Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Chronik des Corona-Wahljahres 2021
IV. Kanzlerinnenwahlverein ohne ‚Kanzlerbonus‘ sucht Ersatz

Die deutsche Kanzlerin stellt klar, dass eine gescheite Pandemiepolitik, die dem Willen des deutschen Volks gerecht wird, entscheidend von der flächendeckenden Verbindlichkeit ihres unangezweifelten Machtworts abhängt. Als Regierungschefin steht sie persönlich dafür ein, dass die Bundesregierung die sachkundige Bewältigung der Corona-Krise voll im Griff hat. Im demokratischen Regelfall wäre das vor der anstehenden Bundestagswahl glatt eine wunderbare Nachricht für ihre Partei, wenn Merkel nicht schon vorab angekündigt hätte, für eine Wiederwahl nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Sie mutet der CDU/CSU damit den ganz eigenen Widerspruch zu, als Regierungspartei die Regierungschefin beerben und einen würdigen Ersatz schaffen zu müssen.

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Chronik des Corona-Wahljahres 2021
IV. Kanzlerinnenwahlverein ohne ‚Kanzlerbonus‘ sucht Ersatz

Die deutsche Kanzlerin stellt mit ihrer Entschuldigung und der Reform des Infektionsschutzgesetzes praktisch klar, dass eine gescheite Pandemiepolitik, die dem Willen des deutschen Volks gerecht wird, entscheidend von der flächendeckenden Verbindlichkeit ihres unangezweifelten Machtworts abhängt. Als Regierungschefin steht sie persönlich dafür ein, dass die Bundesregierung die sachkundige Bewältigung der Corona-Krise voll im Griff hat. Im demokratischen Regelfall wäre das vor der anstehenden Bundestagswahl glatt eine wunderbare Nachricht für ihre Partei, wenn Merkel nicht schon vorab angekündigt hätte, für eine Wiederwahl nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Sie mutet der CDU/CSU damit den ganz eigenen Widerspruch zu, als Regierungspartei die Regierungschefin beerben und einen würdigen Ersatz schaffen zu müssen.

Das Dilemma der Union

Denn schließlich ist das der Inbegriff der C-Partei, die von kurzen Unterbrechungen abgesehen über Jahrzehnte stärkste politische Kraft im Land ist: Sie hat nichts anderes anzubieten, das aber besser als alle anderen, als Regierungspartei zu sein, die den Kanzler stellt und all das exekutiert, was die Staatsmacht überhaupt und jetzt in Sachen Pandemiebewältigung von ihren Funktionären fordert. Wie keine andere Partei steht die CDU nicht für irgendein besonderes gesellschaftliches Interesse oder eine spezielle politische Programmatik, sondern als Volkspartei für die Abstraktion von allen partikularen Interessen innerhalb der regierten Bevölkerung, nämlich das kollektive Volksbegehren nach einer souveränen Herrschaft im Dienste der Nation, ihrer marktwirtschaftlichen Räson und wirklich aller Untergebenen. Die sachgerechte Ausübung der deutschen Staatsmacht und ihrer Funktionen getreu den in Ämtern geregelten Rechten und Pflichten und unter Berücksichtigung der jeweils aktuellen ‚Lage‘ – das ist die Identität und das Selbstverständnis einer Partei, die nun nicht mehr wie gewohnt als alte und neue Regierungsmannschaft, sondern als eine Partei neben anderen in den Wahlkampf ziehen muss.

Und zwar, weil Merkel mit ihrem ‚Kanzlerbonus‘ den Inbegriff der C-Partei repräsentiert: Auf die Spitze getrieben mit ihrer betont sachlichen Art und dem zur Schau gestellten Selbstverständnis, über den Niederungen der demokratischen Konkurrenz, nämlich ganz im Dienst an den Sachnotwendigkeiten der bundesdeutschen Herrschaft zu stehen, war und ist sie die Verkörperung alternativloser Regierungsverantwortung. Die Kanzlerin steht ad personam für die Gleichung aus staatlicher Macht, die ihr als oberster Funktionärin im Rahmen ihrer Amtsaufgaben zukommt, und persönlicher Eignung. Gerade in Zeiten der Corona-Krise verbürgt sie die Glaubwürdigkeit des Scheins, dass wissenschaftliche Vernunft, rechtliche Ordnung und staatliche Gewalt in ihrer Führungskompetenz aufs Feinste zusammenfallen.

Durch die Trennung von Kanzlerschaft und Parteivorsitz eingeleitet und die Ankündigung, nicht mehr zur Wahl anzutreten, hat die Kanzlerin die trennbare Verbundenheit der Staatsmacht mit ihrer Partei dokumentiert. Die Regierungspartei, die von ihrer Identität mit der Staatsmacht lebt, steht nun ohne die Galionsfigur da, die diese Identität glaubwürdig, nämlich bezeugt durch das Kanzleramt, personifiziert. Das beschert den um die Kanzlerkandidatur konkurrierenden Parteispitzen das eigentümliche Problem, sich als Führungsfiguren der Kanzlerpartei ohne ‚Kanzlerbonus‘ in Szene setzen zu müssen.

Laschet vs. Söder

Dafür haben beide zuerst einmal dasselbe zu bieten, ein kleineres Surrogat des Kanzler-Arguments. Seit nunmehr einem Jahr beteiligen sie sich an vorderster Front am Machtbeweis, in den die Politik der Pandemiebekämpfung mit ihrem Meinungsstreit und den Machtkämpfen zwischen Regierung und Opposition, vor allem aber zwischen der Zentrale und den verschiedenen ‚Landesfürsten‘, eingemündet ist. Die Macht, die Laschet und Söder kraft ihres Ministerpräsidentenamtes und der Ministerpräsidentenkonferenz zukommt, inszenieren sie berechnend als Ausweis ihrer vorzüglichen Eigenschaft als durchgreifende ‚Macher‘ und wohlmeinende ‚Landesväter‘. Die spricht wie nichts anderes dafür, dass sie nicht nur ihren Ministerpräsidentenposten, sondern den des Kanzlers und die nötige Zutraulichkeit des Wählers allemal verdient haben. Also lassen sie bei Gelegenheit wissen, dass sie neben ihren Landsmännern und -frauen auch immer schon das ‚große Ganze‘ im Blick haben und empfehlen sich mit dem demokratischen ‚Argument‘ des ‚Ministerpräsidentenbonus‘ für die Kanzlerschaft, die sie nicht haben. Insoweit unterscheiden die zwei sich also nicht wirklich.

Deswegen konzentrieren Laschet und Söder ihre direkte Auseinandersetzung auf die näherliegende Frage, wer das bessere ‚Zugpferd‘ der Union abgibt. Gegen die ‚Ein-Mann-Schau‘, die er bei seinem Parteikollegen entdeckt, und für seine Ein-Mann-Spitzenkandidatur setzt sich Laschet als ‚Brückenbauer‘ und ‚Versöhner‘ in Szene: Als Repräsentant aller politisch anerkannten Forderungen, worin auch immer sie bestehen und sich in die Quere kommen mögen, lädt er zur Verwechslung seiner Person mit dem Ideal der Leistungen einer wahrlich für das ganze Volk verantwortlichen staatlichen Regentschaft ein, die jedem gerecht wird, den sie sich unterwirft. Daneben wirbt Laschet mit ‚Inhalten‘ für sich, indem er programmatische Linien beschwört. So tritt er z.B. mit dem Slogan Wir können Veränderung für ein Modernisierungszeitalter ein – mit Phrasen, die das beanspruchte künftige Regieren nach Maßgabe der geltenden Staatsnotwendigkeiten abstrakt an thematisch klingenden Floskeln ausdrücken. Nach derselben Logik baut er sich auch gegen die Opposition, insbesondere die Grüne Alternative auf, bringt sich und die CDU unter seiner Führung als Bollwerk gegen eine ideologisch getriebene Politik in Stellung und attackiert Baerbock: Sie redet, ich handle. Sein Argument besteht aus Titeln für die Gleichung aus oppositioneller Ohnmacht und Unfähigkeit, die alle Programmpunkte der Konkurrenz als bloße Ideologie entlarven, weil und solange die CDU regiert und damit die Vorschläge der Opposition zur unrealistischen Vorstellung macht. Weil Baerbock und Die Grünen im Bund nicht regieren, taugen sie dafür auch nicht; anders Laschet, der die spiegelbildliche Abstraktion seines Zipfels politischer Macht für seine Führungskompetenz und sein Anrecht auf den Kanzlerposten sprechen lässt. Die Glaubwürdigkeit dieser Qualifikation unterstreicht er auch und nicht zuletzt mit dem Hinweis, dass er der Chef der CDU und die ‚logische‘ Wahl ist, weil ihn seine Partei schon einmal gewählt hat. Es gibt eben nichts, was einen Politiker so sehr zur Führungsfigur qualifiziert wie der schiere Umstand, dass andere, in diesem Fall die mit echten CDU-Autoritäten besetzten Gremien der Partei, gottergeben hinter ihr herlaufen.

Seinem Konkurrenten Söder leuchtet das mit der ‚logischen‘ Wahl überhaupt nicht ein. In der kindlichen Phrase des ‚Brückenbauers‘ aus NRW ausgedrückt: Söder verspricht sich einfach mehr vom Bild des souveränen Streiters, der über die Brücke reitet, statt sie zu bauen. Dass er die passende Besetzung dafür ist, bezeugt unter anderem sein gerne vorgeführter Habitus des zupackenden Staatsoberhaupts, der den Schein bedient, er sei eigentlich schon untrennbar mit der Staatsmacht verbunden. Er versteht sich auch auf das demokratische Geschäft, ‚Inhalte‘ zu beschwören, die sich wie bei seinem Rivalen auf nichts als Regierungsverantwortung reimen, die sich allerdings durch die formellen Umstände ihrer Präsentation unterscheiden und auszeichnen: Sich jung, dynamisch, entschlossen und rigoroser zu geben spricht für seine Kompetenz als Leitfigur aller ‚aufgeschlossenen‘ Bundesbürger. Und die sehen das nach Söders Auffassung genauso. Offensiv verweist er auf seine viel besseren ‚Umfragewerte‘ und auf deren korrekt verstandene Bedeutung: Das demoskopische Stimmungsbild im Wahlvolk, das dessen souveränes Urteil demokratisch sachgerecht in Prozentpunkten der Zustimmung zu einer Führungsfigur ausdrückt, will als seine Sachkompetenz verstanden sein. Seine persönlich verbürgte Fähigkeit, Wähler zu vereinnahmen, beweist, wie richtig die liegen. Mit dem Selbstverständnis polemisiert Söder auch gegen Entscheidungen in ‚Hinterzimmern‘ der CDU-Zentrale, die man dem Volk erklären müsse, wenn man schon nicht auf es höre, und bedankt sich am Ende bei den ‚modernen‘ Menschen im Land, die ihn als den geeigneten Kandidaten erkannt haben.

Der Zirkel aus erfolgreicher Betörung des Wahlvolks, Führerkompetenz und verdienter Eroberung der Macht im Staat soll am Ende natürlich den Wähler überzeugen, spricht im Kampf um die Spitzenkandidatur aber zuerst einmal die eigene Partei an: den demokratischen Opportunismus funktionalistisch rechnender Parteimitglieder. Und tatsächlich sind nicht wenige nicht zuletzt deswegen von Söder überzeugt, weil sie um ihre dotierten Parlamentsmandate bangen und sich vom CSU-Chef bessere Chancen versprechen. Der kann mit solch wohlbegründeter Unterstützung sehr viel anfangen und weiß, dass er als volksnaher Freund der ‚Basis‘ deren Zutrauen auch verdient hat.

Am Ende setzt sich Laschet durch – dank der berechnenden Unterstützung einer Mehrheit in den zuständigen CDU-Gremien, die ihren kürzlich gekürten Parteivorsitzenden nicht einfach opfern wollen. Söder lässt derweil alle wissen, dass er von der Entscheidung der zuständigen CDU-Gremien ‚nicht überzeugt‘ ist, weil er sich für das eindeutig bessere ‚Angebot‘ hält; natürlich nicht, ohne dem fortwährend angegangenen Konkurrenten seine freundliche ‚Unterstützung‘ anzukündigen. Laschet und seine Unterstützer legen deswegen noch entschlossener als zuvor Wert auf ‚Geschlossenheit‘ und führen damit vor, was es mit dieser demokratischen Tugend auf sich hat: Die vorauseilende bzw. begleitende Beschwörung von Einigkeit ist eine allseits durchschaute Heuchelei. Auf die kann keine seriöse demokratische Partei verzichten, weil die berechnend eingeforderte und vollzogene Inszenierung von entschlossener Unterordnung unter den neuen Chef und das Programm, welches auch immer er sich aus den Fingern saugt und der Partei vorgibt, als entscheidende Rechtfertigung dafür gilt, warum der Union und ihrem neuen Spitzenkandidaten auch die Unterstützung des Wahlvolks zusteht. An dieser Front hat die Union nach Auskunft ihrer Strategen jedenfalls einiges zu bereinigen – gerade im Hinblick auf den grünen Kanzlerinnenwahlverein, der vorführt, wie man diese Heuchelei glaubwürdig als Wahlargument der Spitzenkandidatin und ihrer Partei inszeniert.