Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Wenn demonstrierende Demokraten ihren Politikern einmal das Wort verbieten ...

In Berlin gehen 50 000 unter der Parole: „Mal richtig abschalten. Stilllegung aller Atomkraftwerke weltweit“ auf die Straße. Politikern erteilen die Veranstalter Redeverbot. Nur Vertreter der Atom- und Umweltbewegung, der Kirchen und Gewerkschaften dürfen reden, nicht aber Vertreter der politischen Parteien, noch nicht einmal die Spitzen der Grünen. Mit Politikern und Wahlversprechen hat die Bewegung nämlich bereits schlechte Erfahrungen gemacht und zeigt sich belehrt: „Wir haben unsere Lektion gelernt: Traut der politischen Klasse nicht. Wir bauen nicht auf Parteien, wir setzen auf die eigene Kraft.“ (Ehmke, Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg)

Fragt sich nur, wofür da die „eigene Kraft“ eingesetzt wird.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Wenn demonstrierende Demokraten ihren Politikern einmal das Wort verbieten ...

In Berlin gehen 50 000 unter der Parole: Mal richtig abschalten. Stilllegung aller Atomkraftwerke weltweit auf die Straße. Politikern erteilen die Veranstalter Redeverbot. Nur Vertreter der Atom- und Umweltbewegung, der Kirchen und Gewerkschaften dürfen reden, nicht aber Vertreter der politischen Parteien, noch nicht einmal die Spitzen der Grünen. Mit Politikern und Wahlversprechen hat die Bewegung nämlich bereits schlechte Erfahrungen gemacht und zeigt sich belehrt: Wir haben unsere Lektion gelernt: Traut der politischen Klasse nicht. Wir bauen nicht auf Parteien, wir setzen auf die eigene Kraft. (Ehmke, Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg)

Fragt sich nur, wofür da die eigene Kraft eingesetzt wird. Schon die Wahl des Zeitpunkts und erst recht das Fazit, das die Veranstalter nach dem Ende ihrer Kundgebung ziehen, machen klar, dass die Atomgegner nach wie vor auf die Parteien bauen und keineswegs genug vom Wahlkampf haben: Die Organisatoren werteten die Veranstaltung als Zeichen, das vor der Bundestagswahl bei allen Parteien auf Beachtung stoßen müsse. (SZ, 7.9.09) Die Anti-Atom-Kämpfer gehen nicht bloß davon aus, dass ihr Protest nur so viel wert ist, wie er die Mächtigen im Land beeindruckt und die ihn berücksichtigen. Dass die Entscheidung über eine Energieversorgung, die in ihren Worten zehntausend Generationen den giftigen, todbringenden Atommüll bringt, in den Händen der Obrigkeit liegt, auf deren Konto die Schädigung ihrer Gesundheit geht, ist klar; ebenso, dass sie weiter in deren Hände gehört; Verbesserung erwarten sie nur von einem Sinneswandel an höchster Stelle. Dass die Politik das Entscheidungsmonopol über die Lebensverhältnisse im Land hat, ist für sie eine Realität, von der sie ausgehen, nicht Grund des Schadens, gegen den sie protestieren, sondern eine Selbstverständlichkeit, der sie Rechnung tragen.

Dass für das An- und Abschalten von Atomkraftwerken die gewählte Herrschaft und sonst niemand zuständig ist, darin sind sich die Demonstranten einig. Streit herrscht allein in der Frage, wie sich deren Entscheidungen beeinflussen lassen. Nicht wenige Demonstranten konzentrieren sich mit ihrem Protest ganz auf die kurze Phase, in der sich Politiker gerne als Auftragnehmer ihrer Bürger präsentieren, weil sie von denen nun mal gewählt werden wollen. Da, meinen sie, hätten sie die Chance, zum Zug zu kommen. In ihrem kritisch-moralischen Weltbild halten sie die von der Regierung praktizierte Atompolitik für ein Pflichtversäumnis einer politischen Klasse, die sich nicht um ihre schönen Versprechungen von neulich schert. Entsprechend hat für sie eine Wahl auch nicht den Zweck, Politiker zu ermächtigen und darüber von jeder Rücksichtnahme auf die Interessen ihrer Bürger freizusetzen: Die kommt ihnen umgekehrt als eine einzige Gelegenheit vor, die Herrschenden an ihre Pflichten zu erinnern – also sich und den Rest des Volkes an die Bürgerpflicht, bei der anstehenden Bundestagswahl auch die richtigen Kandidaten zu wählen. Also karren sie ein Trojanisches Pferd mit der Aufschrift: Wer Merkel wählt, wählt Atomkraft durch die Straßen der Hauptstadt – und machen derart Wahlkampf für die atomkritischen Parteien, SPD, Grüne und Linke. So findet der radikalkritische Protest nahtlos seinen Fortgang in dem ganz und gar unkritischen, dafür aber sehr realistischen Antrag, zwischen langen und noch längeren Laufzeiten wählen zu sollen, und dabei sind dann für so manchen Demonstranten die von Rot-Grün geplanten weiteren 32 Jahre Atomkraft entweder das kleinere Übel oder schon ein Schritt vorwärts in Sachen ‚Stilllegung weltweit‘.

Eine bedingungslose Vertrauenserklärung gegenüber der politischen Klasse wollen einige damit dann doch nicht nicht abgeliefert haben – der Verdacht, mit ihrer Manifestation nichts anderes als die ins Werk gesetzt zu haben, scheint sie irgendwie selbst zu beschleichen. Jedenfalls räumen sie ihn aus:

„Es werde nicht ausreichen, bei der Bundestagswahl atomkritische Parteien zu wählen, sagt Jochen Stay, Sprecher der Anti-Atom-Organisation ‚Ausgestrahlt‘. Er kündigte an, dass die AktivistInnen unabhängig vom Wahlausgang die diesjährigen Koalitionsverhandlungen genau verfolgen werden. In Berlin wollen sie während dieser Zeit eine ‚ständige Vertretung‘ einrichten, um bei jeder Verhandlungsrunde vor Ort demonstrieren zu können.“ (taz, 11.9.)

Die Lektion, die diese AktivistInnen aus ihren unguten Erfahrungen mit den gewählten politischen Herren gezogen haben wollen, mutet etwas schizophren an. Über das Bewusstsein, dass die zum Regieren ermächtigte Führungsclique unter sich, also frei von jeder Verpflichtung auf irgendwelche Interessen ihrer Bürger ausmacht, wie sie ihren Amtspflichten nachkommen will, scheint man in diesen Kreisen ja irgendwie schon zu verfügen. Das Urteil als solches dann aber auch nur für einen Moment gelten zu lassen: Das kommt für diese Kämpfer gegen Atomkraft auf keinen Fall in Frage. Statt dessen halten sie unverdrossen an dem Idealismus demokratischer Interessenvertretung fest, in dem sie ein ums andere Mal von ihrer Regierung frustriert werden, und klammern sich mit der Einrichtung von ‚ständigen Vertretungen‘ des Bürgerwillens an ihre Täuschung, Politiker müssten doch auf die von ihnen regierte Basis hören. So schaffen es diese Kernkraftgegner, der politischen Klasse ein Leben lang zu misstrauen und sich immer wieder in deren Wahlkampf einzumischen, um Volksvertretern endlich mal vertrauen zu können – und lernen deswegen ihre Lektion nie.

*

Demonstranten, die in letzter Instanz dann doch auf die Wahlkämpfer als Sachwalter ihres Anliegens vertrauen, mögen Politikern auf ihrer Veranstaltung das Wort verbieten: Sprachlos bleiben die deswegen noch lange nicht. Nicht zu Unrecht fühlen sie sich ja angesprochen in ihrer Verantwortung und Kompetenz für alle die Atomkraft betreffenden Fragen, und da ist für den einen mehr, für den anderen weniger auch eine Demonstration, auf der sie ausdrücklich ausgeladen sind, eine gute Gelegenheit, für sich Werbung zu machen.

  • Die Grünen weisen es beiläufig von sich, dass der Maulkorb für ihre Spitzenleute irgendetwas mit ihrer Atompolitik zu tun haben könnte. Dass Politiker nicht reden dürfen, das passt zur Tradition der Veranstalter (Trittin), also solidarisieren sich mit den Demonstranten und marschieren ganz vorn unter der Parole: Schwarz – Gelb: nein danke mit. Als Wahlkampfhilfe für uns, so war eure Demo doch gemeint – oder?!
  • Der amtierende Atomminister wäre auch gern gekommen, lässt sich aber wegen wichtiger Termine entschuldigen und wertet die Demo als
    „ein klares Signal an die Union und Angela Merkel. Die Botschaft der Zehntausenden an die Bundeskanzlerin und an die Union ist eindeutig: Hört endlich auf, den verlängerten Arm der Atomindustrie zu spielen. Den Atomkonzernen dürfen keine weiteren Milliardengeschenke durch Laufzeitverlängerungen gemacht werden. Das Problem der Endlagerung des Atommülls kann nicht gegen die Bevölkerung und nicht mit noch mehr Atomkraft gelöst werden.“ (taz, 11.9.)

    Ganz klare Botschaft: Union = schlechte Atompolitik, SPD = gute. Weil nämlich Merkel eine Marionette der Atomindustrie ist und der noch mehr Milliarden schenkt, als sie in den 3 Jahrzehnten ohnehin verdient, für die Rot-Grün die Geschäftsgrundlagen gesichert haben, wohingegen das Volk in seinem Minister Gabriel einen garantiert überparteilichen Vertreter seiner Gesundheitsinteressen hat: Was das Verbuddeln des schon reichlich angefallenen und in den nächsten Dekaden dazukommenden radioaktiven Abfalls betrifft, muss das Wendland überhaupt nicht das letzte Wort sein. Wenn die SPD an die Macht kommt, verspricht der Minister für Umwelt eine neue Suche nach einem Endlagerstandort für Atommüll zur Bedingung für Koalitionsgespräche nach der Bundestagswahl (FAZ, 10.9.) zu machen. Wenn auch nur aus dem prospektierten Endlager des Mülls der Atomkonzerne: Der Einstieg in die Suche nach einem neuen Endlager ist ja immerhin Ausstieg aus dem alten.

  • Die Grußbotschaft, dass zwischen sie und die Demonstranten kein Blatt Papier passt, erspart sich die Kanzlerin. Sie marschiert nicht mit, ist aber natürlich mit Herz und Seele bei ihnen und teilt ihnen auf diversen Wahlkampfveranstaltungen mit, dass auch sie Verständnis für ihre Sorgen hat. Gleichwohl kommt sie um eine kleine Richtigstellung nicht umhin: Sie schenkt keineswegs Steuergelder her. Auch sie setzt auf erneuerbare Energien, weil die Atomtechnologie lediglich eine Brückentechnologie und die gleich abzuschalten zu teuer ist. Im übrigen muss sie als Chefin, die an das Ganze denkt, das Volk schon daran erinnern, dass es auch noch ganz andere Sorgen hat als bloß ein strahlungsarmes Leben: Alles hängt ab vom Geschäftserfolg der Unternehmer, und der ist nur mit einem rentablen Energiemix zu haben. Deswegen muss sie auf die im Ausstiegsbeschluss vereinbarten Laufzeiten noch 8 bis 10 Jahre draufsatteln, alles andere wäre politisch unverantwortlich.

Das hat man davon, wenn man für einen Ausstieg aus der Kernenergie demonstriert, und dabei nicht einmal den aus dem demokratischen Wahlkampf ernsthaft im Sinn hat.