit erträgt, scheuen die russischen Scheindemokraten die Transparenz.“

Auf ihre Weise haben die Öffentlichkeitsarbeiter aus deutschen Landen an Russland einen Narren gefressen. Sie haben Russland als das passende Objekt auserkoren, an dem sie sich als die zur Kontrolle der Herrschenden berufene Instanz machtvoll in Szene setzen können. Aufs Ausland zu schimpfen, ist sowieso schon mal die bequemste Variante von Herrschaftskritik, weil die Kritiker da bloß den Standpunkt der eigenen Herrschaft zu betätigen brauchen. Und um Russland Demokratie-Defizite vorzuhalten, müssen sie bloß den imperialistischen Geist mitbekommen, in dem sich ihre Nation zum Richter über die Herrschaftssitten in der Welt aufschwingt. Gegenüber einer Staatsmacht, gegen die es von Seiten der westlichen Staatenwelt politische Vorbehalte gibt, können sie mit ihrem respektlosen Auftreten grundsätzlich nichts verkehrt machen. Ihr Feindbild funktioniert so, ganz ohne Sowjetunion und real existierenden Sozialismus, problemlos weiter bzw. ist bei Bedarf sofort wieder zur Stelle: Offenbar brauchen sie diesen Kontrast, um sich machtvoll als Vierte Gewalt zu profilieren, welche die Herrschenden kontrolliert. Vor allem die bösen im Ausland. Da sind sie in ihrem Element!

Wenn Kreml-Chef Putin nicht, wie von ihnen gefordert, unverzüglich zur Aufdeckung der Umtriebe beiträgt, die sie hinter seiner Regentschaft vermuten, braucht er sich nicht zu wundern, wenn sie ihm die übelsten Machenschaften unterstellen:

„Weil Putin dies aber nicht tut, wächst der Verdacht, er habe etwas zu verbergen, als schütze er diese Milieus.“

Sichtlich genießen da Leute ihre Macht, den Mächtigen der Welt bei Nichtgefallen ihrer Machtausübung stellvertretend für ihr Publikum daheim oder gleich auch noch für deren Völker das Vertrauen zu entziehen – oder es ihnen für nach ihren Maßstäben gelungene Machtausübung ebenso stellvertretend zu schenken. Nichts schöner für sie, als aus dieser überaus verantwortungsvollen Position heraus einem russischen Präsidenten gegenüber dann auch einmal demonstrativ die Spendierhosen anzuziehen und ihm mit Ratschlägen zu kommen, wie er ihr Vertrauen gewinnen könnte:

„Es ist (hoffentlich) unvorstellbar, dass ... Putin ... einen solchen Mordbefehl gegeben haben sollte. Er sollte aber darüber nachdenken, warum so viele seinem Staatsapparat diese und andere Taten zutrauen.“
„Warum lässt er es zu, dass nicht nur in seinem Land, sondern in der ganzen Welt die Verschwörungstheorien wuchern?“

Wenn sie ihm gnädigerweise nicht gleich unterstellen, dass er selber mit dem Giftfläschchen unterwegs war (was sie könnten!), dann ist er ihnen aber auch ein bißchen Entgegenkommen schuldig. Statt weiter auf den westlichen Medien herumzuhacken, könnte er ja endlich einmal zugeben, dass es an ihm liegt, wenn sie gegen ihn und seinen Staatsapparat alle möglichen Verschwörungstheorien in die Zirkulation werfen, und sich mit seinem Imageproblem vertrauensvoll an sie wenden. Sie wüssten schon, was ihm gut zu Gesicht stünde. Stefan Kornelius von der Süddeutschen Zeitung lässt seine Leser gerne an seinen Machtphantasien teilhaben:

„Was also sollte man erwarten dürfen von der Regierung des Landes, von dem die Verunsicherung ausgeht? Was sollte man erwarten von Behörden, Politikern, pathetisch gesagt: den mehr oder weniger demokratischen Institutionen Russlands? Man sollte erwarten, dass sie aktiv werden, die Öffentlichkeit ansprechen, dass sie beruhigen, versprechen und aufklären. Aufklärung heißt das Zauberwort, Transparenz, Offenheit und vielleicht ein Stück Zerknirschung.“

Ja, wenn wir das noch erleben dürfen, dass sich der russische Präsident uns gegenüber zerknirscht zeigt, dann wäre für uns die Welt schon ein gutes Stück mehr in Ordnung!