Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Pandemie X: Von der Pandemie zum Pandämonium des Bösen
Die Bürger und ihre ultimative Wahrheitsfrage – wer ist schuld an der ganzen Misere?!

Besorgt registriert man in der Republik sich häufende Zusammenrottungen rechtschaffener Bürger zu „Hygiene-Demonstrationen“, auf denen sie gegen obrigkeitliche Bevormundung, Entmündigung und Schlimmeres protestieren: Allen volksaufklärerischen Bemühungen von Medizinern, Ministern und Moderatoren zum Trotz, die ihr Bestes geben zur Klarstellung der aktuellen Gefährdungslage, fasst sich für sie alles, womit der Staat gegen die Durchseuchung seines Volkes Vorkehrungen zu treffen sucht, in Varianten von Freiheitsberaubung zusammen. Wie sie auf so etwas verfallen können, ist aufgeklärten Zeitgenossen ein Rätsel, das sie im höflichsten Fall mit Kopfschütteln quittieren.

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Pandemie X: Von der Pandemie zum Pandämonium des Bösen
Die Bürger und ihre ultimative Wahrheitsfrage – wer ist schuld an der ganzen Misere?!

1. Vom breiten Spektrum des Wissens in einer demokratischen Wissensgesellschaft

Besorgt registriert man in der Republik sich häufende Zusammenrottungen rechtschaffener Bürger zu Hygiene-Demonstrationen, auf denen sie gegen obrigkeitliche Bevormundung, Entmündigung und Schlimmeres protestieren: Allen volksaufklärerischen Bemühungen von Medizinern, Ministern und Moderatoren zum Trotz, die ihr Bestes geben zur Klarstellung der aktuellen Gefährdungslage, fasst sich für sie alles, womit der Staat gegen die Durchseuchung seines Volkes Vorkehrungen zu treffen sucht, in Varianten von Freiheitsberaubung zusammen. Wie sie auf so etwas verfallen können, ist aufgeklärten Zeitgenossen ein Rätsel, das sie im höflichsten Fall mit Kopfschütteln quittieren. Gleiches gilt im Fall der Allianz von Linksintellektuellen, Künstlern, Rechtsanwälten, AfD-Anhängern, Reichsbürgern und Pädagogen, die sich unter der Parole Widerstand 2020 versammeln. Die Herrschaften warnen vor einer Machtergreifung des Robert-Koch-Instituts in Deutschland, halten Corona für eine Erfindung von Bill Gates, Impfung grundsätzlich für Körperverletzung – und erfreuen sich mit all dem eines regen Zuspruchs von Leuten, die bislang noch nicht mit abweichenden Meinungen auffällig geworden sind. Wie kann man nur so einen Blödsinn glauben?!, fragen sich besonnene Kommentatoren angesichts dieser Manifestationen bürgerlichen Unmuts über die Einschränkung gewohnter Freiheiten und greifen sich demonstrativ ans Hirn über die in den sozialen Medien zirkulierenden Theorien, die aufdecken, welche Pläne die Obrigkeiten mit ihren Übergriffen auf die Freiheit der Bürger insgeheim verfolgen und welche finsteren Mächte in letzter Instanz hinter ihnen stehen und die Fäden ziehen, an denen unser Schicksal in Zukunft hängt. Die Absonderlichkeit dieser Auffassungen spricht für die schlauen Köpfe der Feuilletons für sich, nämlich in der Hauptsache dafür, dass es da offenbar bei nicht wenigen an dem Vermögen zum Durchblick fehlt, über das man selbst verfügt. Das eigene elitäre Selbstbewusstsein stellt man sogleich ein weiteres Mal unter Beweis, fordert zusätzlich zur Reduktion der Infektionsziffern eine Abflachung der Kurve von Unvernunft und Dummheit und trauert einem glücklichen epistemologischen Moment nach, der in Anbetracht des um sich greifenden Unsinns im Begriff sei zu verschwinden...

Diese Feier der Vernunft im Land ist nach der Expertise über den Geisteszustand ihrer Mitbürger die nächste intellektuelle Entgleisung, die diese Wächter der Political Correctness im Denken sich leisten. Denn was ihnen bei ihrem Urteil vor Augen steht, ist nichts weiter als die ausnahmsweise Rolle, die den Fachleuten für Viren und ihre Verbreitung bei der politischen Bewältigung der Corona-Krise einige Wochen lang zukommt. Sie firmieren nicht wie gewohnt als Berufungsinstanz zur Legitimation politischer Beschlüsse, sondern sind als fachliche Autorität anerkannt, an deren Votum die Entscheidungsträger in den Parlamenten sich zu orientieren vornehmen – so weit jedenfalls, wie dies ihre Amtsgeschäfte und all das andere, das sie bei deren Wahrnehmung nicht aus den Augen verlieren dürfen, zulassen. Und da sollte man in seiner Begeisterung darüber, dass demokratische Machthaber in dem Notfall, in dem ihnen die Volksgesundheit vordringlichstes Anliegen ist, dem überparteilichen, durch kein Interesse bestochenen Votum der Wissenschaft ihre Reverenz erweisen, schon nicht gleich alles ignorieren, was im etablierten demokratischen Diskurs in Sachen Wahrheit auch noch unterwegs ist und sich ganz problemlos als öffentliches Wissenselement neben all die anderen einreiht, die Tag für Tag von den Instituten in Berlin, Bonn und Braunschweig veröffentlicht werden. Zu erwähnen sind da die immer wieder aufgetischten stereotypen Lerneinheiten über das Land, in dem die Pandemie ihren Ursprung hat. Die zeichnen sich dadurch aus, dass unter dem Titel ‚Aufklärung‘ zwar alles Erwähnung findet, was man in China peu à peu über das Virus herausfindet und zur Grundlage der Beschlüsse macht, mit denen man dessen epidemischer Verbreitung Herr zu werden sucht, dies alles aber nur zu einem gut ist: der kommunistischen Zentralregierung in Peking nachzusagen, dass sie in allem, was sie da unternimmt, in der Hauptsache nur die Unterdrückung ihrer Völkerschaften vorantreibt. Mit Sperrzonen, Videoüberwachung und Biometrie auf dem Smartphone richtet sie ein erstes flächendeckendes Kontrollsystem ein, um das demnächst übers ganze Land zu erstrecken. Im Wesentlichen vertuscht und verheimlicht sie alles Wichtige und Wissenswerte, vermutlich deshalb, weil sie selbst – durch ihre eigenen Versäumnisse, vielleicht aber auch durch eigenes Tun – hinter dem Ausbruch der Seuche steckt. Dem seriösen Journalismus, der mit derartigen Einsichten über eine Epidemie aufwartet, macht es überhaupt nichts aus, wenn Virologen erst in Italien und dann auch hier nach Studium der Daten aus China zu dem Ergebnis gelangen, dass die Behörden dort gar nicht viel verkehrt gemacht haben: Das wird überhaupt nicht verschwiegen – nur um gleich im Anschluss das feststehende Vorurteil vom Unrechtsstaat China ein weiteres Mal mit dem Bemerken zu untermauern, dass die Kommunisten Erfolge im Kampf gegen die Seuche nur inszenieren, um von ihren menschenfeindlichen Machenschaften abzulenken. Was man als deutscher Bürger vom Krisenprogramm Chinas, aber auch in dem einen oder anderen näheren Nachbarstaat zu halten hat, bemisst sich unverhohlen am Grad der Verurteilung, der man die dort regierenden Machthaber von hier aus zu unterziehen pflegt, und die phantasievollen Konstruktionen, die da zur Pflege des feststehenden Feindbildes ersonnen werden, stehen den erlesenen Blödheiten in nichts nach, die sich manche Privatleute zur Krisenpolitik Merkels ausdenken.

Letztere verraten auch noch in einer anderen Hinsicht, dass sie in ihrer gedanklichen Verwegenheit alles andere als ein Verstoß gegen die in der Demokratie üblichen Sitten der politischen Urteilsbildung und die geltenden Standards des einschlägigen Wissens sind. Sie folgen ganz dem Muster der Politikbeurteilung, auf das sich hierzulande insbesondere die parlamentarische Opposition kapriziert und das seiner Logik nach darin besteht, mit Verweis auf unerledigte oder eingerissene Missstände, übersehene Fehlentwicklungen oder sonstige im Volk Unmut erregende Versäumnisse die regierenden Amtsinhaber als die für die angeprangerten Übel Schuldigen haftbar zu machen. Unter strikter Nichtbefassung mit allem, was die Sache, den politisch-herrschaftlichen wie ökonomischen Inhalt der ausgeübten Macht betrifft, den die Regierenden in Gestalt des in ihren Ämtern institutionalisierten Aufgabenkatalogs vorfinden, nach allen rechtsstaatlichen Regeln abarbeiten und am Ende in die Rechtsformen gießen, die das bürgerliche Leben in einem Standort des Kapitals in die gewünschten Bahnen bringen, legt man ihnen eine nicht perfekte Amtsführung zur Last. Weil im kritischen Diskurs der Demokratie alles gebilligt ist und für in Ordnung befunden wird, was die Räson der Herrschaft betrifft, der kapitalistische Sinn und Zweck der Gewalt, die ausgeübt wird, außer jeder Diskussion steht und nur die Frage offenbleibt, wie gut er befördert wird, kapriziert sich die Kritik ganz aufs Personal der Macht, um derart die vielen Unzufriedenen im Land darüber ins Bild zu setzen, wem sie ihr Ungemach zu verdanken haben und warum: Die, die gerade regieren, verstehen sich nicht gut auf ihr Handwerk und gehören durch andere ersetzt, die es besser können.

In friedlicher Koexistenz mit allen wissenschaftlich-senkrechten Verlautbarungen der Virologen und Epidemiologen zu Gründen, Erscheinungsformen und Verlauf der Pandemie sorgen so bewährte Methoden des politischen Diskurses in der Demokratie dafür, dass es sich beim Wissen in der Wissensgesellschaft um eine ziemlich relative Angelegenheit handelt. Ob bei der Beurteilung der Regierungskunst ausländischer Potentaten oder der der eigenen Regierung: Was da als Wissensbestand der Gesellschaft zirkuliert, hängt ganz davon ab, was einer von der Welt, in der er lebt, wissen soll und dann auch nur wissen will, und um das diesbezügliche Anspruchsniveau scheint es hierzulande nicht besonders gut bestellt zu sein. Für ziemlich viele Bürger liegt angesichts einer pandemischen Infektionskrankheit, über die Experten wenig wissen, alles wirklich Wissenswerte auf der Hand – ohne dass sie sich über Viren, Pandemien oder auch nur über das Herrschaftswesen im eigenen Land groß hätten Gedanken machen müssen.

2. Vom beschränkten Wissensdurst selbstbewusster Bürger

Andere freilich machen sie sich natürlich schon, denn ganz von allein stellt es sich überhaupt nicht ein, dass die Schuldfrage, die von den Profis der öffentlichen Meinungsbildung regelmäßig erst aufgeworfen und dann beantwortet wird, bei ihnen auf derart reges Interesse stößt und das Aufdecken von Hintermännern bei jedem sich zu ‚Corona‘ bietenden Anlass zum Volkssport wird. Entgegen der Auffassung der eingangs zitierten Klugscheißer, die da gerne auf geistige Defizite bildungsferner Kreise zurückschließen – dummes Pack, Pöbel und so –, liegt diesem Vergnügen nämlich der positive Gebrauch desselben geistigen Vermögens zugrunde, das die elitären Kritiker bei den Dummheiten in Abrede stellen, die sich andere leisten: Wie einer beim Versuch, sich auf irgendetwas einen verständigen Reim zu machen, von der Intelligenz Gebrauch macht, die der Mensch nun einmal hat, macht den Unterschied von Vernunft und Unvernunft aus, und warum ausgerechnet Leute, die sich partout nicht für dumm verkaufen lassen wollen, ihren Verstand derart zweckwidrig nutzen, dass sie nur noch Blödsinn im Kopf haben, lässt sich schon auch erklären.

Im vorliegenden Fall nimmt das Verhängnis seinen Lauf mit den Erfahrungen, die die große Mehrheit der Deutschen mit den Restriktionen macht, die die Regierung mit ihren Maßnahmen gegen die Verbreitung der Infektionen mit dem Coronavirus in Bezug auf ihre alltägliche Lebenspraxis erlässt. Was deren materiellen Gehalt angeht, ist noch alles in Ordnung, weil sich über den keiner der Betroffenen täuschen kann. Ausgiebig zählen die Bürger ihre beschädigten Interessen auf, finden sich mit denen auch offiziell anerkannt und eingereiht in der Rubrik der Kosten, Abteilung ‚soziale‘, die die Pflege der Volksgesundheit dem Gemeinwesen beschert: Die einschlägigen Maßnahmen laufen für sehr viele auf eine erhebliche Beschneidung ihres Lebensunterhalts, für nicht wenige auf Existenzbedrohung und für manche unabwendbar auf die Vernichtung derselben hinaus; die Freizeit, die man mit seiner verfügten Freisetzung von den Zwängen des Arbeitslebens gewinnt, besteht mehrheitlich im Aushalten der Entbehrungen eines Familienlebens von zu vielen in zu kleinen Räumen mit zu wenig Mitteln, um wenigstens halbwegs ohne Sorgen über die Runden zu kommen oder auch nur die Zeit erträglich totzuschlagen; in besseren Kreisen pflegt man an der Kombination von Home-Office beider Elternteile und Kindererziehung zu laborieren, was auf höherem Niveau das Leben zur Hölle macht; gesamtgesellschaftlich droht mit dem Wegfall kompensatorischer Vergnügungsmöglichkeiten vom Shopping bis zur Kneipe nach Expertenmeinung die Zunahme häuslicher Gewalt und von Selbstmord- und Scheidungsraten nicht nur bei den Bildungsfernen, usw.

Aber auch das sichere Wissen um den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, der hier vorliegt, bietet keine Gewähr, dass man sich bei der weitergehenden Ursachenforschung nicht doch gründlich vertut. Die Ursache der beschädigten Interessen, die sie zu verzeichnen haben, ist den Bürgern natürlich bekannt, sie sind eben die Wirkung der politisch verfügten Stilllegung des kapitalistischen Wirtschaftslebens in Teilbereichen von Produktion und Zirkulation, und wer den Grund seines eigenen und des Schadens so vieler anderer wissen will, also eine Auskunft auf die Frage, warum diese Ursache diese Wirkung nach sich zieht, weiß, wo er zu suchen hat: Die Notwendigkeiten des kapitalistischen Normalbetriebs gilt es zu ermitteln, die dafür verantwortlich zeichnen, dass ihre schiere Suspendierung so katastrophale Folgen für die Mehrzahl der Beteiligten hat. Vor einem so großen Rätsel steht einer an sich auch da nicht, denn wenn die Freisetzung von Lohnarbeit, mit der man sich seinen Lebensunterhalt gemeinhin verdient, unmittelbar dem Ruin der eigenen Existenz gleichkommt, dann steht vom Entgelt, das man für den regelmäßigen Dienst an der Mehrung fremden Eigentums erhält, eines ja schon mal fest: Als Mittel zur Sicherung der eigenen Existenz taugt es offenbar nicht. Doch dieselben Bürger, die da gerade verbreitet Erfahrung mit der Untauglichkeit ihres Lebensmittels machen, verweigern sich durch die Bank der Einsichtnahme in diese praktische Wahrheit ihrer Lebensumstände – und legen sich den Grund ihres Schadens genau andersherum zurecht: Er liegt für sie darin, dass sie um die Tauglichkeit ihres Lebensmittels gebracht werden, und wer daran schuld ist, ermitteln sie dann auf unterschiedliche Weise.

In seiner schweigenden Mehrheit begnügt der bürgerliche Verstand sich bei diesem Verhauer damit, der teilweisen Außerkraftsetzung seiner Eigentums-, Vertrags- und sonstigen Rechte so zu begegnen, wie er es sich in seinem alltäglichen Umgang mit allen Gegebenheiten zur Gewohnheit hat werden lassen, die nun einmal zum Leben in der Welt der kapitalistischen Konkurrenz gehören: Er passt sich an sie an und versucht, für sich das Beste aus ihnen zu machen. Er nimmt sie als das, was sie sind, als Bedingungen, die er für seinen privaten Erfolg vorfindet, jedoch stets im doppelten Sinn des Wortes, nämlich als Einrichtungen, ohne die sein Erfolg nicht zu haben ist, und zugleich als solche, die sich aus dem einzigen Grund, weil es zu ihnen keine Alternative gibt, als Mittel seines Erfolges zu bewähren haben. Diese vom Interesse an der praktischen Nützlichkeit für die eigenen Belange diktierte Urteilsbildung über die Lebensumstände, in die es einen verschlagen hat, garantiert zwar nicht den Erfolg, um den es den Beteiligten geht, bewährt sich dafür aber als Methode, mit der sich mit seinem regelmäßigen Ausbleiben und den allfälligen Enttäuschungen darüber leben lässt: Hat man sich einmal zu ihr entschlossen, lässt sich die Lebenslüge, ganz Herr der Lage und seines Schicksals zu sein und es – im Prinzip jedenfalls – mit allem, was einem als Mittel zu dessen Meisterung zu Gebote steht, nicht schlecht getroffen zu haben, durch keine schlechte Erfahrung widerlegen. Zwar könnten die Bürger dem Maß ihrer höchstpersönlichen Betroffenheit durch die Corona-Krise eindeutig entnehmen, wie es in ihrem Fall um die Verteilung von Erfolg und Misserfolg beim Mitmachen in der kapitalistischen Konkurrenz bestellt ist, und von sich würde da wohl auch keiner behaupten, im normalen Leben vor Corona das große Los gezogen zu haben. Aber sich bei Gelegenheit der Unterbrechung des Lebenstrotts, in dem man sich eingerichtet hat, Rechenschaft darüber abzulegen, wie weit man es mit dem gebracht hat, wenn man jetzt, wo er unterbrochen wird, schlagartig vor dem Nichts steht; sich womöglich einzugestehen, dass die eigenen Opfer, die einem durchaus bewusst sind, sich nie auszahlen, und man sich den Fehler besser nicht mehr leistet, sich zum eigenen Schaden allem zu fügen, was einem beim lebenslangen Dienst als Manövriermasse von Kapital und Staat als Pflicht auferlegt wird: Das kommt für sie einfach nicht infrage. In ihren miesen Lebensumständen haben sie sich derart fest eingehaust, dass sie sich auch dann noch, wenn ihnen die Quelle ihrer notorischen Unzufriedenheit abhandenzukommen droht, für sich einfach nichts Besseres vorstellen können als eine Rückkehr zum normalen Leben: Besser lausige Chancen als gar keine.

Derart stellen sie sich auch zu den Folgewirkungen der staatlichen Krisenpolitik wie zu allem anderen, womit sie es zu tun haben: Als Notwendigkeiten, an denen nun einmal nichts zu ändern ist, an die sie sich so anzupassen haben, wie es von ihnen verlangt wird. Wie so vieles, was ihnen an Schicksalsschlägen und Wechselfällen des Lebens widerfahren ist und ihre Erfolgsrechnungen durchkreuzt hat, schultern sie auch die ihnen jetzt zugemuteten Härten in der Berechnung, dass es ja auch wieder einmal aufwärtsgehen wird, Geduld sich schon auszahlt – aber eben auch im Bewusstsein des guten, aus dem eigenen Gehorsam abgeleiteten Rechts, auf die Pflichterfüllung auch aller anderen pochen zu dürfen. Von denen, die für den Gang des Ladens verantwortlich sind, wollen die Bürger daher nicht nur wissen und gesagt bekommen, wann der wieder so läuft, wie sie es vor Corona gewohnt waren: Wichtig zu wissen ist für sie vor allem, dass nichts versäumt wird, was die versprochene Rückkehr zum kapitalistischen Normalbetrieb zu befördern verspricht, sodass die einschlägigen Verlautbarungen der Regierenden manchmal schon auch mit zweifelndem Stirnrunzeln begleitet werden. Mehrheitlich aber ist der bürgerliche Verstand noch mit seiner Erkenntnis zufrieden, dass letztlich nur der Zufall einer Viren-Epidemie daran schuld ist, dass er sich in seiner ewigen Kunst der Einteilung und Selbstbeschränkung vor noch mehr Herausforderungen gestellt sieht als sonst im gewöhnlichen Leben...

3. Vom enttäuschten Vertrauen in die politische Führung zur Entlarvung des Bösen, von dem das Volk in Wahrheit durchseucht wird

Derselbe affirmative bürgerliche Geist ist allerdings auch für einen Übergang gut, der zur Aufkündigung eines derart grundsoliden Vertrauens in die Kunst der Regierung schreitet – und seine Exponenten wegen der Begründungen für ihren Entschluss in den Verdacht bringt, nicht alle Tassen im Schrank zu haben. Noch sind sie zwar in einer überschaubaren Minderheit, aber wenige sind es auch nicht gerade, die in ihrer Parteinahme für die Sitten einer bürgerlichen Konkurrenzordnung, die sich ihrer Ansicht nach für ein freies Individuum gehören, so weit gehen, dass sie die Gefahr, Opfer einer Seuche zu werden, für einen Fake und lauter selbstgebastelte Fakes über den Sinn und Zweck der staatlichen Seuchenpolitik für die Wirklichkeit halten.

Mit der großen schweigenden Mehrheit der unauffälligen Angepassten haben die Bürger, die auf den eingangs erwähnten Foren in Öffentlichkeit und Internet auf sich aufmerksam machen, den Fehler gemeinsam, ihr Interesse zum Leitfaden des Nachdenkens über Gott und die Welt zu erheben. Dieser wächst sich bei ihnen dazu aus, ausgerechnet eine Politik, die im Interesse des weiteren reibungslosen Funktionierens des gesellschaftlichen Lebens für seinen kapitalistischen Zweck die zeitweilige Suspendierung seines gewohnten Gangs verfügt, dem Verdacht zu unterziehen, insgeheim die Abschaffung der bürgerlich-freiheitlich-kapitalistischen Grundordnung zu betreiben. Das ist kein Fall von Bewusstseinstrübung oder sonst eine Form geistiger Unzurechnungsfähigkeit, sondern die konsequente gedankliche Zuspitzung der Enttäuschung von Leuten, die es nicht fassen können, von den Regierenden um ihren ganzen bürgerlichen Lebensinhalt gebracht zu werden: Anstatt ihnen zu ermöglichen, sich in freier Selbstverantwortung um ihren Erfolg zu kümmern, was nach ihrer Auffassung doch vornehmste Pflicht einer Regierung ist, wird ihnen von Merkel & Co eben das verwehrt! Weil sie dies für ein Ding der Unmöglichkeit halten, für sie nicht wahr sein kann, was ihnen missfällt, bestreiten sie den Regierenden jeden sachlichen Grund ihrer Entscheidungen und stellen den politischen Zweck kurzerhand komplett in Abrede, dessen Folgen ihnen nicht passen. Was dann von der Politik übrig bleibt, sind die Deutungen dieser Folgen im Wege ihrer Zurückführung auf den wahren Zweck, um den es der Regierung geht: um nichts anderes als Freiheitsberaubung und Entmündigung ihrer Bürger. Und weil sie das natürlich nicht offen sagen kann, stilisiert sie ein lächerliches Virus zur gesamtgesellschaftlichen Großgefahr und sich selbst zum Retter des Volkes vor seiner fortschreitenden Dezimierung.

Damit hat sich der bürgerliche Verstand von jeder Befassung mit dem materiellen Schaden, an dem er sich stößt, wie mit allen politischen wie ökonomischen Gründen, denen er ihn zu verdanken hat, erfolgreich abgeseilt und an deren Stelle die moralischen Koordinaten ins Bewusstsein gepflanzt, mit denen er unter Zuhilfenahme einschlägiger Phantasien ganze Bilderwelten konstruiert, um seine fixe Idee von der Machtergreifung des Bösen in der Demokratie unserer Tage überzeugend vor Augen zu stellen. Die Einfälle, die so zustande kommen, sind überschaubar: Sie laufen allesamt darauf hinaus, einen Ersatzgrund für das grundlose Agieren der Mächtigen plausibel zu machen, und der liegt regelmäßig darin, dass Missbrauch von der Macht zu verzeichnen ist, wo sie ihren Dienst an der Freiheit ihrer Bürger schuldig bleiben. Also lernt man einen Willen kennen, der nichts weiter will als das Böse, Unterdrückung um ihrer selbst willen betreibt und Macht ausübt, um Macht auszuüben, und weil das ohne die Person, die Derartiges will, nicht zu denken ist, geraten die einschlägigen Bemühungen der Personifizierung des Bösen sehr holzschnittartig und gehorchen der Maxime, dass der Erfolg beim Rufmord grundsätzlich jedes Mittel heiligt: Die deutsche Kanzlerin wird als In-vitro-Geburt mit Großverbrecher Hitler als Samenspender enttarnt, Dr. Seltsam residiert als Chef-Virologe in der Charité und plant dort strategisch die Welteroberung, seine Kollegen betreiben die klandestine Machtergreifung via Politikberatung in Berlin, usw. Nicht besser fallen die Werke aus, die unter dem Titel Verschwörungstheorie zirkulieren und dem Namen nach suggerieren, sie hätten einen Gegenstand und bestünden nicht nur aus einer Volte der Moral. Davon kann keine Rede sein: Sehr selbstbewusste und sich um ihre freie Entfaltung betrogen vorkommende Bürger bedienen sich da des reichen literarischen Schatzes, zu dem es untertäniger Kollektivgeist über die Jahrhunderte bei der Suche nach den Schuldigen gebracht hat, denen anständige Völker den ewigen Reigen von Krieg, Hunger, Pest und Cholera zu verdanken haben, und frischen die Märchen von den jüdischen Brunnenvergiftern und Plutokraten nur durch zeitgenössisches Personal auf, damit jeder sieht, dass das Böse wirklich immer und überall ist. Also kauft Bill Gates die WHO, um die Weltbevölkerung wahlweise mit Viren oder seinem Impfstoff zu vergiften oder mit 5 G und Mikrochips zu Marionetten seiner Willkür zu degradieren; viel deutet darauf hin, dass Satan höchstpersönlich seine Finger mit im Spiel hat, es gibt da so Symbole, die bis zu den Jesusmördern in Israel führen; wer Roth-Händle raucht, frisst auch kleine Kinder, also weisen kirchliche Experten für mephistophelische Abgründe darauf hin, dass der Mensch in seiner Hybris des Impfens über abgetriebene Föten geht...

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Der Wille zum hartnäckigen Festhalten an der Fiktion eines selbstbestimmten Lebens in der vom Kapital fremdbestimmten, vom Staat reglementierten Realität geht ersichtlich weit. Bei Bedarf entschließt sich das bürgerliche Subjekt auch mal zu einer kompletten Auszeit vom verständigen Denken, vergisst seine Befangenheit in angepassten Berechnungen und mobilisiert sein geistiges Vermögen dafür, sich die Welt als eine von teuflischen Mächten beherrschte Veranstaltung zurechtzuphantasieren, die ihren ganzen Sinn und Zweck darin hat, entschlossene Mitmacher des bürgerlichen Lebenskampfes um den verdienten Lohn für das eigene erbitterte Mitmachen zu bringen. So kommt es – das ist allerdings auch dafür nötig –, dass ausgerechnet Leute, die sich an Rechtschaffenheit und Pflichtbewusstsein durch nichts und von niemandem überbieten lassen, ihrer Obrigkeit nicht bloß gehorsame Zustimmung verweigern, sondern demonstrativ die Gefolgschaft aufkündigen und sich in ihrer Empörung über den Verrat der Herrschenden an ihrem abendländisch-kapitalistischen Lebenssinn sogar zu Rechtsbrüchen hinreißen lassen.

PS:

In der Zwischenzeit erreichen uns Zuschriften, die sich daran stören, dass wir ein Moment von Vernunft in der Pandemie-Politik entdecken, weil diese sich ausnahmsweise nach wissenschaftlichen Erkenntnissen richtet, statt sie nur zur Rechtfertigung ihrer Maßnahmen zu zitieren. Unsere Kritik daran, welchen Zwecken dieses Kümmern um die Volksgesundheit dient, interessiert die Schreiber nicht; ebenso wenig unser Nachweis, dass und wie der schöne Schein wissenschaftlicher Vernunft in der demokratischen Konkurrenz Verwendung findet. Wir werden vielmehr aufgefordert, die Wissenschaft zu kritisieren, auf die so gut wie alle Staaten sich bei ihren wirtschaftsschädigenden Eingriffen ins Gesellschaftsleben beziehen.

Das ist deswegen etwas viel verlangt, weil ein sachlicher Einwand gegen die Epidemiologie oder die Virologie, auf den man sich beziehen könnte, in den Zuschriften nirgends vorgebracht wird. Alles, was zur Sache erforscht und berechnet wird, ist außerdem in einschlägigen Publikationen nachzulesen. Die Auseinandersetzung, die uns da angetragen wird, hat eben gar nicht die medizinische Wissenschaft zum Gegenstand, sondern die Bedeutung, die die im Ausnahmefall der Corona-Epidemie für die staatliche Gesundheitspolitik bekommt – zumindest vorübergehend und in zunehmend heftigem Widerstreit mit den Anforderungen der allemal darüber stehenden Räson des staatlich zu hütenden Kapitalismus.

Es ist eine fatale Thema-Verfehlung, die nicht bloß in den Zuschriften an unsere Adresse stattfindet: Sobald die Standortpolitik einer bürgerlichen Staatsgewalt zu Maßnahmen greift – zu greifen sich genötigt sieht –, die wie ein Abstandnehmen von den Imperativen systemgemäßer Standortverwaltung wirken oder auch nur so aussehen, dann wird ein Volksgemurmel laut – ermuntert durch einschlägig engagierte Wirtschaftslobbys und politische Parteien –, das nicht den Zwecken der Politik, sondern der Wissenschaft eine Absage erteilt. Und das durch Argumente auch nicht zur Vernunft zu bringen ist, weil es die Wissenschaft, die da für die Politik haftbar gemacht und verworfen wird, gar nicht als die Erarbeitung von Wissen versteht, sondern als eine Sache, die man glauben soll – ‚Wissenschaftsgläubigkeit‘ ist der Titel dafür. Verteidigt wird die Wissenschaft genauso schlecht, nämlich auf derselben Ebene – und das nicht nur durch Politiker, die sich ihrer bedienen, sondern durch Macher und Anwälte einer seriösen Öffentlichkeit und oft genug durch die Wissenschaftler selbst: Sie alle verteidigen die Wissenschaft als Sache, an die zu glauben in unserer aufgeklärten Gesellschaft doch gute Sitte ist und sich im Großen und Ganzen auch praktisch bewährt habe, daher auch weiter praktiziert werden sollte. Diese Verteidigung der Wissenschaft hat nicht die banale Tatsache zur Grundlage, dass kein Mensch im gesamten Kosmos wissenschaftlicher Erkenntnisse firm sein kann; vielmehr den eher betrüblichen Umstand, dass den Insassen der modernen Wissensgesellschaft praktisch durchweg die Erfahrung abgeht, ein relevantes Stück der wissenschaftlich erklärten Natur einmal wirklich begriffen zu haben. Was sie stattdessen für Wissen halten, sind alternative Antworten auf die Schuldfrage, die der bürgerliche Verstand an alles richtet, was ihn irgendwie stört – ein Quidproquo, das den Leuten von Kindesbeinen an nahegebracht wird.