Jetzt doch irgendwann: Europäische Soldaten für Kiew?

Zu Beginn des 3. Ukrainekriegsjahres wird die – längst bekannte – Begründung des deutschen Bundeskanzlers für seine Absage an die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine öffentlich: Deren zweckmäßiger Einsatz wäre ohne Mitwirkung deutscher Soldaten vor Ort nicht zu machen; das käme einer Verwicklung direkter Art in den Ukraine-Krieg gleich. Die menschlichen Opfer und fälligen Verwüstungen sollen weiterhin ausgelagert bleiben. Sofort hagelt es die ebenfalls längst bekannte Kritik.

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Jetzt doch irgendwann: Europäische Soldaten für Kiew?

Am ersten Montag des 3. Ukrainekriegsjahres wird die – schon längst bekannte – Begründung des deutschen Bundeskanzlers für seine Absage an die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine öffentlich: Deren zweckmäßiger Einsatz wäre ohne Mitwirkung deutscher Soldaten vor Ort nicht zu machen; das käme einer Verwicklung direkter Art in den Ukraine-Krieg gleich; die will er vermeiden. Die menschlichen Opfer und fälligen Verwüstungen sollen weiterhin ausgelagert bleiben. Sofort hagelt es die ebenfalls längst bekannte Kritik: Wieder einmal zögert der Kanzler das Notwendige, das zur Verteidigung der Ukraine und Europas Überfällige in unverantwortlicher Weise hinaus – bis es dann doch, aber mal wieder zu spät, gemacht wird. Vorauseilend stricken die notorischen Friedensfreunde von der FDP, den Grünen und den C-Parteien an einer neuen Dolchstoßlegende; mit der Ukraine und der Weltordnung in der Rolle des Opfers.

Am Dienstag danach wird bekannt, welche Konsequenz der französische Präsident anlässlich einer einschlägigen Ukrainekriegsunterstützerkonferenz von mehr als 20 engagierten Staaten in Paris aus dem für den Westen unbefriedigenden Fortgang des großen antirussischen Freiheitskampfes gezogen wissen will: Der Einsatz eigener, von europäischen Ukraine-Freunden mobilisierter Bodentruppen darf nicht ausgeschlossen werden. Prompt sind führende Repräsentanten der regierenden Koalition und der C-Opposition strikt dagegen (nicht so strikt die notorische Mutter Courage von der FDP). So weit reicht der bundesdeutsche Konsens, wenigstens offiziell, also noch: Waffen, mit denen ukrainische Soldaten russische Kräfte auch weit hinter der Front effektiv ausschalten können – jede Menge, jederzeit, unbedingt. Aber das mörderische Kriegselend dürfen weiterhin die Freiheitshelden ukrainischer Nationalität übernehmen. Also doch nicht, so wie von Macron angemahnt, alles dafür, dass Russland den Krieg verliert? Oder gilt dieses ‚Nein‘ auch wieder nur ‚bis auf Weiteres‘, bis die NATO-Arsenale wieder aufgefüllt sind und die Panzerproduktion ins Rollen gekommen ist?

Mal anders gefragt, an die Adresse der aufgeschreckten christlichen und regierenden Nein-Sager: Was haben die sich denn dabei gedacht, wenn sie über zwei Jahre Krieg lang nicht müde geworden sind, einen Sieg über Russland zu ihrer Sache – zum Herzensanliegen Deutschlands und folglich ungefragt zu unser aller Pflicht – zu erklären? Wenn sie über das enorme Maß der praktizierten indirekten Kriegführung des vereinigten Westens hinaus immer noch mehr Waffen, eine quantitativ und qualitativ schrankenlose Eskalation des Gemetzels herbei-gefordert haben? Wenn sie jede Erinnerung an die abschreckende Wucht der Atomwaffen Russlands als völlig übertriebene, weil grundlose Feigheit vor dem Feind abgewiesen haben?

Na gut, die Antwort will man lieber gar nicht wissen. Denn was auch immer sie sich gedacht haben und jetzt denken: Partei ergriffen haben sie erstens für Krieg. Zweitens für Krieg als Mittel, Russland fertigzumachen, um eine europäische Staatenordnung gemäß ihrer weltpolitischen Räson durchzusetzen. Drittens für einen Krieg mit und auf Kosten der Ukraine als Werkzeug. Und zwar logisch in dieser Reihenfolge:

  • Unvereinbarkeitsbeschlüsse gegen andere Gewaltmonopolisten zu fassen und für deren Durchsetzung Krieg zu machen, gehört zum Berufsbild von Leuten, die erfolgreich beschlossen haben, Politiker zu werden.
  • Krieg gegen Russland, bis es von seinem ausgreifenden Sicherheitsbedarf an seiner Südwestgrenze Abstand nimmt und sich als Weltmacht geschlagen gibt, gehört zur Staatsräson der als NATO organisierten Mächte, noch einmal speziell der auf europäische Führungsmacht erpichten Nationen Deutschland und Frankreich, weil Russland mit seiner Kriegsmacht die Vollendung der westlichen Vorherrschaft in der Welt und in Europa speziell blockiert und nachdem dieser Staat seinen Einspruch gegen die Vormacht des Westens kriegerisch geltend macht.
  • Kriegführung beschränkt auf die Ukraine und das russische Hinterland als Schauplatz folgt dem weltpolitischen Zweck Deutschlands und seiner NATO-Partner, der russischen Militärmacht ihre Existenz zu bestreiten, ohne die eigene Existenz als Zentralen des Weltgeschehens aufs Spiel zu setzen.

Mit seinem Vorstoß zum Einsatz europäischer Bodentruppen in der Ukraine macht Macron die Entscheidungssituation kenntlich, die in dem Kriegszweck des Westens enthalten ist und auf die der Krieg zusteuert: Ist der Sieg über Russland jetzt die viel und laut beschworene weltpolitische Existenzfrage der NATO-Mächte – inklusive oder auch ohne USA – ? Oder macht der Westen eine russische Niederlage bis zuletzt zur Existenzfrage allein für Selenskyjs Ukraine?

Die Freiheit, diese Frage gemäß den strategischen Bedürfnissen des Westens zu beantworten, bedarf einer Voraussetzung, die in Deutschland erst noch her- oder jedenfalls fertiggestellt werden muss: Das liebe friedensverwöhnte Volk muss erstens militärisch aufgerüstet und zweitens darauf vorbereitet und eingestimmt werden, dass es sich das Projekt Kriegstüchtigkeit praktisch gefallen lässt und leitkulturell Gefallen daran findet. Bis dahin gibt es noch einiges zu tun. Aber so wie die Rüstungsindustrie in Sachen Hardware, so arbeiten Politik und Öffentlichkeit in Sachen Wille und Bewusstsein an einem Erfolg. Dabei gibt es im Bereich der moralischen Aufrüstung gegen Putins Reich des Bösen nichts wirklich Neues – allenfalls die frohe Aussicht, am Boom der Rüstungsaktien zu verdienen, wenn man genug Geld und den richtigen Vermögensberater hat. Ansonsten gibt es die seit zwei Jahren gewohnte Hetze in immer neuen Auflagen.

Ein produktiver Beitrag zu nationaler Einsichtigkeit in der Kriegsfrage ist aus anderer Richtung zu verzeichnen: Wie die Gewalt des Guten mit einer blutigen Herausforderung durch das Böse fertigzuwerden hat, fertigwerden darf und muss, dafür bietet der Krieg Israels gegen die Hamas in Gaza ein aufbauendes Beispiel. Jedenfalls gemäß der hierzulande allein zulässigen Lesart: Ein terroristischer Überfall berechtigt, nein: verpflichtet die überfallene Staatsgewalt zur Anwendung von allem, was sie an Mitteln hat, und das ganz nach eigenem Ermessen. Opfer, auch wenn sie in die Zehntausende gehen, sind kein Einwand gegen den guten Zweck. Diese Einsicht ist im Sonderfall Israel für Deutschland zwar ein moralischer Sonderfall. Aber so besonders ist er dann doch nicht, dass er sich nicht auf den näher liegenden Fall Ukraine übertragen ließe: Auch dafür gibt er eine brauchbare Lehre her für den schlüssigen Zusammenhang zwischen Staatsräson, Militärgewalt und gutem staatsbürgerlichem Gewissen. Man darf sich nur nicht durcheinanderbringen lassen, für welche Opfer das Stichwort Genozid noch zu schwach und für welche es absolut verboten ist.

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Damit man sich in der weltweiten und der deutschen Zeitenwende wenigstens gedanklich zurechtfindet, bietet dieses Heft Artikel über