Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Zwei Terroraktionen werden unter den „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ subsumiert

Zwei bemerkenswert unterschiedliche Wertungen von terroristischen Anschlägen seitens des Westens. Die Sprengsätze auf Bali gelten sogleich als Fall von „internationalem Terrorismus“, gegen den die indonesische Regierung nicht hart genug durchgegriffen habe.Im Fall der Geiselnahme durch ein tschetschenisches Kommando in Moskau und der anschließenden gewaltsamen Geiselbefreiung stellt die russische Regierung an die Weltgemeinschaft den Antrag, den Titel „internationaler Terrorismus“ diesmal für sich in Anspruch nehmen zu können. Genau dies wird ihr verweigert. Eine Anerkennung russischer nationaler Interessen, und seien es solche vitalen wie der Bestand des Staates gegen terroristische Separatisten, wird Putin nicht zugestanden.

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Gliederung

Zwei Terroraktionen werden unter den „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ subsumiert

A. Der Anschlag auf Bali

Auf Bali gehen Sprengsätze hoch, töten Urlauber und Einheimische. Das Urteil der Weltöffentlichkeit lautet einhellig: Muslimische Fanatiker haben zugeschlagen, kaltblütig Terror verübt. Das kann nur eine Konsequenz haben: Die Terroristen müssen mit allen Mitteln bekämpft, ihre Nester ausgeräuchert werden. Der Anschlag offenbart nur eines: das Versäumnis der indonesischen Regierung, in der von den USA schon seit geraumer Zeit angemahnten Weise durchzugreifen:

„Die Zentralmacht in Jakarta ist unfähig – und möglicherweise nicht gewillt – gegen radikale islamische Gruppen hart durchzugreifen.“ (Kommentar in der SZ, 15.10.02)
„Seit Monaten schon laviert Präsidentin Megawati zwischen dem Druck der USA, mehr gegen die Gefahr des Terrorismus zu tun, und den politischen Schwierigkeiten, die damit selbst in einem moderaten muslimischen Land verbunden sind.“ (Financial Times Deutschland, 14.10.)

Die Botschaft ist also klar: Die indonesische Regierungs-Chefin muss sich vorwerfen lassen, dass sie verkehrte Rücksichten genommen hat – auf innere Angelegenheiten, die grundsätzlich keine Rolle spielen dürfen, wenn es darum geht, der Gefahr des Terrorismus Herr zu werden.

Worin sie besteht, die Gefahr namens ‚internationaler Terrorismus‘, die die USA in diesem „moderaten muslimischen Land“ ausgemacht haben und deren Bekämpfung sich die Regierung in Jakarta ohne Wenn und Aber zu widmen hat, darüber lassen die Amerikaner – in deren Gefolge Australien, das benachbarte Singapur, die eher nicht so benachbarte EU et al. sowie eine Weltöffentlichkeit, die sich in dem Fall vorbehaltlos zum Sprachrohr der amerikanischen Forderungen an die indonesische Obrigkeit macht – ebenfalls keinen Zweifel:

„Auch ohne konkrete Beweise scheint die Schuldfrage beantwortet: eine gewaltbereite Minderheit der rund 200 Millionen indonesischen Muslime steht dringend unter Tatverdacht.“ (Spiegel Nr. 43/02)

Denn auch wenn es ein gezähmter, friedfertiger Islam ist, den die Mehrheit dieser Muslime pflegt – geradezu in vorbildlicher Weise auf Ausgleich bedacht, und ohne die scharfe Klinge des Dschihad (SZ) –, so steht eben auch ohne konkrete Beweise fest, dass es eine Minderheit dieser muslimischen Bevölkerung ist, die unter dringendem Tatverdacht steht. Aus ihr geht die Gefahr hervor, die es zu bekämpfen gilt; gemäßigt wie sie ist, steht sie mit ihrer Religion stets auf dem Sprung, in den religiösen Extremismus abzudriften, also ist sie selbst als latente Gefahr zu betrachten und entsprechend unter Aufsicht zu stellen. Mit dem Islamismus haben die USA nichts weniger als den falschen Nationalismus von unten auf den Index gesetzt, der in den von ihrer Obrigkeit unterdrückten und ansonsten weitgehend ruinierten indonesischen Volksmassen seine mehr oder minder radikale Anhängerschaft findet; ein Nationalismus, der sich die staatenübergreifende Sache des Islam auf die Fahnen schreibt; eher weniger organisiert auftritt; sich gelegentlich jedoch militant gegen den von Jakarta aus regierten Staat, die Insignien seiner Un-Kultur (Bars, Diskotheken, christliche Kirchen) oder gegen amerikanische Einrichtungen betätigt – ein Nationalismus, der in seinen religiösen Maßstäben für ein sittlich intaktes Staatswesen aber auf alle Fälle repräsentiert, woran die Volksmassen in diesem mehrheitlich muslimisch bevölkerten Land ihre Regierung messen. Sie dürfen sich von der sogar vertreten fühlen, seitdem die größte Moslempartei Indonesiens am Regieren beteiligt ist und ihr Führer den Vizepräsidenten stellt.

Diesen Nationalismus von unten soll also die indonesische Regierung klein machen. Auf Geheiß der USA und anderer auswärtiger Mächte soll sie mit aller Härte gegen Islam-Organisationen wie Jemaah Islamiyah vorgehen, von denen die CIA nicht erst seit dem Anschlag auf Bali genau weiß, dass man bei ihnen mit der Vermutung nicht verkehrt liegt, dass sie mit Al-Kaida unter einer Decke stecken „in planning terrorist attacs in southeast Asia“; sie soll deren Führer, angesehene islamische Gelehrte, verhaften und ausliefern, sobald die CIA eine dieser Figuren auf die schwarze Liste gesetzt hat; und zwar ungeachtet ihrer eigenen Berechnungen im Umgang mit den Exponenten dieser politischen Landschaft.

So wird schön langsam auch klar, welcher Natur diese absolut unerheblichen „politischen Schwierigkeiten“ sind, von denen sich die indonesische Regierung bislang davon hat abhalten lassen, sich umstandslos in den Dienst des von Amerika angesagten Feldzugs gegen den Terrorismus zu stellen. Die in diesem Zusammenhang an sie gerichteten Ansinnen sind für sie damit „verbunden“, dass sie ihre Bevölkerung gegen sich aufbringt. Mit ihnen tragen die USA einiges zur Radikalisierung dieses religiös inspirierten Nationalismus von unten bei – und auch zu seiner antiamerikanischen Ausrichtung. Also geht die Regierung in Jakarta berechnend mit den amerikanischen Anträgen um: Sie überstellt den amerikanischen Behörden im Juni eine der Nähe zu Al-Kaida verdächtigte Figur; äußert bei der nächsten Bedenken, sie zu verhaften: „Bashir (ein islamischer Gelehrter, der eine Koranschule unterhält, auf jeden Fall verdächtig) denies any links to terrorism and says Jemaah Islamiyah doesn’t exist. Indonesian authorities have said they do not have enough evidence to arrest Bashir, while U.S. officials say that Indonesia fears a political backlash if Bashir is jailed.“ (Mat Kelley, AP, 15.10.) Und sie stößt mit solchen Bedenken, die immerhin zum Inhalt haben, dass ihr Staat über seine Instrumentalisierung für auswärtige Sicherheitsinteressen noch ein Stück weiter zersägt wird, bei den Amerikanern auf taube Ohren. Sie werden nicht anerkannt, vielmehr wird stur auf prompte Erledigung gedrungen. Also laviert die Regierung, leugnet gegenüber den amerikanischen ‚Gesprächspartnern‘, dass es in ihrem Land so etwas wie eine Terrorismusgefahr überhaupt gibt, kriegt vom amerikanischen Geheimdienst anschließend die nötigen ‚Informationen‘ unter die Nase gehalten und muss sich daraufhin wieder kooperativ zeigen.

Nach dem Anschlag auf Bali ergeht von Seiten der USA und Australiens die Klarstellung an Jakarta, dass nun mit solchen Halbheiten Schluss zu sein hat: President Bush turned up the pressure on President Megawati Sukarnoputri. (AP, 15.10.) Wir haben das Recht und ich habe die Pflicht, der indonesischen Regierung die Notwendigkeit aufzuzwingen, regional bei der Bekämpfung des Terrorismus zu kooperieren. (der australische Premierminister John Howard, FTD, 15.10.) Die Regierung muss endlich zugeben, dass der Terrorismus eine reale Gefahr für die Sicherheit Indonesiens ist. (Megawati, FTD, 14.10.); sie hat sich ihrer Pflicht zu stellen, mit allen Mitteln aufzuräumen, was auch immer das für die inneren Verhältnisse ihres Staatswesens und die bislang so erfreulich moderate Gesinnung ihrer Untertanen bedeuten mag. Es wird jetzt schon darüber spekuliert, dass dieser Staat das wohl nicht aushalten wird.

Aber: Dafür, dass er sich dieser Auftragslage unterwirft, wird seine Obrigkeit dann ja von den USA finanziell unterstützt, sein Militär auf Vordermann gebracht:

„Deputy Defense Secretary Paul Wolfowitz… has been pushing for expanded ties to Indonesia’s military. The only way to persuade Indonesia’s military to support democracy and human rights and effectively fight terrorism is to work with it, Wolfowitz argued.“ (AP, 15.10.)

Good governance heißt eben manchmal, wie bei diesem Land (das Amerika neulich noch has been pushing for more democracy) vor allem: to work with its military.

B. Die Geiselnahme in Moskau

Ein tschetschenisches Kommando besetzt ein Moskauer Theater, nimmt über 700 Geiseln und verlangt als Preis für deren Freigabe den sofortigen Abzug der russischen Armee aus Tschetschenien. Die russische Regierung wendet sich an die Weltöffentlichkeit:

„Die Tragödie der Geiselnahme in Moskau hat wie auch die Terroranschläge in anderen Regionen dieser Welt gezeigt, dass die Weltgemeinschaft nicht mit vereinzelten Aktionen, sondern einer geschickt koordinierten, breit angelegten Aggression der Stoßtrupps der Kräfte des internationalen Terrorismus konfrontiert wird. Von Gewehren bedroht werden in Moskau nicht nur Einwohner Russlands, sondern auch Vertreter anderer Staaten und Völker. Um diese aus der Notlage zu befreien, um keine ähnlichen Tragödien in der Zukunft zuzulassen, muss sich die Weltgemeinschaft im Kampf gegen den Terrorismus zusammen tun.“ (Interfax 24.10.)

Putin weiß natürlich auch: Zugeschlagen hat da nicht dieses ominöse, ebenso allgegenwärtige wie ungreifbare Subjekt namens „internationaler Terrorismus“, sondern tschetschenische Nationalisten; angegriffen worden ist nicht „die Weltgemeinschaft“, sondern Russland. Mit seiner Ansprache stellt er einen Antrag: Er versucht – nicht zum ersten Mal – die Rechtstitel, unter denen die USA ihren Feinden überall auf der Welt den Kampf angesagt haben und den Rest der Staatenwelt auf diesen Kampf verpflichten, für seine Nation in Anspruch zu nehmen. Er fordert die Staatengemeinschaft auf, sich der russischen Definition der Tschetschenien-Frage anzuschließen. Sie soll den Krieg, den Russland gegen aufständische Separatisten zur Durchsetzung seiner Hoheit über seine Kaukasus-Provinz führt, als Bestandteil des weltgemeinschaftlichen Kampfes gegen den internationalen Terrorismus würdigen und damit das Recht Russlands anerkennen, gegen seine Feinde und deren in- und ausländische Unterstützer mit allen ihm geboten erscheinenden Mitteln vorzugehen. Namentlich all die Staaten, die sich bislang standhaft geweigert haben, sich dieser Definition anzuschließen; die in dieser Form stets ihren Vorbehalt gegen das russische Vorgehen in Tschetschenien zum Ausdruck gebracht haben; die den Aufständischen den Status von Vertretern legitimer Rechte, mit denen Russland zu verhandeln hätte, zuerkannt haben und ihnen materielle Unterstützung haben zukommen lassen, stellt Putin angesichts der Geiselnahme in Moskau vor die Frage: Kann man jetzt endlich mal anerkennen, dass das Terrorismus ist? Für sie sei die „Stunde der Wahrheit“ gekommen:

„Die massenhafte Geiselnahme in Moskau, darunter Kinder und Frauen, muss zum Augenblick der Wahrheit für diejenigen werden, die die Terroristen in Tschetschenien weiterhin in ‚schlechte‘ und ‚gute‘ einteilen.“ (ebd.)

Russland verlangt von ihnen ein klares Bekenntnis dazu, wie sie zu Russland stehen. Und? Haben sie diesem Antrag entsprochen?

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Einerseits schon: Auf Antrag Russlands verurteilt der Sicherheitsrat die Geiselnahme als terroristischen Akt. Bush, Schröder, Berlusconi, Scharon etc. melden sich postwendend zu Wort, verurteilen einhellig die Tat und sichern Putin ihre rückhaltlose Unterstützung zu. Man möchte auch nicht bestreiten, dass es sich bei dem, was im Moskauer Theater stattfindet, um Terrorismus handelt. Dass Russland die Geiselnahme beenden, die Geiselnehmer unter Aufbietung seiner Polizei- und Militärkräfte zur Aufgabe zwingen oder sonstwie erledigen, die Geiseln auf alle Fälle befreien muss, auch das steht für die auswärtigen Regierungen außer Frage; zumal sich ja auch Angehörige ihrer Staaten unter den Geiseln befinden. Dass die russische Staatsmacht sich die gewaltsame Bereinigung des Falls schuldig ist, sie sich nicht erpressen lassen kann; dass ihre Führung einen solchen „Gesichtsverlust“ nicht hinnehmen kann; dass das Gewaltmonopol nicht vor dem Terror kapitulieren darf – das alles begreift man auch hierzulande und spricht damit dem russischen Staat seine prinzipielle Anerkennung aus. Alles andere wäre schließlich auch einer offenen Feindschaftserklärung an Russland gleichgekommen, und so stehen die westlichen Staaten heute ja wirklich nicht mehr zu Russland. Schließlich unterhält man mittlerweile mit dem Land vielfältige – ökonomische, politische, strategische – Beziehungen. Mit der weltöffentlichen und sicherheitsratsmäßigen Verurteilung der Geiselnahme als terroristischer Akt gestehen die Befragten Russland also das prinzipielle Recht zu, seine Souveränität zu verteidigen. Damit ist eine Ermächtigung zum Zuschlagen ausgesprochen; die Terrorismus-Definition hat im Verkehr zwischen den Staaten gar keinen anderen Inhalt als eine solche Ermächtigung; um sie wird gerungen, wenn auf dem Feld der Diplomatie um die Anwendung dieser Definition auf einen Fall gestritten wird, und nur wegen ihr ist strittig, was von den vielen Gewaltexzessen als Terrorismus zu definieren ist.

Die Öffentlichkeit sieht die Sache entsprechend: Auch wenn manche kritische Stimme lieber gleich auf Tschetschenien und den russischen Krieg dort zu sprechen kommt: Drei Tage lang stehen „wir“ ziemlich geschlossen hinter Russland, leiden sogar mit seiner Führung unter der Last ihrer schweren Aufgabe, hoffen mit den Geiseln und ihren Angehörigen auf ein glimpfliches Ende, rechnen aber auch mit dem Schlimmsten.

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Andererseits: Kaum ist das Theater gestürmt, kippt die Stimmung in der hiesigen Öffentlichkeit. Und zwar zunächst einmal unter dem Eindruck einer alles in allem gelungenen Geiselbefreiung durch die russischen Sondereinsatzkommandos. Russlandkenner wissen sofort zu berichten, dass es die russische Staatsmacht wegen ihrer immer noch ziemlich maroden Verfassung nötig hat, ihrem Volk mit einer solchen Aktion zu imponieren. Gerade noch mit nichts Wichtigerem als dem „Schicksal der Geiseln“ befasst, schalten sie um auf die Erörterung der Frage, wie Putin jetzt dasteht, ob ihm die Aktion genützt hat. Offenbar halten sie es für eher nicht so erfreulich, dass der russischen Führung mit einem erfolgreichen Einsatz ihrer Staatsgewalt nach dem Muster: ‚Feinde erledigt, Geiseln befreit!‘ ein Souveränitätsbeweis gelungen sein könnte, an dem es für sie nichts herumzumäkeln gibt. Sie scheinen ein Problem damit zu haben, dass Russland den Fall aus eigener Souveränität bereinigt: Sie leiden an seiner Ermächtigung. Als wollten sie stellvertretend für ihre Obrigkeit zum Ausdruck bringen, dass im Falle Russlands die diplomatisch-förmliche Feststellung, dass tschetschenische Terroristen das Land unsicher machen, so nicht gemeint ist, hadern unsere Öffentlichkeitsarbeiter mit dem Einsatz russischer Staatsgewalt – und leiden darunter, dass sie an dem erst einmal nichts zu beanstanden finden.

Als sich dann herausstellt, dass die Geiselbefreiung mit zahlreichen Opfern verbunden war, bekommt die hiesige Öffentlichkeit endlich den Stoff, an dem sich die Vorbehalte festmachen lassen, die man sowieso schon die ganze Zeit im Kopf hat. Zwar finden sich immer noch Stimmen, die von einer Tragödie sprechen, Putin ihr Mitgefühl ausdrücken, ihm auch konzedieren, dass er nach Lage der Dinge nicht anders handeln konnte, und die Kollateralschäden bedauern – das macht man so unter „Partnern“. Aber zügig setzt sich ein ganz anderer Tonfall durch: Hämisch wird kommentiert, dass von einer „glänzenden Operation“, wie sie der Moskauer Oberbürgermeister meldet, wohl kaum die Rede sein kann, der gemeldete „Sieg“ wohl eher als ein ziemliches „Desaster“ anzusehen ist, und der Einsatz der russischen Elitetruppen von einem einzigen „Versagen des Staates“ zeugt. Die Berichterstattung hat ihre Linie gefunden: Eine gelungene Geiselbefreiung? Wohl kaum! Dies ergeben Nachfragen, die in einem Fall von Terrorismus-Bekämpfung hierzulande, in Amerika oder in Israel durch die Ankündigung der Regierung, mit aller Entschlossenheit gegen die Täter, ihre Hintermänner und den Sumpf, aus dem sie stammen, vorzugehen, von vornherein erschlagen wären. Im Falle Russlands hingegen sind solche Fragen genau richtig am Platz: Ist bei der Stürmung alles mit rechten Dingen zugegangen? War die Gesundheit der Geiseln oberstes Gebot der Einsatzleitung? Hält sich die Zahl der Toten im Rahmen? Handelt es sich bei dem verwendeten Gas um ein gebräuchliches, auch in unseren Kliniken zugelassenes Narkosemittel? Oder war es ein verbotener Kampfstoff? Liegt womöglich ein Verstoß gegen die Chemiewaffen-Konvention vor? Die Fragen sind schon die fertigen Antworten:

„Es mehren sich die Indizien, dass die russische Führung den Tod vieler Geiseln leichtfertig und billigend in Kauf genommen hat. Zwar muss bei einem Sturmangriff mit einem erhöhten Risiko und damit auch mit höheren Opferzahlen gerechnet werden. Das Fiasko in Moskau basiert aber auf der spezifisch russischen Anti-Terror-Strategie, wie der Terrorismus-Experte Rolf Tophoven erläutert. ‚Im Gegensatz zu dem Vorgehen westlicher Einheiten wird dort mit einer ungeheuren Kraft und auch ohne Rücksicht auf Verluste vorgegangen. Da ist wenig von einem subtilen Vorgehen zu merken, was beispielsweise viele Anti-Terror-Operationen westlicher Eliteeinheiten auszeichnet.‘“ (Deutsche Welle, 29.10.)

Zwar muss man mit Kollateralschäden rechnen, aber wenn sie in Moskau anfallen, ist das ein Fiasko, das der Staat zu verantworten hat; man kennt sie ja, die Russen mit ihrer Tonnenideologie; nichts zu merken von dem Feingefühl, mit dem z.B. Amerika in Afghanistan aufgeräumt hat.

Wenn Russland derlei Anfragen nicht prompt beantwortet – stattdessen, wie jeder andere Staat in so einem Fall auch, auf Geheimhaltung Wert legt und im übrigen auch wenig Grund hat, das hinter den Anfragen stehende Interesse, ihm etwas anzuhängen, zu bedienen –, gereicht ihm das zum nächsten Vorwurf: Desinformation. Mit diesem Vorwurf steht nicht nur fest, dass Russland immer noch das rechte Demokratieverständnis abgeht, das sich eben am Respekt seiner Behördenvertreter und Staatsorgane vor unseren Pressefritzen bemisst; die „alten Reflexe“, konstatieren hiesige Medienvertreter, die ziemlich reflexartig das alte Feindbild bei der Hand haben. Wer Desinformation nötig hat, bestätigt damit überdies die schlimmsten Vermutungen und rechtfertigt jede Spekulation über seine verwerflichen Absichten; jedenfalls gilt dieser ‚Schluss‘ bei Russland. In diesem Sinne lanciert u.a. die FAZ unter Berufung auf gewisse Kreise den Verdacht, der russische Staat habe eine Freilassung der westlichen Geiseln hintertrieben, um sich mit einem Blutbad unter diesen die westliche Solidarität für seinen Vergeltungsdrang zu sichern.

So arbeitet man sich zügig zum Kern des Problems vor. Eine Besichtigung der „Hintergründe“ der Geiselnahme führt nämlich überhaupt nicht auf den Sumpf, dem die Terroristen entstammen, wie neulich bei den Taliban. Sie ergibt vielmehr, dass diese in einem von Russland unrechtmäßigerweise geführten Krieg gegen einen freiheitsdurstigen Volksstamm zu suchen sind. Russland braucht sich also nicht zu wundern, wenn es in Moskau von Angehörigen desselben heimgesucht wird, die „aus Verzweiflung zu allem bereit“ sind – die hiesigen Berichterstatter können sich in dem Fall ganz gut hineindenken in die Seele der zu allem entschlossenen Gewalttäter! Und schon gleich braucht es nicht zu meinen, es könnte – ganz nach dem Muster der amerikanischen Weltmacht – aus der Geiselnahme in Moskau sein Recht auf Zuschlagen in Tschetschenien ableiten. Auch Russland kennt Hintermänner und Drahtzieher in Tschetschenien und deutet auf sie – darunter der in westlichen Hauptstädten als gewählter Präsident Tschetscheniens und sogenannter „gemäßigter“ Vertreter der tschetschenischen Sache geschätzte Maschadow, der in dem Zusammenhang mit der Erklärung zitiert wird, seine Mannschaft sei entschlossen, demnächst in Russland Ziele anzugreifen, z.B. AKWs. Aber daraus folgt keineswegs, dass dort unten gründlich aufgeräumt, die Nester ausgeräuchert, der Sumpf trockengelegt und von Nachbarstaaten ausgehende Unterstützung gewaltsam unterbunden werden muss. Es fällt vielmehr auf Russland zurück, weil das damit ja nur auf das eigentliche Problem deutet, von dem es selber die Hauptursache ist; auf ein „hausgemachtes“ Problem eben, wie es so schön heißt, das sich nur zur Infragestellung der Legitimation des Antragstellers herbeizitieren lässt. Dem nützt es deswegen auch nichts, wenn er auch noch Beweise für Verbindungen zum „internationalen Terrorismus“, zu Al Kaida und arabischen Finanziers vorlegt. Das große Schiedsgericht nimmt sie zur Kenntnis, erkennt sie aber als Rechtsgründe für russisches Aufräumen in Tschetschenien nicht an.

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In ihrer Berichterstattung vertritt die hiesige Öffentlichkeit also stur den Standpunkt, dass es Russland nicht zusteht, seinen Gewaltbedarf aus eigener Souveränität zu definieren und zu exekutieren. Als ideelle Genehmigungsbehörde besteht sie unverdrossen darauf, dass sich die Frage, ob der Einsatz russischer Staatsgewalt in Ordnung geht, nicht an den Maßstäben, die in Moskau dafür gelten und reklamiert werden, entscheidet, sondern daran, ob „wir“ ihn für in Ordnung befinden. Und mit diesem Standpunkt liegt sie politisch auf Linie. Mit der gegenüber unserem Freund Putin und seinem Russland irgendwie schwerlich zu umgehenden Verurteilung des Terrorakts sollte ja wirklich nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass Russland nun freie Hand hat, sein Terrorismus-Problem in Tschetschenien zu bereinigen. Vielmehr ist von Seiten der EU und des deutschen Außenministers mit dieser Verurteilung zugleich die Forderung nach einer politische Lösung der Tschetschenien-‚Frage‘ an die Adresse Russlands ergangen, also der Vorbehalt gegen eine militärische Bereinigung der Lage in dieser russischen Republik erneuert worden. Klargestellt worden ist damit, dass Russland sich – Terrorakt hin oder her – keineswegs umstandslos ermächtigt sehen darf, nun die Maßnahmen zu ergreifen, die es für nötig erachtet: Dass die tschetschenischen Kämpfer im Moskauer Theater Terroristen sind, heißt nicht, dass Russland damit zugestanden ist, die Sache, die sie vertreten, als Terrorismus zu verfolgen.

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Bleibt zu klären, was es mit dem fortbestehenden Bedürfnis auf sich hat, Russland in der Tschetschenien-‚Frage‘ zurechtzuweisen, seinen hoheitlichen Gewaltbedarf unter einen Vorbehalt zu stellen. Die westlichen Staaten rücken so die Anerkennung zurecht, die Russland im Zuge seiner Einbindung in ihre Berechnungen erfährt: Dass Russland in wachsendem Maße als nützlicher Partner gefragt ist, bedeutet nicht, dass es Anspruch auf Anerkennung seiner nationalen Interessen hat; auch dann nicht, wenn es sich um ein ziemlich vitales russisches Interesse handelt.

Zu dieser Klarstellung drängt es die USA in letzter Zeit allerdings deutlich weniger als die Euro-Nationen. Amerika gibt sich da generös, spielt das ‚Thema Tschetschenien‘ herunter, das es selbstverständlich jederzeit hochspielen könnte. Aber daran ist man derzeit nicht interessiert. Russland soll schließlich auch weiterhin bereitwillig alles unterschreiben, was Amerika im Rahmen seines Antiterrorismus-Krieges auf die internationale Tagesordnung setzt, d.h. fürs Erste den Waffengang gegen den Irak. Ihm wird in dem Zuge die Ehre zuteil, dass Amerika – wie sich der US-Präsident auf dem Nato-Erweiterungs-Gipfel auszudrücken pflegt – im Kampf gegen den Terrorismus weiter auf Russland setzt. (FAZ, 23.11.) Und außerdem ist man in der kaukasischen Krisenregion mittlerweile selber mit Militär vor Ort: Auf das russische Ultimatum an die georgische Staatsführung, sie habe ihren maroden Laden von antirussischen Kräften, die von dort aus russisches Staatsgebiet infiltrieren, zu säubern oder ihre Souveränität verdiene keinen Respekt mehr, sind die USA formell eingegangen, um es ihren Vorgaben unterzuordnen. D.h., was es dort an Terrorismus zu bekämpfen gibt, definiert sie nach Maßgabe dessen, was sie erledigen wollen. So setzen sie unerwünschten russischen Machtansprüchen im Kaukasus Schranken – was Präsident Bush gegenüber den Russen wiederum so auszudrücken beliebt, dass man gegen Terroristen von Al-Kaida entschieden gemeinsam vorgehen müsse. (ebd.)

Umso mehr meinen die europäischen Staaten klarstellen zu müssen, mit welchem Status sich Russland zufriedenzugeben hat. Sie sind es einfach ihrem Europa schuldig, die Aufwertung, die Russland im Rahmen der neuen Ami-Antiterrorismus-Weltkriegsordnung erfährt oder sich zumindest ausrechnet, wieder ein bisschen zu demontieren. Schließlich darf die etablierte Rangordnung in und um Europa nicht noch mehr durcheinander geraten, in der man für Russland den Platz eines nützlichen Partners vorgesehen hat, es aber als Nation, die politisch anspruchsvoll auftritt, überhaupt nicht brauchen kann. Da kommt es sehr recht, dass man über eine mitdenkende demokratische Öffentlichkeit verfügt, die selbst so frei ist, Russland ganz undiplomatisch zurechtzuweisen.

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Zum strategischen Partner der USA aufgewertet und durch die Erklärung des Sicherheitsrates zur Geiselaffäre ins Recht gesetzt, sieht sich wiederum Russland in der Position, seinen europäischen Nachbarn gegenüber auf mehr Respekt zu bestehen. Sein Botschafter in Berlin stellt klar, dass Russland nicht gewillt ist, es konsequenzenlos hinzunehmen, wenn im Ersten Deutschen Fernsehen von Verzweiflungstätern die Rede ist –

„Soll es dann auch heißen, dass die Terroranschläge am 11. September 2001 von den in die Ecke getriebenen und ‚enttäuschten‘ Al-Kaida-Kämpfern verübt wurden?“ (Brief des russischen Botschafters an Fritz Pleitgen in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands)

und so getan wird, als verhindere Russland eine politische Lösung für Tschetschenien. Eine derartige Berichterstattung sei verwerflich und werfe die Frage auf, mit wem die ARD-Korrespondenten eigentlich sympathisieren: mit den Opfern oder den Tätern? (ebd.). An die Adresse des dänischen Staats ergeht in einer Erklärung des russischen Außenministeriums der Vorwurf, mit der Zulassung der Durchführung des sogenannten Tschetschenischen Weltkongresses auf seinem Territorium eine von den tschetschenischen Terroristen, ihren Helfershelfern und Gönnern aus der Al-Kaida finanzierte Banditenzusammenrottung unterstützt zu haben und damit die Aufrichtigkeit seiner Teilnahme an der internationalen Antiterrorkoalition wie auch die Zukunft der russisch-dänischen Beziehungen in Frage zu stellen. Russland versucht also, die in Sachen Tschetschenien weiterhin intransigenten Euro-Nachbarn auf die von ihnen zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus im allgemeinen und zum Terrorakt in Moskau im speziellen abgegebenen Erklärungen festzunageln, und drängt auf Vollzug. Es stellt sie – wie zu Beginn der Affäre – vor die Frage, welche Art von Beziehungen sie denn haben wollen, ob sie wirklich durch so etwas wie fortdauernde Kollaboration mit antirussisch agierenden Terroristen die Beziehungen aufs Spiel setzen wollen, die sie mit Russland mittlerweile haben und an denen alle Seiten interessiert sind.

Es ist schon bemerkenswert, was der „Kampf gegen den Terrorismus“ unter zivilisierten Nationen so alles aufrührt.