Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Wie ein Präsident demontiert und ein neuer gekürt wird:
Wulff erledigt – Gauck kommt. Ein demokratisches Volks- und Staatsschauspiel über Macht und Moral

Es ist eine Ironie dieser ‚Staatsaffäre‘, dass Wulff ausgerechnet die Qualifikation zum Verhängnis wird, deretwegen ihn die Regierungskoalition 2010 ins Amt gehievt hat: seine Nähe zur praktischen Politik, die für eine passende, erkenntlich politik-, also regierungsnützliche Auslegung seiner geistigen Führungsaufgabe bürgen sollte. Er sollte ja als verlässlicher Profi des Gewerbes seinen Vorgänger Köhler beerben und dessen auf volkstümliche Vertrauenswerbung gemünzte Finanzkapital- und Politikschelte zurechtrücken. Mit seinen ‚Mahnungen‘ hatte Köhler bei den politischen Machern das Vertrauen verspielt, weil er ihr Metier in ihren Augen schlecht geredet hat. Jetzt blamiert Wulff dank des geschärften Saubermann-Geschmacks der ganzen Öffentlichkeit nicht durch seine Reden, sondern durch seine Persönlichkeit erstens seine erfolgreiche Politvergangenheit, zweitens die Politiker, die ihn bestellt haben und drittens „beschädigt“ er damit erst recht das Vertrauen, das er stiften soll.

Bei der Bestellung eines Nachfolgers geht es dann wieder, wie es sich in einem ordentlichen demokratischen Gemeinwesen gehört, andersherum. Der Neue kommt nicht wegen irgendeinem Bedarf des Volks oder gemäß den geschmäcklerischen Erwartungen der Öffentlichkeit an einem würdigen Repräsentanten ins Amt. Die Politik bestellt sich einen für sie Geeigneten, den sie der Öffentlichkeit und dem Volk dann als passende Besetzung für Deutschlands höchstes, überparteiliches Staatsamt präsentiert. In diesem Fall ist klar wie selten, worin die demokratische Eignung des Kandidaten besteht: Seinen amtlichen Befähigungsausweis erhält er durch die Berechnungen der um die Macht konkurrierenden Parteien...

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Wie ein Präsident demontiert und ein neuer gekürt wird:
Wulff erledigt – Gauck kommt. Ein demokratisches Volks- und Staatsschauspiel über Macht und Moral

1. Wulff erledigt

Irgendwann vor Weihnachten beginnt die Öffentlichkeit, die Bild-Zeitung allen voran, mit Enthüllungen über Verfehlungen des Präsidenten Wulff, die jedem, der es wissen wollte, längst irgendwie bekannt waren. Verfehlungen nicht als Präsident – an seinen Reden und seiner Amtsführung hat sich die Öffentlichkeit nicht weiter gestört. Ins Gerede gebracht wird sein politisches Vorleben als Ministerpräsident, genauer: persönliche Kontakte Wulffs zur lokalen Geschäftswelt und allerlei Vergünstigungen, die als Abfallprodukt einer erfolgreichen regionalen Standortpolitik im Verkehr mit der Geschäftswelt allemal anfallen, je nach persönlichem Führungsstil mal mehr, mal weniger: Ferien bei Geschäftsfreunden, ein paar Hotelspesen, ein gesponsorter Oktoberfestbesuch, private Kredithilfe in die eine, eine Landeskreditbürgschaft in die Gegenrichtung. Wie gesagt, alles nicht ungewöhnlich für die Amtsführung eines demokratischen ‚Landesfürsten‘ – aber von den Medien zielstrebig in die Nähe des Korruptionsverdachts gerückt und auf die Frage zugespitzt, ob Wulff in diesen Angelegenheiten nicht das niedersächsische Parlament und die Öffentlichkeit getäuscht hat.

Spätestens als der Angegriffene sein Verhältnis zur Bild-Zeitung strapaziert und per Telefon drohend verlangt, die ‚Kampagne‘ gegen ihn, den Präsidenten, einzustellen – auch so was politisch nicht gerade ungewöhnlich –, ist für Bild der Fall klar: Hier ist radikale öffentliche Aufklärung Pflicht. Also tut das Blatt, was Aufgabe ist; es demontiert unter Einsatz aller Methoden, die Enthüllungsjournalisten mit ihrem Draht zum politischen Konkurrenzgetriebe zur Verfügung stehen, den Mann, d.h. das schöne Bild, das es selber vor zwei Jahren vom Amtsträger mitentworfen hat.

Die Motive, die das Massenblatt bewogen haben mögen, einmal dahingestellt. Über den Inhalt der Kritik, den Gesichtspunkt, unter dem es die Glaubwürdigkeit des Präsidenten misst und vermisst, gibt es erschöpfend Auskunft: Es ist der – jetzt enthüllte – persönliche Umgang des Politikers Wulff mit den Repräsentanten des privaten Geschäfts, der bewertet und angeprangert wird. Er hat sich in seinem Privatleben zu viel „Nähe zur Wirtschaft“ geleistet und damit Anstand, Glaubwürdigkeit und das Gesetz, wenn nicht juristisch, dann, viel schlimmer, moralisch verletzt; den Grundsatz nämlich, dass vor dem Gesetz alle gleich sind, ob Müllmann oder Bundespräsident. Eine reichlich sachfremde, einigermaßen verwegene Vorstellung, die da als Maßstab ordentlicher Politik(er) und als Qualifikationsmerkmal für einen Staatsrepräsentanten fungiert – dass er sich nämlich durch die gleiche Pflichterfüllung auszeichnen müsse wie besagter Müllmann. Die in dieser Figur personifizierten ‚einfachen Leute‘ haben zwar nie in ihrem Leben die Gelegenheit, aus der Nähe zum Geschäft, das sie für sich arbeiten lässt, Vorteile zu ziehen; aber sie haben genau deswegen laut Bild den Anspruch, dass ihre Regenten keine außerplanmäßigen „Boni“ aus ihrem amtlichen „Dienst“ herausholen. Das gehört zum politischen Anstand, der das Vertrauen von unten in die Volksvertreter von oben schafft. In diesem Sinne prüft die Boulevardpresse im Namen des Volkes den Charakter des Präsidenten: ob der als oberster Stellvertreter der Nation die Verehrung verdient, die so erwünscht ist, weil sie der Nation selber gilt. Und sie kommt mehr und mehr zu dem Ergebnis, dass dieser Präsident keine integre Person ist, also die Wertschätzung des Volkes nicht verdient. Nichts dagegen, dass er in einem Schloss residiert – das gehört zum Amt. Nichts gegen die besondere Stellung, welche aus der regulären Macht eines „Landesfürsten“ erwächst. Aber unredlich am politischen Amt und an seiner Nähe zum großen Geld verdienen – das geht nicht. Hier muss laut Bild auf der Gleichheit mit dem gemeinen Volk bestanden werden! Wulff gewähren die Banken großzügig Kredit, der baut sein Haus auf Sonderkonditionen... Das Volk zahlt Urlaubsdomizil und Zeltplatz selber. Herr Wulff lässt sich von denen, die es verstanden haben, sich zu bereichern, in Villen einladen und Flüge bezahlen. Der anständige Bürger lebt bescheiden und von seinem ehrlich verdienten Geld... Die Unterwerfung unter die alltäglichen Härten eines Arbeitslebens, das im Dienst an der Bereicherung der staatlich geförderte Geschäftswelt aufgeht, wird dem Arbeitsvolks als Beweis für seinen Anstand und seine Redlichkeit gutgeschrieben; und dem so kreierten guten Volk soll es ein guter Politiker durch seinen redlichen Herrschafts-Dienst gleichtun. Und wenn er Staatspräsident aller Deutschen sein will, dann soll er auch den volkstümlichen kleinen Vorbehalt gegen das „Ungerechte“ am Kapitalismus verkörpern und gerade in Zeiten der Krise den gebührenden Abstand zum unanständigen Geldverdienen signalisieren statt den Unterschied zum anständigen zu verwischen. Das gehört zur Moral, die Volk und saubere Führung eint. Und ein Bundespräsident, der es an dieser Moral hat fehlen lassen und das noch nicht mal zugibt, verwirkt das Vertrauen, das dem obersten Repräsentanten Deutschlands gebührt.

So bebildert und betreut das nationale Volksblatt den Gerechtigkeitssinn seines von der Politik ja nicht gerade verwöhnten Publikums, auf den es sich dauernd beruft. An der präsidialen Fehlbesetzung führt es ihm vor, welche Tugend es von seinen Oberen für sein Vertrauen in die politische Führung einfordern kann; das heißt umgekehrt aber auch – das der zweite, implizite Teil der Botschaft: was die Unteren zum Fordern berechtigt, das ist ihr Anstand: dass sie die ihnen auferlegten Pflichten selbstverständlich erfüllen.

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Die gehobene Öffentlichkeit überlässt der Bild-Zeitung weder den Enthüllungsjournalismus in Sachen Vorleben des Präsidenten noch die Abteilung moralische Lehren, die aus dem so eröffneten Fall zu ziehen sind. Sie stellt sich auf den ideellen Standpunkt politischer Verantwortungsträger und weiß, wie Staat gemacht und das Volk regiert gehört: durch unbezweifelbare Führungsfiguren. Für diesen Anspruch hat der Präsident mit seiner Person einzustehen: So kommt bei den peniblen Nachforschungen über hundert Kleinigkeiten, von denen fast jede einzelne für sich genommen eine Lächerlichkeit ist (SZ), folgerichtig ‚an den Tag‘, dass hier eine Unperson ausgerechnet das Amt bekleidet, bei dem es am allermeisten auf eine ‚Persönlichkeit‘ ankommt:

Hier ist „das Staatsoberhaupt ... zur Witzfigur geworden“. „Unreif“. (SZ) Verdächtig, „verführbar zu sein“, ein „unwürdiger Rabattkönig des Landes“, „Maschmeyer (Veronica Ferres), Filmball, Groenewold-Partys mit lauter Schauspielern ... Glamour, statt dass er sein Amt so bedeutend und erhebend empfindet, dass er nicht nach weiterer Aufwertung jiepert.“ Kurz: „Er erniedrigt nicht nur sich, sondern auch sein Amt. Er zieht es hinab auf ein Niveau, das nicht zu ertragen ist.“ (Spiegel)

Ja wo sind wir denn! Der oberste staatliche Würdenträger auf Schnäppchenjagd, biedert sich an im mediokren Sternchenmilieu, ist eitel und schwach, beeinflussbar, womöglich bestechlich – eine einzige Beleidigung des Charakterbilds, das man von einem echt souveränen Repräsentanten deutscher Staatsgewalt zeichnet. So einen können Spiegel & Co. nur verachten – und zwar wochenlang immer aufs Neue. Und diese Verachtung hat tatsächlich ein etwas anderes ‚Niveau‘ als diejenige, welche die Kollegen von Bild demonstrieren. Nicht im Namen der Volksmoral, sondern als Erfordernis gelungener Staatskunst erwarten sie von einem würdigen Besetzer des Amtes, dass er dem obersten Staats-Amt zur Ehre gereicht, indem er sich über die Niederungen des geschäftlichen Geschachers und der kleingeistigen persönlichen Eitelkeiten erhebt. Deshalb nehmen sie, die im Wettbewerb mit Bild immer weiter nach „lächerlichen“ Vergehen in Wulffs Vergangenheit fahnden, dem Mann vor allem übel, dass er das hohe Amt nicht frei hält von den Vorwürfen, mit denen er sich und damit das Amt angeblich schwer beschädigt: nicht allein durch seine, von seiner heutigen Stellung aus betrachtet, früheren ‚peinlichen‘ Beziehungen; sondern vor allem dadurch, dass er die Zweifel an seiner Tauglichkeit nicht aus der Welt schafft, indem er seine Verstrickungen mit der Geld- und Glamourwelt zumindest ex post bekennt; dass er also nicht reinen Tisch macht und damit die Unvereinbarkeit des hohen Amtes mit jedem Schein von unlauterer Gunsterweisung und Abhängigkeit bezeugt.

Vor lauter Verlangen nach einem Charakter, der geistig-moralische Führungskompetenz und sonst nichts ausstrahlt, kündigen die Blätter für die besseren Leute dem obersten Mann also die ideelle Zustimmung – und leiden zugleich demonstrativ darunter: Mit dem verlorengegangenen Respekt, der zielstrebig sein Material sucht und findet, ist nicht nur Wulff die Würde los, sondern womöglich auch das Amt, das solche Leute nicht verdient. Das – also die Repräsentation einer über jeden Zweifel erhabenen Staatsgewalt – hat auch nach ihrem so seriösen Geschmack unbedingt einen Besseren verdient.

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Es ist eine Ironie dieser ‚Staatsaffäre‘, dass Wulff ausgerechnet die Qualifikation zum Verhängnis wird, deretwegen ihn die Regierungskoalition 2010 ins Amt gehievt hat: seine Nähe zur praktischen Politik, die für eine passende, erkenntlich politik-, also regierungsnützliche Auslegung seiner geistigen Führungsaufgabe bürgen sollte. Er sollte ja als verlässlicher Profi des Gewerbes seinen Vorgänger Köhler beerben und dessen auf volkstümliche Vertrauenswerbung gemünzte Finanzkapital- und Politikschelte zurechtrücken. Mit seinen ‚Mahnungen‘ hatte Köhler bei den politischen Machern das Vertrauen verspielt, weil er ihr Metier in ihren Augen schlecht geredet hat. Jetzt blamiert Wulff dank des geschärften Saubermann-Geschmacks der ganzen Öffentlichkeit nicht durch seine Reden, sondern durch seine Persönlichkeit erstens seine erfolgreiche Politvergangenheit, zweitens die Politiker, die ihn bestellt haben und drittens „beschädigt“ er damit erst recht das Vertrauen, das er stiften soll.

Allerdings ist mit der öffentlichen Demontage die Republik Wulff und Wulff Amt und Würde noch lange nicht los. So schnell wie der vorletzte Bundespräsident sein Amt hingeschmissen hat, so hartnäckig klebt der Nachfolger an ihm – so sieht das jetzt die Öffentlichkeit. Und so sehen das schließlich auch die, die ihn ins Amt gehievt haben. Die Regierungskoalition macht keine Grundsatzfrage daraus, dass sie sich ihren Präsidenten nicht von der Öffentlichkeit abschießen lässt. Sie stellt sich opportunistisch zur Kritik, statt eindeutig hinter ihn, weil sie durch das erniedrigende und immer unwürdigere Schauspiel Schaden fürchtet – weniger für das hohe Amt als für ihr öffentliches Ansehen beim Wähler und damit für ihren Machterhalt. Sie distanziert sich immer deutlicher, natürlich mit Verweis auf den Respekt vor dem Amt, von ihrem Mann, der selber wissen muss und weiß, was er zu tun hat – was prompt die öffentliche Kampagne am Laufen hält. Die Opposition hält sich aus staatspolitischem Anstand demonstrativ zurück mit ihrer unübersehbaren Kritik am unwürdigen Amtsträger, bietet aber schon mal vorsorglich Gemeinsamkeit bei der Nachfolgesuche an. Schließlich lassen die zuständigen Parteikollegen Wulffs der Staatsanwaltschaft freien Lauf. Damit ist der Fall Wulff erledigt.

2. Gauck kommt

Bei der Bestellung eines Nachfolgers geht es dann wieder, wie es sich in einem ordentlichen demokratischen Gemeinwesen gehört, andersherum. Der Neue kommt nicht wegen irgendeinem Bedarf des Volks oder gemäß den geschmäcklerischen Erwartungen der Öffentlichkeit an einem würdigen Repräsentanten ins Amt. Die Politik bestellt sich einen für sie Geeigneten, den sie der Öffentlichkeit und dem Volk dann als passende Besetzung für Deutschlands höchstes, überparteiliches Staatsamt präsentiert. In diesem Fall ist klar wie selten, worin die demokratische Eignung des Kandidaten besteht: Seinen amtlichen Befähigungsausweis erhält er durch die Berechnungen der um die Macht konkurrierenden Parteien. Das wird von der Anteil nehmenden Öffentlichkeit auch gar nicht übersehen, sondern ausführlich besprochen: dass Gauck, egal, ob er mit seinem Wertekanon zu Grünen und SPD passt, als deren Kandidat von 2010 jetzt erst recht dazu taugt, der Kanzlerin ihre Fehlbesetzung unter die Nase zu reiben; dass die Opposition davon profitieren will; dass es diesmal, wegen der komplementären Berechnungen der C-ler, auf jeden Fall eine solche Blamage zu vermeiden, unbedingt ein gemeinsamer ‚parteiübergreifender‘ Kandidat sein soll; dass die FDP die willkommene Gelegenheit ergreift, sich endlich wieder auf Kosten der übermächtigen Kanzlerin zu profilieren, sich deshalb handstreichartig geschlossen hinter Gauck stellt und damit eine ernste Koalitionskrise heraufbeschwört; dass die Kanzlerin – so kompliziert und zugleich einfach geht politische Eignungsprüfung – zwar mit Gauck viel geistige Verwandtschaft teilt, ihn aber aus Parteigründen schon 2010 abgelehnt hat und diesmal schon gleich nicht will, am Ende aber einen Koalitionskrach dann doch lieber vermeidet ... Nachdem man sich geeinigt hat, bescheinigen alle Parteien dem neuen Mann erst einmal, genau der Richtige zu sein, um den Wertekanon von Freiheit, staatsmännischer und staatsbürgerlicher Verantwortung – mit der gebotenen Überparteilichkeit selbstverständlich – glaubwürdig zu vertreten. Ausgenommen die Linkspartei, die sich ja schon beim letzten Mal mit ihrer Ablehnung des Stasi-Säuberers und unermüdlichen DDR-Unrechtsstaats-Nachtreters aus dem Kreis der guten Demokraten ausgeschlossen hat. So kommt Gauck, der sich geehrt, stolz und gerührt über die Ehre zeigt, die ihm zuteil wird – demokratisch sachgerecht – zu seiner Eignung und zu Amt und Würden. Das alles diskreditiert weder ihn, noch das Amt, noch die, die ihn dazu bestimmen. Die Medienprofis demonstrieren, dass sie sich auskennen, und goutieren die parteipolitischen Winkelzüge und Intrigenwirtschaft bei seiner Kür: Wer da wen über den Tisch gezogen hat, ob Merkel ihren Laden noch im Griff hat, was für ein Coup der FDP da gelungen ist ...

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Allerdings lassen es die Medienprofisdabei nicht bewenden, sondern liefern ihren eigenen Eignungstest nach. Der befasst sich damit, ob die Bürger unten wie oben mit Gauck endlich einen würdigen Vertreter des höchsten Amtes im Staat gewonnen haben.

Für Bild ist die Sache klar:

„Die Mehrheit der Deutschen wollte Joachim Gauck als Bundespräsident ... unglaublich beliebt ... Präsident der Herzen. – Jetzt gauckt’s los – endlich bekommen die Deutschen ihren Wunsch-Präsidenten ... Wird er der neue Vater der Nation ... Distanz zur Parteiendemokratie macht ihn populär... Er kann dem beschädigten Amt die Würde wieder geben... Mit einer Biografie, die ihn zur Integrationsfigur zwischen Ost und West und Deutschen aller Religionen und verschiedenen Lebensläufen macht. Gauck steht für all das persönlich und programmatisch.“

Die Bild-Zeitung hat den falschen Würdenträger aus dem Amt getrieben. Sie, also das Volk, hat sich den neuen, richtigen erkoren. Als hätte das von deutscher Standortpolitik gebeutelte Volk ausgerechnet auf einen Präsidenten gewartet, der dem Volk ein Raus aus der Hängematte der Glückserwartung durch Genuss und Wohlstand ins Stammbuch schreibt, der gegen Hartz IV-Proteste und jedwede Unzufriedenheit anpredigt und der den Ex-DDRlern ein ums andere Mal das Eine nachruft: dass sie jahrzehntelang einem diktatorischen Stasi-Unrechtsstaat gedient haben und deshalb dem neuen vereinten richtigen Deutschland gefälligst dankbar zu sein haben für alles, was es ihnen an freiheitlicher Verarmung, nicht-verstaatlichten Banken und sonstiger privater Geschäftswelt beschert. Bild weiß: Gauck ist der Mann des Volkes, ein demokratisch-patriarchalisches Abbild seines Wunsches nach einem moralisch „integren“ Repräsentanten – einfach das Gegenbild zu Wulff! Damit stellt das Massenblatt zugleich sich selbst das beste Zeugnis aus für seine erfolgreich verlaufene volkstümlich-staatsmoralische Kampagne.

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Die Medien für die klügeren Köpfe im Land prüfen dagegen kritisch nach, ob der demokratisch Auserwählte dem Amt seine staatsmännische Würde zurückgibt. Sie veranstalten einen Kandidatentest, als ob von ihnen – als kundigen Sachwaltern des Präsidentenamtes – in einem Qualitätswettbewerb der beste Anwärter für Deutschland erst noch gesucht und gefunden werden müsste. Maßstab ihrer kritischen Nachprüfung ist ein idealistisches Zerrbild des Amtes, das sich ihrem anspruchsvoller gewordenen Geschmack in Sachen Staatsrepräsentation verdankt. Spiegel, SZ & Co. laufen anlässlich des frisch gekürten Kandidaten zu großer staatsphilosophischer Form auf, und räsonieren methodisch über das rechte Verhältnis von Politik und Moral, das ein Präsident verkörpern und propagieren soll. Dabei erscheint ihnen ihr eigenes Anspruchsniveau als eine schier untragbare Bürde, die so ein Mann zu tragen hat:

„Das schwierigste Amt... Die Erwartungen sind fast ins Unermessliche gewachsen... Der Bundespräsident soll eine Art Staatsheiliger sein, aber ohne zu viel Pathos und ohne dem Alltag entrückt zu sein.“

Er muss den gehobenen Geschmack des feuilletonbelesenen Publikums treffen und große Streitfragen intellektuell ins Schweben bringen. Und vor allem hat er damit die Aufgabe zu erfüllen, die Kluft zwischen Staatsbürgern und politischer Klasse zu schließen (SZ), die eine kritische Öffentlichkeit laufend ausmacht. Kurz: Die seriösen Kommentatoren entwerfen für den ersten Mann im Staat, der nicht über die Macht, sondern nur über die Macht der Rede verfügt, eine Stellenbeschreibung, die von Sehnsucht nach einer gelungenen Verwechslung des Verhältnisses von Politik und Moral nur so trieft. Er muss Politik in Deutschland durch geistige Führung ergänzen, eine moralische Instanz sein, die den Gebrauch der Macht als Vollzug und Gebot höherer Werte adelt. Dieser gehobene Anspruch ans Amt wird dem Kandidaten, der nach dem Verfahren der demokratischer Intrigenwirtschaft ausbaldowert wurde, als öffentliche Dienstanweisung zur geflissentlichen Beachtung nachgereicht und der Anwärter Gauck daran überprüft.

Der öffentliche Eignungstest des Amtskandidaten fällt erst einmal positiv aus: Das müssen sie ihm lassen: Er ist nicht nur integer und prinzipienfest, überparteilich, als antikommunistischer Freiheitsvertreter und Stasiaufdeckungsbehördenchef ein ausgewiesener Anwalt des freiheitlichen Gemeinschaftsgeistes der neuen Republik. Er wird vor allem sicher der Präsident mit der schönsten Sprache (FAZ), beherrscht er als politisierender wortgewaltiger Ex-Pfarrer doch wie kein anderer die Kraft des Wortes. (alle) Und darauf kommt es bei einem Amt ja an, das nicht durch Machtausübung die Güte der Macht zur Anschauung zu bringen vermag. Insofern verdient der Mann bei einer nicht minder wertebewussten und redegewandten Öffentlichkeit einerseits höchste Wertschätzung.

Gleichzeitig aber liefern die öffentlichen Gutachter mit gekonnter Dialektik lauter Einwände nach und nörgeln im Namen ihres hehren Bildes von seiner schwierigen Aufgabe vorauseilend am neuen Mann herum. Nein, einfach vorsetzen lassen sie ihn sich nicht. Und nachdem sie ihn nicht vorher prüfen und für gut befinden durften, kommen ausnehmend kritische Töne auf, bevor der Mann im Amt ist. Integer, ja sicher, kein Mann in persönlicher Nähe zum großen Geld, und ein Parteikarrierist ist er auch nicht. Aber ist er wirklich der bürgerrechtliche Vorkämpfer gewesen, als der er sich stilisiert? Authentische Wir-sind-das-Volk Anführer aus den einschlägigen Kirchenkreisen dürfen das bezweifeln. Wortgewaltiger Prediger, ja schon. Aber sind seine Wertevorstellungen von Freiheit nicht viel zu unkritisch, wenn er Finanzmärkte verteidigt, für Überwachung der Linken eintritt, gegen Hartz-IV- und Stuttgart-21-Proteste anredet, Occupy einfach albern findet und auch soziale Gerechtigkeit nicht sein Lieblingsthema ist? Fehlen da nicht die kritische Distanz zu den Auswüchsen einer unkontrollierten Markt- und Finanzwirtschaft, das Bedauern über die unvermeidlichen Härten des politischen Geschäfts und die passenden Ermahnungen an die allumfassende Verantwortung der für gute Führung im Lande zuständigen Parteipolitiker?

Andererseits: Ist der Mann nicht zu fern, zu abgehoben vom praktisch-politischen Geschäft? Zeigt er nicht viel zu viel kritische Distanz? Ist sein Begriff von Freiheit nicht zu existenzialistisch, DDR-verbildet immer noch auf staatliche Bevormundung fokussiert, statt den hiesigen, demokratisch ausgewiesenen Staat und seine Institutionen als die wahren Garanten der Freiheit hochzuhalten und Bürger, Finanzer und überhaupt alle zu mehr Verantwortung gegenüber diesem Staat zu ermahnen? Trägt er mit seinen pastoralen Predigten nicht zu einer falschen Verachtung der „Tagespolitik“ bei, die zwar oft unschön ausschaut und jede Menge Zumutungen fürs gemeine Volk bereit hält, aber schließlich sein muss? „Stellt (er) den Politikbetrieb“ womöglich in den Schatten seiner blendenden Aura, statt ins helle Licht staatspolitischer Verantwortlichkeit? Umgibt ihn nicht insgesamt der verführerische Glanz des Unpolitischen? Schwingt sich da also nicht einer zum überheblichen Richter über die praktische Ausübung der Macht auf, die er mit verständnisvollen Mahnungen nicht zu richten, sondern moralisch ins Recht setzen hätte? So könnten fatale Folgen drohen:

„Da bedient sich ein starker Politikverdruss eines dafür durchaus geeigneten Kandidaten ... Es scheint, als müsste mit ihm das gute Gewissen der Politik weit über ihrem Alltag schweben, um nicht von ihren Niedrigkeiten infiziert zu werden. Doch genau das Gegenteil wäre richtig. Politik als schmutziges Geschäft zu denunzieren, dem eine erhabene Moral in den Sternen gegenübersteht – genau das ist der Irrtum der Politikverdrossenheit, den Gauck verstärkt, ob er will oder nicht. Die Verachtung für den politischen Nahkampf mit all seinen taktischen Manövern ist eine Krankheit des politischen Idealismus.“ (SZ)

Staatsmännisch besorgter als die Machthaber, die sich bei der Kür ganz andere Gedanken gemacht haben, kümmern sich die einschlägigen Kommentare der seriösen Meinungsbildner also noch einmal ausgiebig um das passende Anforderungsprofil für einen Präsidenten, der perfekt zum Amt passt. Wer kann es ihnen recht machen? Da hatten sie erst ihren aufrechten Köhler, der es mit dem Tadel der Politiker übertrieb. Dann bekamen sie einen Anti-Köhler, selber ein echter Politiker, der aber – aus dem Amtssitz Bellevue heraus betrachtet – es zu gut mit dem Geschäft konnte. Den haben sie deswegen gerade abgeschossen. Und jetzt kriegen sie ihren Anti-Wulff. Einen Sonntagsprediger, konservativ und kritisch zugleich. Und schon wieder stellt sich die Frage, ob er nicht zu nah oder zu fern ist vom irdischen Getriebe. Es ist eine Frage des Geschmacks, wie die Antworten der berufenen Gutachter des Herrschaftspersonals ausfallen, welche Seite der Aufgabe eines Präsidenten sie betonen, der beides zugleich „können“ muss, um sie zufrieden zu stellen: Er soll ein schönes und zugleich realitätstüchtiges Bild der demokratischen Herrschaft in diesem Land vermitteln, also durch die richtige Mixtur von Distanz und Nähe zur harten Welt der Konkurrenz um Geld und Macht den demokratischen Bürgern die Güte der Staatsgewalt sinnfällig machen. Er soll deren Wirken im Licht der Ideale dieser Gewalt interpretieren und sie dadurch adeln – ohne sich des politischen Idealismus verdächtig zu machen!

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Die politischen Parteien bestellen derweil reihum den Kandidaten für das überparteiliche Staatsamt ein, machen Gauck jeweils auf ihre Art klar, dass sie von ihm im Amt mehr erwarten, als er bisher mit seinem am DDR-Unrechtsstaat ausgebildeten Freiheitspathos zu bieten hat, und dass er in jedem Fall an ihrem politischen Sachverstand Maß nehmen muss, wenn er nach Innen wie nach Außen Vertrauen predigt – und zeigen sich anschließend zufrieden.

Soviel politische Aufmerksamkeit und öffentliche Parteinahme für eine zugleich volkstümliche und geistvolle, oben wie unten zufriedenstellende Staatspropaganda im Amt, soviel sachdienliche Hinweise über das Verhältnis von Macht und Moral wie bei diesem doppelten demokratischen Präsidentenzirkus hat das Land noch nicht erlebt. Von wegen: fast eine Staatskrise!