Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Jürgen W. Möllemann †:
Aufstieg und freier Fall eines „Vollblutpolitikers“

Möllemanns anti-israelischer Tabubruch bringt der FDP keine Wählerstimmen, worüber Westerwelle seinen Konkurrenten innerparteilich abservieren und mittels Parteienfinanzierungsgesetz in seiner staatsbürgerlichen Existenz erledigen kann. Der stellt mit seinem finalen Absprung seine Ehre wieder her, indem er die seiner Parteifreunde ins Zwielicht rückt. Die posthume öffentliche Würdigung Möllemanns als „Vollblutpolitiker“ leuchtet alle Facetten einer Charaktermaske der Macht aus: die Tugenden der Konkurrenz sind eben relativ, je nach Erfolg oder Misserfolg.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Jürgen W. Möllemann †:
Aufstieg und freier Fall eines „Vollblutpolitikers“

Für ein Wahlergebnis, das den parteiinternen Erwartungen nicht entspricht, sucht die FDP einen Schuldigen und findet ihn in dem Erfinder des anti-israelischen Tabubruchs, der sich mit einer konkurrierenden – und letztlich erfolglosen – Wahlkampfstrategie an der Autorität des Parteivorsitzenden Westerwelle vergangen hat.

Westerwelle sieht in der Wahlschlappe eine Gelegenheit, den schwelenden Führungsstreit in seinem Sinn zu entscheiden: Möllemann, als Hemmschuh für das von ihm selbst lautstark propagierte Recht der Partei auf ein zweistelliges Wahlergebnis dingfest gemacht, soll die Verantwortung für den Wahlausgang übernehmen und von seinen Parteiämtern zurücktreten. Der verhängnisvolle Ruch der Erfolglosigkeit soll von der Partei abgestreift und dem scheidenden Spitzenfunktionär angeheftet werden; die verbleibende Führungsriege will die Gelegenheit nutzen, Tatkraft und Führungsstärke zu demonstrieren und erneut und unverdrossen das Recht auf den nächsten (Wahl-)Sieg anzumelden.

Möllemann aber weigert sich, die ihm nahe gelegten Konsequenzen zu ziehen, mobilisiert gemäß seinem persönlichen Motto – kämpfen, Jürgen, kämpfen – seinen parteiinternen Anhang und droht für den Fall, dass der alte Verein ihm die gebührende Führungsrolle versagen sollte, mit der Gründung einer neuen Partei.

Diese Situation lässt der Parteiführung um Westerwelle keine andere Wahl: Sie beseitigt den konkurrierenden Führungsanspruch, indem sie den Herausforderer erledigt. Und zwar so gründlich, dass auch der Hausmacht, über die Möllemann in Gestalt „seines“ Landesverbandes in der Partei verfügt, das Maul gestopft und dem angedrohten Übergriff auf das parteieigene Stimmvieh keine Chance mehr gelassen wird.

1.

Bei der Gelegenheit erfahren wir, wie politische Karrieren geschmiedet und wieder zerstört werden.

Möllemann ist über seinen politischen Erfolg nicht nur privat zu beträchtlichem Reichtum, sondern auch in den Besitz einer wohl gefüllten Kriegskasse gekommen, mit der er sich von der Beschlusslage und den Zuwendungen der Parteiführung unabhängig gemacht und sich als Landesfürst mit autonomer Machtbasis in der Partei aufgebaut hat; den berüchtigten anti-israelischen „Flyer“ hatte er mit einer schlappen Million Euro (das war die Sache mir wert) selbst finanziert und gegen den Willen des Parteipräsidiums an seiner abweichenden Wahlkampfstrategie festgehalten. So etabliert man sich innerhalb der zentralen Parteiführung als eine Größe, die man nicht einbinden oder gar ausmanövrieren kann, der man sich also anpassen und maßgeblichen Einfluss auf die Partei zugestehen muss Diese Methode der politischen Einflussnahme muss Möllemann nicht neu erfinden Er kann sie von anerkannten Politikergrößen wie dem Altbundeskanzler (System Kohl) oder dem Ehrenvorsitzenden seiner Partei, Graf Lambsdorff (nach eigenem Bekunden auch so ein gentleman of independent means), einfach übernehmen.

So und nicht anders funktioniert die Normalität der Demokratie: Wählerstimmen verwandeln sich in politischen Einfluss, begründen Abhängigkeiten, Seilschaften und im Idealfall eine solide Hausmacht; politische Macht stiftet dann nicht nur moralisches Prestige, sondern vor allem handfesten Reichtum, der die Findigkeit des Partei-Schatzmeisters vor immer neue Herausforderungen stellt; und materieller Reichtum verwandelt sich schließlich in den Händen einer Führerpersönlichkeit à la Möllemann ganz automatisch in Wählerstimmen, die sich dann … Vom letzten Glied im Perpetuum mobile der Macht hat niemand treffender Auskunft gegeben als Möllemann in seiner erfrischend offenherzigen Art: „Zur Gründung einer neuen Partei braucht man (Argumente? Anhänger? Ideen? – nein:) Geld. Sehr viel Geld“.

Diesen alltäglichen Mechanismus demokratischer Machtausübung hätte die Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen, wäre der innerparteiliche Machtkampf nicht eskaliert: Als Möllemann sich weigert, klein beizugeben, stellen die Parteifreunde – die allesamt selbst Experten in Sachen Parteienfinanzierung sind – ihren Willen zum Sieg im innerparteilichen Machtkampf über die Bedenken, dass ihre Enthüllungen auch ein Licht auf sie und ihren sauberen Laden werfen, und packen kräftig aus. Das Parteienfinanzierungsgesetz – ansonsten Gegenstand Lager übergreifender Solidarität – wird zur Waffe im innerparteilichen Machtkampf. Möllemann muss erleben, dass sich das Schwungrad seines Erfolgs unter sachkundiger Anleitung der innerparteilichen Konkurrenz in ein Mühlrad verwandelt, das dem Großmaul um den Hals gehängt wird. Über Nacht werden aus der Kriegskasse und dem kuscheligen Privatvermögen Schwarzgeldbestände dubioser Herkunft, deren Besitz nicht reich und mächtig, sondern strafbar macht. Als die Parteiführung mit ihm fertig ist und die weitere Arbeit der Staatsanwaltschaft und der freien Presse überlässt, steht Möllemann nicht nur vor dem Ende seiner politischen Existenz, sondern auch seiner bürgerlichen Reputierlichkeit: ein korrupter Schmiergeldempfänger, ein zwielichtiger Waffenhändler, Steuerhinterzieher und Geldwäscher.

2.

Der endgültige Verlust von Ämtern und Ansehen ist mehr, als ein „Homo politicus“ vom Schlage eines Jürgen W. Möllemann verkraften kann: Als der Bundestag seine Immunität aufhebt und Möllemann Besuch von der Staatsanwaltschaft bekommt, besteigt der gelernte Fallschirmjäger ein Flugzeug und springt – diesmal ohne Schirm.

Jetzt haben die Öffentlichkeit und die politische Klasse ihren Skandal. Entsetzen ist angesagt, Betroffenheit macht sich breit. Die gleiche Meute, die noch Stunden davor den Sturz des Abgeordneten Möllemann betrieben und seine Immunität aufgehoben hat, veranstaltet eine Gedenkminute und hisst die Fahnen vor dem Reichstag auf Halbmast; die Organisation eines Staatsbegräbnisses scheitert nur an der unkooperativen Haltung der Witwe. Wie im Schnelldurchlauf wird die Geschichte des Jürgen M. zurückgespult und aus dem Amigo wieder ein honoriger Politiker.

Der Mann hatte es schließlich zu etwas gebracht, war Wirtschafts- und Bildungsminister, ja sogar Vizekanzler in dieser Republik. Dafür wird der großkalibrige Politiker jetzt noch einmal ausgiebig bewundert und verehrt: Unbestreitbare Leistungen und Verdienste für unser Land hat er errungen, der fabelhafte Herr M. – und die nähere Bestimmung dieser Verdienste besteht dann in einer respektvollen Aufzählung der Ämter und Positionen, die der alte Fuchs sich unter dem Nagel gerissen hat. Aber der Erfolg spricht eben für sich, und sein Zustandekommen beweist, dass er zu Recht errungen wurde. Schon gleich in diesem Fall: Bei einer Figur, die einmal solche Ämter bekleidet hat, ist Deutschland es sich und seiner Würde schuldig, die verlorene Ehre des Jürgen M. wiederherzustellen und ihren ehemaligen Reservekanzler als Respektsperson zu ehren. Einerseits.

Andererseits wirft so ein Tod natürlich auch Fragen auf und weckt neuerlich und endgültig Zweifel an dem Vermächtnis des Toten. Tod eines Abenteurers/Spielers (SZ/Die Welt, 5.6.03) titelt die Presse unisono und weiß genau, was ihm das Genick gebrochen hat: Der Mann hat Vabanque gespielt (FAZ, 5.6.03) und musste die Rechnung dafür zahlen. Aus dem politischen Stehaufmännchen, das sich von keinem Rückschlag hat unterkriegen lassen, wird angesichts seines kläglichen Endes eine zwielichtige Person, die ohne die Droge Macht nicht leben und deshalb Niederlagen nicht akzeptieren kann; aus dem politischen Naturtalent mit dem genialen Gespür für Meinungen und Stimmungen wird ein standpunktloser Populist, ein egozentrischer Egomane, der ohne Verantwortung für das Gemeinwesen nur seine eigene Sache betrieben hat.

Genie und Scharlatanerie liegen hier in der Tat so nah beisammen, dass ganz Schlaue dies sogar bemerken und sich in Dialektik üben: Möllemanns Stärken waren zugleich seine Schwächen. Es ist eben haargenau die gleiche Eigenschaft, die, ist der Mann nur erfolgreich, als Tugend der Konkurrenz bewundert, andernfalls aber als menschliches Laster verachtet wird.

Der große Fetisch Erfolg taucht Vita und Persönlichkeit in ein alles entscheidendes Licht. Im Prinzip werden die Erfolgreichen für ihren Erfolg bewundert und verehrt, die Erfolglosen schnell vergessen oder gar nicht erst zur Kenntnis genommen – aber der frühe und der späte Herr M. sind einfach nicht in ein und derselben Kategorie unterzubringen. Das sorgt für Verwirrung und regt zum Nachdenken an: Ist es nicht eine Tragödie, ist es nicht ein Skandal, dass eine so erfolgreiche Persönlichkeit so tief fallen kann?! Die Lage ist kompliziert:

Hat ein ehemaliger Vizekanzler ein solches Ende verdient? Oder hat eine Figur, deren Karriere so endet, es überhaupt verdient, jemals Vizekanzler geworden zu sein? Wenn sich aber selbst der Vizekanzler a.D. als eine unwürdige Figur entpuppt – haben wir da nicht allen Grund anzunehmen, dass auch die amtierenden Führer…?

Statt der „Affäre Möllemann“ wird jetzt così fan tutte gegeben. Die Öffentlichkeit, die sich ansonsten viel darauf zugute hält, ihre Pappenheimer in Berlin zu kennen, gibt sich irritiert und stellt „Fragen über Fragen. Fragen nach der Mentalität der Mächtigen“, die man sich mal als Opfer (Wohin treibt die Macht die Mächtigen?), mal als Täter (Wie erbarmungslos müssen Machtkämpfe sein?), immer aber als einen Menschenschlag vorstellen darf, von dem man keinen Gebrauchtwagen kaufen möchte. Gehen womöglich nur Willy Wichtigs in die Politik anstelle von echten Führerpersönlichkeiten, zu denen man aufblicken kann, ohne befürchten zu müssen, dass sie morgen ungebremst vom Himmel fallen? Wird die Macht – das wichtigste Grundnahrungsmittel des gesamten Volkes! – von einer haltlosen Bourgeoisie als bloßes Genussmittel missbraucht? Gibt es denn keine würdigen Herrscherfiguren, die sich von der Macht auch trennen können, es daher verdienen, sie zu besitzen?

Eine Woche beherrscht die Sehnsucht nach Führern, die Gefolgschaft verdienen, die Schlagzeilen, dann ist die Aufregung auch wieder vergessen. Die Empörung war entsprechend: Kaum hat man die Politiker beschimpft – Jeder Politiker ist von der Droge Macht betroffen… –, werden sie wieder in Schutz genommen und für ihr schweres Los mit Mitleid überschüttet: „… wer aber sind die Dealer? Die Dealer sind niemand anderes als wir selbst, die Presse, die Rundfunk- und Fernsehanstalten.“ Auf der Suche nach den Schuldigen für die Verelendung der politischen Klasse ist die Selbstbezichtigung der Medien nur eine Zwischenstation; der wahre Pate des Verbrechens aber ist der Wähler, der mit seiner Konsumentenmentalität, also mit seiner mangelnden staatsbürgerlichen Reife, den Politikern, die schließlich um seine Stimme buhlen müssen, keine andere Wahl lässt… So schlägt jedes Moment der Kritik an dem Gebaren der Politiker sofort wieder um in Anerkennung für den schweren Job, den diese bedauernswerten Leute zu erledigen haben, wenn sie sich vom Volk die Freiheit zum Regieren bestätigen lassen. Machterwerb und Machtausübung mit all ihren Widerlichkeiten als Passionsgeschichte der Mächtigen – so bemerken die Medienprofis auf ihre Weise, dass all die Machtkämpfe, Intrigen und persönlichen Entgleisungen, deren Zeugen sie bei der „Affäre“ Möllemann wurden, eben keine persönlichen Entgleisungen des Führungspersonals, sondern nichts als Sumpfblüten der organisierten Wählerbetörung sind.

Eines hat man sich mit der Dialektik von Be- und Entschuldigen jedenfalls erspart: Den Schluss vom Benehmen der Politiker auf den Job, den sie zu erledigen haben.

3.

Die Vorwürfe, die Möllemann gemacht werden, kann man getrost als eine Liste allgemein anerkannter politischer Tugenden lesen. Denn nichts ist einer demokratischen Öffentlichkeit so selbstverständlich, wie bei jeder politischen Tat die Frage aufzuwerfen, ob sie den passenden Rahmen für eine gelungene Selbstinszenierung der politischen Akteure abgegeben hat und die jeweiligen Parteien resp. ihre Spitzenkandidaten dadurch an Glaubwürdigkeit und Profil gewonnen haben. Diese allgegenwärtige Perspektive wird in Sendungen wie in dem (Hof-)Bericht aus Berlin zum expliziten Thema und hat im Politbarometer ihre eigene Abteilung empirischer Sozialforschung, in der die abschließende und allein maßgebliche Bewertung der politischen Taten als exakte Ziffer auf der Beliebtheitsskala festgehalten wird. Und diese Betrachtungsweise ist bei aller Unsachlichkeit in der Demokratie eben sehr sachgerecht. Die demokratische Wahl, dieses Herzstück der Demokratie, verwandelt ja jede Zumutung, die die Politik den Bürgern abverlangt, in die immer gleiche Frage, wer sie den Bürgern als Sachnotwendigkeit aufnötigen soll, wer also bei der Verwaltung eines feststehenden Umkreises von Staatsnotwendigkeiten das Vertrauen der Bürger gewinnt oder verspielt; und sie lässt nur eine Richtschnur zur Beantwortung dieser Frage zu: Die Bewerber, die mit Textbausteinen wie die Zukunft gestalten allesamt erfolgreiches Regieren versprechen, werden daran gemessen, ob sie die Garantie des nationalen Erfolgsanspruchs überzeugender als die Konkurrenz verkörpern, unbeirrbaren Siegeswillen und unerschütterliche Siegeszuversicht beim Kampf um die politischen Führungsposten verströmen, unübersehbar auf ein Leben voller Erfolge verweisen – ohne dabei aufdringlich und arrogant zu wirken usw… Wie sonst als durch gnadenlose Selbstdarstellung soll also ein Politiker sich als Wahlkämpfer bewähren? Wer anders als ein grandioser Narzisst soll glaubhaft vertreten, dass alles daran hängt und alles danach drängt, dass er und kein anderer diese Position übernimmt?

Irgendwie haben die Sachkundigen in Wissenschaft und Journaille schon Recht, wenn sie voller Respekt darauf hinweisen, dass man dazu berufen sein muss, Politik als Beruf auszuüben, und dass dies kein Gewerbe ist, das Hinz und Kunz erledigen können. Denn Leute, die auch nur halbwegs bei Trost sind, halten einen solchen Beruf überhaupt nicht aus, auch wenn sie dafür noch so fürstlich ausgehalten werden. Und eine bella figura können hier schon gleich nur Figuren machen, bei denen sich Pflicht und Neigung aufs Trefflichste ergänzen. Dafür, die Größe der Nation in der eigenen Person zu verkörpern, kommen nur Leute in Betracht, die unter anderen Umständen als ausgemachte Psychopathen gelten. Was so eine echte Führerfigur dann nicht schon von Haus aus an persönlichen Qualitäten mitbringt, das lernt sie dann spätestens durch die politische Laufbahn, dieser großen Schule des Charakters. Im tagtäglichen politischen Kampf – nach der Wahl ist vor der Wahl! – belauert man sich wechselseitig auf jedes Anzeichen einer Blöße, bis schließlich alles Unpassende beseitigt, jede unbefangene menschliche Regung fremd, die Rolle im Politikbetrieb aber in Fleisch und Blut übergegangen ist.

4.

Eine solche Charaktermaske der Macht ist mit Jürgen W. Möllemann von uns gegangen. In diesem aufreibenden Geschäft, in dem die Selbstdarstellung als erfolgreiche Führerfigur alles ist und in dem alles zu einer Frage der erfolgreichen Selbstdarstellung gemacht wird, hat Möllemann so zielstrebig mitgemischt, wie man sich das von einem politischen Naturtalent erwarten darf. In jungen Jahren wechselt er von der CDU in die FDP, weil man in einer kleinen Partei schneller etwas wird; den unvermeidlichen Nachteil, dass er dann zunächst nur in einer kleinen Partei etwas wird, gleicht er durch unermüdliche Pressearbeit aus. Schon früh zeigt sich, welch großkalibriger Politiker in dem jungen Abgeordneten steckt: Berühmt wird er zuerst dafür, sich bei Nachrichtenflaute morgens um sechs Uhr bei den Nachrichtenagenturen zu melden: Guten Morgen, hier Möllemann. Ich habe wieder etwas auf der Pfanne. Die ganze Weltlage als Nachrichtenflaute zu registrieren, die freien Raum zur öffentlichen Profilierung eröffnet, dann gleich etwas auf der Pfanne zu haben, das sich zur Selbstdarstellung eignet, und schon im Morgengrauen auf die erste Gelegenheit zu lauern, die sich dafür bietet – das zeugt von den sicheren Instinkten und den beeindruckenden Fähigkeiten dieses politischen Naturtalents, und nicht zuletzt von dessen unbedingtem Willen, dieses Talent nicht unter den Scheffel zu stellen. Es spielt dabei überhaupt keine Rolle, dass auch der politisch Interessierte nicht mehr weiß, was Möllemann der Welt mitzuteilen wusste, wenn er etwas auf der Pfanne hatte; das Erfolgskriterium ist erklärtermaßen anders gestrickt: Da liegen doch die Politiker noch faul mit dem Arsch im Bett, dann muss ich schnell für die FDP eine Stellungnahme abgeben, aber nicht 08/15. Meine Kollegen machen um sieben oder acht Uhr das Radio an, und schon hören sie wieder den Möllemann. Eine garantiert „eigene“ Stellungnahme abzugeben, die sich von anderen Stellungnahmen unterscheidet; den Kollegen, die Gleiches vorhaben, die Show zu stehlen, sie und alle Welt wissen zu lassen, dass es einem genau darum geht und man sich darauf versteht, also mit einem Wort: sich von dem unerträglichen Mittelmaß und der grauen Masse der Abgeordneten öffentlichkeitswirksam abzusetzen und diese Touren politischer Selbstdarstellung treffsicherer als andere auszuprägen und sie mit dem Einsatz seiner ganzen Person zur Anwendung zu bringen: Das hat Möllemann dem anerkennenden Urteil seiner Kollegen zufolge zu einem echten Homo politicus, wie es sie selten gibt in unserer Zunft, zu einem politischen Urvieh wie sonst nur Strauß und Fischer gemacht.

In schöpferischer Anwendung des Grundsatzes der bürgerlichen Öffentlichkeit, dass es nicht darauf ankommt, was jemand, sondern wer etwas sagt, hat sich Möllemann alles, was er gesagt hat, unter dem Gesichtspunkt überlegt, ob es dazu tauglich ist, dem Urheber dieser Worte einen festen Platz im Who is Who des politischen Zeitgeschehens zu verschaffen. In der Möllemannschen Devise Hauptsache Schlagzeilen. Besser schlechte Schlagzeilen als gar keine Schlagzeilen liegt einerseits eine Wahrheit über die Öffentlichkeit und den demokratischen Politikbetrieb – wer keinen Wind macht, wird nicht gehört; und niemandem ist diese Devise so vertraut wie den großen Parteien, die mit den öffentlichen Rundfunkanstalten ein Abkommen über eine sekundengenaue proporzgemäße Berichterstattung zu Wahlkampfzeiten geschlossen haben. Andererseits aber handelt es sich zugleich um eine charakteristische Eigentümlichkeit des Politikers, der sich zu dieser Wahrheit in Wort und Tat bekennt, dieses Bekenntnis bei jedem Anlass als Ausweis seiner Professionalität heraushängen lässt und daher das Motto, das alle beherzigen, schriller als alle anderen praktiziert: Er springt bei jeder Gelegenheit im parteifarbenen Anzug mit dem Fallschirm ab, schickt seinen – damaligen – Gesinnungsgenossen und Bruder im Geiste, Westerwelle, zu Big Brother in den Container, erfindet zum Entsetzen der in parlamentarischem Anstand ergrauten Parteihonoratioren das Guidomobil und überhaupt das Konzept der Spaßpartei, kurzum: Er inszeniert auf jede erdenkliche Weise seine und seiner Partei Auffälligkeit und verschmäht dabei keinen noch so blöden Gag. Als Methodiker der Politwerbung scheut er nicht davor zurück, diese auf Felder auszudehnen, auf denen sie als unseriös gilt, weil sie dort die Absicht der argumentlosen Selbstdarstellung so offenkundig verrät – gerade deshalb erscheinen sie dem Enfant terrible der politischen Selbstdarstellung doppelt verlockend. Die Kritik, hier würde Politik als Event inszeniert fürchtet er nicht, sondern genießt sie – „Hauptsache Schlagzeilen …“ – als Gratisgabe der Kritiker für seine Popularität. Das Projekt 18 erfindet er nicht deshalb, weil er im Unterschied zu allen anderen an einen Stimmenzuwachs von annähernd 300% glaubt, sondern weil er das Prinzip demokratischer Überzeugungsarbeit – für den Erfolg wird mit dem Willen zu ihm und Glauben an ihn geworben – übertreibt, sich mit der Übertreibung profiliert und mit so viel demonstrativer Chuzpe seine großmäulige Ankündigung schließlich doch noch ein Stück weit wahr zu machen erhofft. So einfältig und zugleich so unendlich kompliziert kann Politik sein, wenn sie von einem Profi mediengerecht aufbereitet wird.

Mit solchen Touren verzerrt Möllemann den demokratischen Politikbetrieb bis zur Kenntlichkeit. Bei Leuten, die den Schein pflegen, parlamentarische Arbeit und demokratische Wahlen wären – wenigstens eigentlich – so etwas wie eine sachkundige Beratung kluger Köpfe, steht der Werbefachmann in dem Ruf, ein verantwortungsloser Karrierist zu sein, der bedenkenlos der Selbstdarstellung Inhalte opfert; seinen Erfolg hat man zuerst nur widerwillig, schließlich aber resignierend – der große Fetisch Erfolg heilt eben alles – anerkannt, dafür haben seine Konkurrenten aber mit umso mehr Genugtuung seinen jähen Fall als gerechte Quittung für so viel Verantwortungslosigkeit verbucht.

Das ist ungerecht: Inhalte – wie das so vornehm heißt – sind Möllemann nicht egal, sondern haben den Stellenwert, der ihnen im edlen Wettstreit der Demokraten gebührt: Schon aus Gründen der gelungenen Selbstdarstellung hat er sich nach bestem Wissen und Gewissen darum bemüht, bei jedem öffentlichen Spektakel nichts als zeitgemäßen Nationalismus zu produzieren. (Zu dem mutigen Tabubruch in Sachen „Antisemitismus“ vgl. GegenStandpunkt 3-02, S.5) So passen Karrierestreben und gesellschaftspolitische Verantwortung dieses Berufsstandes ganz objektiv zusammen. Gleichgültig, ob sich die Politiker mehr als selbstlose Diener des Gemeinwesens, oder wie M. mehr als karrierebewusste Macher mit dem Ethos der Professionalität präsentieren: Sie alle bereiten die nationale Sache als Stoff auf, der von Leuten ihres Schlages zu betreuen ist, und sie tun dies schon ihres Erfolges wegen so eindringlich und aufmerksamkeitsheischend, dass sich im Idealfall jedes gesellschaftliche Interesse, jeder Standpunkt, jeder angeberische life style, davon angesprochen und darin beheimatet fühlen darf.

Dass Möllemann jedes Einschwören seiner Wähler auf die eine für seine Partei passende und unverwechselbare Linie als öffentlichkeitswirksames Spektakel veranstaltet, sich als populärer Anhänger seiner Anhänger präsentiert, bei jeder Gelegenheit mit dem Fallschirm abspringt, Kugelschreiber herzt und Kinder verteilt, zeigt also nur, dass er sein Handwerk verstand. Als regierungsfähiger Populist scheut Mölli sich nicht davor, dem Volk auch mal aufs Maul zu schauen, wenn es darum geht, ihm mit nationalistischen Tönen die Richtung zu weisen und es mit anbiedernden Hanswurstiaden zur Stimmabgabe zu bewegen.

5.

Als verantwortungsbewusster Politiker hätte er gerne noch einmal in führender Position von der Freiheit zum Regieren Gebrauch gemacht, die die Mehrheit der Wahlstimmen dem Staatsmann beschert. Stattdessen hat ihn seine eigene Partei abserviert und als „Führungspersönlichkeit“ mit allen Mitteln demontiert, also seine „Glaubwürdigkeit“ zerstört. Das hat er nicht ausgehalten. Jürgen W. Möllemann war eben ein Vollblutpolitiker, dem die Rolle als Charaktermaske des demokratischen Politikbetriebes zur zweiten Natur geworden war und der sich seinen Erfolg in dieser Rolle zu einer Frage der persönlichen Ehre gemacht hat.

Bei seinem letzten Sprung ist Möllemann sich bis in den Tod treu geblieben. Mit der Selbstzerstörung seiner Person will er das retten, was ihm an seiner Person das Wichtigste ist: Seine Glaubwürdigkeit. Der Einsatz eines ultimativen Mittels – er stirbt lieber, als entehrt zu leben – soll alle Zweifel an seiner Ehrenhaftigkeit beseitigen und zugleich – Rache ist süß! – den guten Ruf seiner Parteifreunde schädigen, die mit ihrer schändlichen Intrige einen verdienstvollen Kämpfer wie ihn in den Tod getrieben haben.

Dass er selbst sein Ableben als öffentliches Spektakel inszeniert (Hauptsache Schlagzeilen …) ist wieder einmal typisch. Jürgen W. Möllemann war eben ein politisches Urgestein bis zur letzten Sekunde im freien Fall.