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978-3-96221-459-3

GegenStandpunkt 1-22
Politische Vierteljahreszeitschrift

Erscheinungsdatum
25.03.2022

Editorial:


Die Welt erlebt Krieg in der Ukraine. Sie erlebt, wie Staaten für ihren Machterhalt in großem Stil über Leichen gehen. Und weltweit reagieren die Menschen – mit bedingungsloser Selbstverpflichtung zu moralischer Parteinahme. Geht’s noch?

Die Sache wird nicht besser, wenn die nachdenkliche Privatperson zu dem weisen Schluss kommt, dass irgendwie keine der Mächte, die als Kriegsparteien gegeneinander über Leichen gehen, ihre kostbare uneingeschränkte Parteinahme verdient. Man erlebt, wie Staaten über Menschenleben verfügen, wenn es für sie ernst wird in ihrem Gegeneinander. Man erlebt, auch wenn man das Glück hat, nicht vor Ort zu sein, die totale eigene Ohnmacht gegenüber den brutalen staatlichen Verfügungen. Und dann imaginiert man sich als Richter, der über Recht und Unrecht staatlicher Machtentfaltung befindet, schaut von oben herab auf Leichen und Verwüstungen und fühlt sich allen Ernstes zur Antwort auf die Frage berufen: Dürfen die das?

Klar, die Frage stellt sich hierzulande so gut wie kein Zeitgenosse – sie ist ja längst beantwortet. Schon die Feststellung, dass hier Staaten als Kriegsparteien über Leichen gehen – also zeigen, was in ihnen als souveränen Mächten steckt –, ist damit zurückgewiesen: Hier hat doch eine Seite angegriffen, die andere sich nur verteidigt, ist folglich die gute und verdient fraglos Parteinahme. Deswegen noch mal: In der Ukraine wird verwüstet, wird getötet und gestorben, weil Staaten mit der zweckmäßigen Verschleuderung des Lebens ihrer Leute und der Leute ihres Gegners betätigen, was sie als ihr gutes Recht, als mit dem Feind unvereinbare ‚Selbsterhaltung‘, definieren. Und weil einen das nicht kaltlässt, soll es unabweisbar sein, tief im Innern für die eine und gegen die andere Seite zu sein? Man erfährt, was die Privatperson im Krieg zählt, nämlich gar nichts, und wünscht dem Krieg den richtigen Ausgang? Geht’s noch?

In der Ukraine prallen die zwei militärischen Weltmächte aufeinander, die sich überreichlich Gewaltmittel verschafft und deren Einsatz auch schon durchgeplant und vorbereitet haben, um auf einer finalen Stufe ihrer kriegerischen Kollision einen Großteil der Menschheit umzubringen und die Lebensbedingungen auf der Erde zu zerstören. Am ‚Fall Ukraine‘ erleben wir einen ersten Schritt vom kriegerischen Erpressen zum kriegerischen Zerstören, wie er in der Kriegsdoktrin der beiden Weltmächte vorgezeichnet ist. Es ist der Einstieg in die Eskalation, von deren Endpunkt beide Seiten versichern, dass er nie stattfinden darf, und mit dem sie gleichwohl so ernsthaft drohen, dass die Zuständigen einander davor warnen, ernst zu machen.

Soll man als betroffene Privatperson da immer noch Partei ergreifen? Oder soll man wieder in weiser Abwägung beiden Seiten im Blick auf den letzten Übergang gleichermaßen Unrecht geben – zwei Mächten, die stolz darauf sind, kein Recht anzuerkennen als das, das sie sich selbst zuerkennen? Es ist einfach inadäquat, mit dem privaten Moralismus des betroffenen Menschen auf die Brutalität des Rechts zu reagieren, mit dem Staaten, vom kleinsten bis zu den weltvernichtungsfähigen Großmächten, agieren.

Anders sieht es aus, wenn man nicht wirklich als humanitär herausgeforderte Privatperson, sondern als moralisch in Anspruch genommener Staatsbürger denkt und urteilt. Dann ist man Partei, noch bevor man Partei nimmt. Das ist der wirkliche Grund, weshalb eine aufgeweckte Bürgerschaft niemandem Unparteilichkeit durchgehen lässt. Wer die richtige Stellungnahme nicht abliefert, schließt sich aus der Partei aus, die die Nation ergreift, soweit sie im aktuell stattfindenden Staaten-Gemetzel Partei ist. Diese Parteilichkeit wird mit Bildmaterial und Sprachregelungen versorgt, die wiederum den Menschen als empfindende Privatperson rühren (sollen) – und zugleich regelmäßig etwas noch ganz anderes bewirken (sollen): Im von Staats wegen angerichteten Leid und Elend nimmt das informierte Individuum dann nicht mehr seine Ohnmacht gegenüber den Staatsgewalten wahr, die ganze Völkerschaften für ihren Selbsterhaltungswillen funktionalisieren; es versteht sich als Repräsentant der Macht, die über es verfügt. Folglich werden dann auch nicht einfach Opfer bedauert und Täter verabscheut, sondern Waffen für Täter auf der politisch richtigen Seite gefordert und Freiwillige wie Dienstverpflichtete zu Kriegstaten ermutigt.

Zumindest diese geistigen Missgriffe kann man sich sparen – auch wenn es einem weder den Krieg noch die Kriegsbegeisterung empörter Mitbürger erspart – und stattdessen sich und allen, die bereit sind zuzuhören, den Krieg und seine Gründe erklären. Hoffnung kann man daraus zwar nicht schöpfen. Aber wenigstens ist man dann nicht auch noch mit der eigenen Urteilskraft das Spielmaterial der großen bewaffneten Rechthaber.

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