Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Wahlkampf in Berlin vor und nach dem 11.9.
Eines bleibt, wie es ist: „Wahlen sind das Edelste, was es in einer Demokratie gibt“

Was Wahlkandidaten alles „mitzubringen“ und woran sie sich zu bewähren haben: das lässt sich an dem CDU-Mann Steffel und dem PDS-Kandidaten Gysi studieren. Bei beiden kann man nicht wegdiskutieren, dass ihnen etwas fehlt: der Amtsbonus, den Wowereit nach dem 11.9. mit entschlossenem Einsatz für die innere Sicherheit nutzt.

Aus der Zeitschrift

Wahlkampf in Berlin vor und nach dem 11.9.
Eines bleibt, wie es ist: „Wahlen sind das Edelste, was es in einer Demokratie gibt“

Erst neulich, im Frühsommer des Jahres 2001, gab es in der deutschen Hauptstadt den bis dahin größten „Finanzskandal“ der deutschen Nachkriegsgeschichte. Es stellte heraus, dass die jahrelange spekulative Vorfinanzierung des erhofften Hauptstadtbooms durch die Berliner Stadtregierung und ihre Berliner Bankgesellschaft nicht zu dem erwünschten Erfolg geführt hat: Anstatt den vielen von Stadt und Bank mobilisierten Kredit mit einem grandiosen Wirtschaftsaufschwung zu rechtfertigen, die Stadt als europäische Metropole in einen Zustand zu versetzen, der der Nation angemessen (SZ) ist und den städtischen Haushalt zu sanieren, platzte die Spekulationsblase. Die Folge waren neue Milliardenschulden der Stadt zur Rettung ihrer zahlungsunfähig gewordenen Bank. Die Hauptstadt stand damit vor einer angeblich existentiellen Haushaltskrise und vor aller Welt als Konkurskapitale (SZ, 23.10.01) da. Wie stets, wenn Geschäfte scheitern, die alle ihr Recht auf Erfolg haben, zumal solche der „öffentlichen Hand“, eröffnet der Misserfolg nicht etwa den Blick auf die Schönheiten kapitalistischer Reichtumsvermehrung und -vernichtung. Er offenbart vielmehr einen Abgrund an Unfähigkeit und Pflichtvergessenheit der Geschäftsleute und verantwortlichen Politiker. Weil Politiker ihre Berechnungen nach genau diesen Gesichtspunkten einrichten, trennt sich die jahrelang mitregierende SPD, um die Verantwortung für die peinliche Lage hinreichend klar zu stellen, reaktionsschnell von ihrem christdemokratischen Koalitionspartner. Sie lässt einen eigenen Mann mit Hilfe von PDS und Grünen zum Regierenden Bürgermeister wählen und schreibt Neuwahlen aus, in der Hoffnung, von der geschätzten Wählerschaft anstelle der als alleinige Filz- und Bankrottpartei dastehenden CDU und obendrein ausgestattet mit dem „Bonus“ der regierenden Amtsinhaber den Auftrag zur Führung der politischen Geschäfte in der Hauptstadt zu erlangen.

Auf Grundlage dieser Vorgeschichte sieht sich jede der konkurrierenden Parteien genötigt, echt frische Kräfte in den Wahlkampf zu schicken. Der vorläufige Misserfolg des nationalen Großprojektes, die wiedervereinte Hauptstadt als rundum prosperierende Metropole eines europäischen Führungsstaates mit weltweiten Ansprüchen zu etablieren, schürt eben Zweifel an der Führungsqualität des Personals, das den Erfolg dieses Projektes gegen Wirtschaftskrise und zusammenbrechende Grundstücksspekulation nicht herbei zu regieren vermochte – Zweifel, die der Fortgang der politischen Konkurrenz der Parteien in der Stadt dann durch den Amtsverlust der Diepgen-Mannschaft endgültig bestätigt: Wer unfreiwillig der Macht seines Amtes verlustig geht, kraft deren er noch gestern ein demokratischer Herrenmensch war, der ist allein dadurch auf sein „Normalmaß“ zurechtgestutzt: er bietet den traurigen Anblick eines entmachteten Funktionärs, eines abgehalfterten Politikers, der keinen Respekt mehr, wohl aber irgendwie seinen Abgang verdient hat, wenn er sich nicht an der Macht halten konnte.

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Die frische Kraft der CDU, der unglückselige (Tagesspiegel) Steffel, kommt, wie das im Prinzip jeder demokratische Wahlkandidat tut, zu seiner Spitzenkandidatur als Nutznießer eines innerparteilichen Intrigenspiels. Wo allerdings die menschlichen Gemeinheiten der internen Willensbildung freiheitlicher Politikvereine üblicherweise halbwegs verdeckt ablaufen, öffentlich nur, soweit es einer der konkurrierenden Positionen nützt, und mit einer echt harmonischen Kandidatenkür – möglichst nicht unter 90% Zustimmung – abgeschlossen werden, läuft das bei Steffel, liebevoll von den Medien begleitet, eher ungünstig: Nachdem zunächst der Ex-CDU-Chef Schäuble auf Vorschlag der Bundesvorsitzenden schon fast Kandidat ist, wird, auf Druck und als Protegé des Ex-Ex-CDU-Chefs Kohl und des vormals regierenden Berliner CDU-Klüngels, einigermaßen überraschend Steffel gewählt. Der Kandidat ist damit eine Figur, vermittels derer innerparteiliche Rechnungen beglichen werden und nicht das siegreiche Subjekt eines Postenschachers, den er mit eigenem Machtwillen und überzeugendem Erfolgsversprechen für sich entschieden hätte. Das ist keine gute Ausgangslage, muss aber nicht heißen, dass schon alles verloren wäre. Schon mancher Kandidat hat mit gut geschnittenen Haaren und Anzügen und „Themen“, die den gerade empfindlichen Nerv des nationalistischen Wählergemüts treffen, davon überzeugen können, dass in seinen zupackenden Händen das Wohl des Gemeinwesens am besten aufgehoben wäre. Das will dem CDU-Mann gar nicht recht gelingen. In dem eher dahinplätschernden Wahlkampf (FAZ) macht er nur wenig von sich reden, und wenn, dann so, dass ihm das in den Augen des Publikums eher schadet: Erst versteckt er sich feige, tausendfach fotografiert, vor fliegenden Eiern hinter dem Rücken des bayerischen Ministerpräsidenten. Das gibt kein gutes Bild ab von einem Mann, der sich auch als Garant der inneren Sicherheit ums Amt bewirbt und beherzt Chaos und Chaoten entgegentreten sollte. Dann gräbt irgendjemand aus, dass der jugendliche Steffel aus seiner jungchristlichen Verachtung für Bimbos und Kanaken kein Hehl gemacht und sich entsprechender Ausdrücke für diese fremdländischen Mitgeschöpfe bedient hat. Das wird dem erwachsenen Kandidaten Steffel als äußerst unkorrekt vorgehalten. So entspinnt sich eine kleine Wahlkampfkontroverse, die getragen ist von dem politmoralischen Gesichtspunkt einer korrekten Sprachregelung für ein gerade laufendes politisches Projekt, auf der man gegen den inkriminierten Lapsus des Kandidaten bestehen will. Die Nation nimmt sich gerade die Freiheit, ihre personellen Bedürfnisse aus dem weltweiten Angebot der besten Köpfe und brauchbaren Hände zu befriedigen und die Zuwanderung des unnützen Rests zu begrenzen, der nicht hierher gehört und deshalb auch nicht zu „uns“ passt. Mit dieser nachhaltigen Sortierung von Zuwanderern nach dem Kriterium der Nützlichkeit wird der volkstümliche Rassismus von Staats wegen mit einer neuen, funktionell verfahrenden politischen und rechtlichen Selektionspraxis konfrontiert. Da sollte doch, so lautet das Anforderungsprofil der öffentlichen Moral, gerade den Vertretern der „politischen Klasse“, die sprachliche Grenzziehung zwischen einem dergestalt korrekten Standortpatriotismus und völlig überlebtem, nach heutigen Maßstäben national schädlichem Privatrassismus, der einfach keine Neger leiden kann, geläufig sein. Ihnen immerhin obliegt es ja, diesen staatlichen Standpunkt den reichlich völkisch fühlenden Einheimischen als angesagte Sichtweise jetzt gültigen nationalen Anstands nahe zu bringen. Steffel scheint – vom Standpunkt des erfolgreichen Wahlkämpfers aus – alles falsch zu machen: Er verleiht den Vorwürfen Wichtigkeit, indem er sich auf sie einlässt und sie bestreitet. Zeugen seiner jugendlichen Entgleisungen treten auf, und der Kandidat kriegt die Sache einfach nicht los. Er ist offenbar nicht souverän genug, die Kritik unter Verweis auf stadt- und staatspolitisch Wichtigeres als bösartige Erfindung und durch seinen persönlichen und politischen Reifungsprozess sowieso überholt abzutun. Das tut dem Standing des Kandidaten in der Öffentlichkeit nicht gut, so dass irgendwann das Schlimmste eintritt, was einem demokratischen Wahlbewerber passieren kann: Weite Kreise des Wahlvolks, keinen Deut heller als der Kandidat selbst, gelangen zu der Ansicht, dass sie diesen Steffel nicht als Staatsmann und potentiellen Vertreter ihrer demokratischen Obrigkeit ernst zu nehmen brauchen, ihn sogar, mit Bestätigung durch einen erheblichen Teil der Medien, doof und lächerlich finden und ihm, dem Hanswurst, der sich um ein hohes Amt bewirbt, den üblichen untertänigen Respekt verweigern dürfen. Das wirft ihn auf den ganz harten Kern seiner Wählerschaft zurück und raubt ihm seine Siegeschancen. So wird dem CDU-Mann gar nicht der Korruptions- und Haushaltsskandal, der als Auslöser am Anfang des ganzen vorzeitigen Wahlspektakels stand, zum „Verhängnis“ für seine hochfliegenden Absichten, dafür interessiert sich während des Wahlkampfes nämlich kaum ein Schwein:

„Ein Thema – das Thema, die Haushaltsnotlage – wurde wegdefiniert.“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, (FAS) 7.10.)

Vielmehr schaden ihm seine Verstrickung in eine Korrektheitsdebatte, in der er die nötige Durchsetzungsfähigkeit und taktisches Geschick vermissen lässt, und ein für einen Politiker unverzeihlicher Verstoß gegen den Lokalnationalismus, als er München statt Berlin zur schönsten Stadt Deutschlands erklärt. Soweit überhaupt seine Person zum Thema wird, wird sie es bald nicht mehr als Inkarnation eines möglichen demokratischen Führers, sondern als Ensemble von Eigenschaften, wie man sie an einem Regierenden Bürgermeister der Hauptstadt lieber nicht sehen will. So ähnlich betrachten das auch die Exegeten seines Misserfolges, wenn sie nach der Wahl eine Art politischen Finanzskandal als dessen Ursache ausmachen:

„Die Berliner CDU war in einer Stadt auf Pump eine Partei auf Pump. Dafür hat sie nun das Urteil erhalten. Die Wähler haben die politische Zahlungsunfähigkeit der Partei festgestellt.“ (SZ, 22.10.)

Demokratische Parteien pflegen eben ihre weitere Teilhabe an der Macht, die ihre politische Zahlungsfähigkeit ausmacht, mit dem Kredit, sicherzustellen, den ihre Kandidaten als Erfolg versprechende Sachwalter der Staatsnotwendigkeiten bei ihren Wählern abzurufen verstehen: der persönlichen und damit politischen „Glaubwürdigkeit“ Diese Sorte Kredit zu sichern, ist – vorangegangener Skandal hin oder her, Koch in Hessen lässt grüßen – Aufgabe eines Wahlbewerbers in einem demokratischen Wahlkampf. Und das hat Steffel nicht geschafft.

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Während Steffel erfolglos gegen den kurzen Amtsbonus des so plötzlich bekannt gewordenen Wowereit (FAZ, 18.6.) ankämpft, und es ihm auch nicht gelingt, bei der Bekämpfung der Konkurrenz von der PDS dem notwendigen Antikommunismus eine moderne, elegante und weltoffene Gestalt zu geben (FAZ, ebd.), ist der Kandidat Gysi diesbezüglich entschieden weiter. Ihn halten die Berliner von allen Wahlbewerbern am ehesten für einen Siegertyp (34%; Wowereit 27; Steffel 13) (SZ, 23.10.), und sein Versuch, „im Wahlkampf eine Debatte über die Zukunft der Hauptstadt zu inszenieren“ (SZ, 22.10.), wirft gleich noch so manche Frage über die Zukunft der Nation auf, für deren gedeihliche Lösung der Erfolg seiner Kandidatur laut eigener Auskunft eine Schlüsselrolle spielt: Gysi geht (es) um die innere Einheit Deutschlands, die noch nicht hergestellt ist (SZ, 22.8.), und er würde, um die voranzubringen, gerne mit der inneren Einheit Berlins anfangen, wofür es gut wäre, wenn er Regierender würde. Dann bekäme Deutschland eine starke Hauptstadt, die Deutschland als Motor der Entwicklung braucht. Dann wäre Berlin nicht nur stark, sondern, was die Stadt unbedingt werden soll, eine europäische Metropole. Vor nationalem Dünkel bei dieser glorreichen Entwicklung warnt er, weil sowas nur zu Provinzialität führen würde, wohingegen er nichts dagegen hat, mit Nationalbewusstsein … die europäische Integration zu gestalten, außer dass er Nationalbewusstsein lieber gesamtgesellschaftliches Bewusstsein nennen würde (SZ, ebd.). An der Partei, die ihn zu ihrem Spitzenkandidaten gemacht hat, lässt er nicht viele gute Haare: Ein kleinbürgerlicher Verein mit faschistoiden Neigungen, dessen historische Aufgabe … vor allem (war), das Kleinbürgertum aus der DDR in die neue Zeit mitzunehmen und vor den Rechtsradikalen zu retten (SZ, 15.6.), dem ein noch radikalerer Bruch mit der Vergangenheit, als er bisher schon stattgefunden hat, besonders gut täte: …wenn die PDS als sozialistische Partei Regierungsverantwortung in einer kapitalistischen Metropole übernähme – mit Gysi als Chef natürlich. Fragen nach dem abendländischen Krieg in Afghanistan, den seine Partei ablehnt, können ihn nicht in Verlegenheit bringen. Er verweist – der Mann ist schließlich Anwalt – auf den normalen Weg, dessen Missachtung er mit Sorge konstatiert: Mit Haftbefehlen, ordentlichen Ermittlungsergebnissen, die nicht nur Tony Blair, sondern ein Richter würdigen sollte, und anschließendem Auslieferungsersuchen. Würde diesem dann nicht stattgegeben, dann hielte er begrenzte polizeiliche Kommandoaktionen durch Militär, ausschließlich zur Ergreifung des Täters, für legitim, selbstredend ohne Gefährdung Unschuldiger. An der inneren Sicherheitsfront ist er ganz offen für Vorschläge, die die innere Sicherheit erhöhen und gegen blinden Aktionismus, und an der sozialen will er ein Bedürfnis der SPD bedienen: Die SPD braucht uns als soziales Korrektiv. (SZ, 22.08.) Zur Klarstellung verbreitet sein Finanzexperte, dass es keine Tabus beim Sparen gebe, in den nächsten Jahren 20000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen werden müssen und dass es keinesfalls wahr, vielmehr ehrenrührig sei, dass die PDS und Gysi nur den Erhalt möglichst vieler ABM-Stellen für ihre Klientel (SZ, 23.10.) wollten.

So schafft es der Kandidat Gysi auf vorbildliche Weise, den Anforderungen eines demokratischen Wahlkampfes gerecht zu werden: Egal zu welchem Gegenstand er sich äußer, er macht immer sich zum Thema. Der nationalistische Gesichtspunkt bei der Beurteilung der Lage der Welt im Allgemeinen und der Stadt Berlin im Besonderen danach, was Deutschland, oder einfach wir, brauchen, ist ihm so selbstverständlich wie der großspurige Verweis auf sich als denjenigen, der fähig und bereit ist, diese Bedürfnisse zu erfüllen: Mich reizt die Tiefe der Krise. (SZ, 22.8.) Er als weltgewandter, unterhaltsamer, rundum interessanter Dialektiker (Gysi über sich, taz, 25.6.), könnte die Stadt aus ihrer elenden Provinzialität führen; er wäre nach eigener Beurteilung schon ein guter Bürgermeister, auf den die Leute stolz sein könnten, ich könnte die Stadt vereinigen. (Der Spiegel, 42/01) Er wäre ein repräsentables Aushängeschild der Metropole, in der es zwar künftig noch ein paar Arme mehr geben wird, die sich dann aber alle zusammen, ohne Ausgrenzung der Ostberliner, in einer gemeinsamen ost-westlichen Stadtheimat wohlfühlen dürften, unter einem Bürgermeister, der „an Berlin hängt, eine Affinität zu ihr (der Stadt) hat und ihre wechselvolle Geschichte kennt… etc., etc.“ (taz, ebd.). Klar, dass die Anbiederung an jeden nationalen oder lokalpatriotischen Blödmann, die wahlkämpferische Bedienung angeberischer Westler und national frustrierter Ostler, des gewerblichen Mittelstands und der Freunde des antiislamischen Kreuzzugs ebenso wie der diesbezüglichen „Skeptiker“, manchmal nicht ohne Überschreitung der Ekelschwelle geht. Doch auch daraus macht Gysi noch einen Stich für sich, wenn er, so, dass es der Reporter hört, nonchalant seufzt, dass man sich manchmal selber nicht mehr hören kann. Aber die Größe der Aufgabe ist es einfach wert. Seine Wahl, die eines Ostlers, der so clever ist wie ein Westler; der seine DDR- Schmuddelpartei gebührend schlecht behandelt, für die Gesamtnation dienstbar macht und doch in ihr als Ossi verankert ist; der es schafft, nur als Jurist gegen den Krieg, sonst aber dafür zu sein und den Armen der Stadt, ohne seine Sympathiewerte zu beschädigen, so glaubwürdig mit der Sanierung des Haushalts droht, dass kaum noch jemand auf die Idee kommt zu fragen, was denn an diesem scharfzüngigen, genussfreudigen, weltgewandten und jüdischen Intellektuellen, der so wenig zu seiner Partei passt (SZ, 15.6.), eigentlich noch links sein soll: Seine Wahl – so empfiehlt er sich – wäre doch nichts weniger als die Vollendung der inneren Einheit. Deshalb bewertet er auch das Ergebnis der Wahl, das der Partei in Gesamtberlin mit über 20 Prozent den zweiten Platz nach der SPD bringt und im Osten fast die absolute Mehrheit, zielsicher als Aufschrei aus dem Osten. Auch wenn seine Ostberliner Landsleute, demokratisch zivilisiert wie sie inzwischen sind, heute nicht mehr mit Transparenten lautstark um die Kirchen ziehen, um eine bessere Obrigkeit einzufordern, sondern eher lautlos mit ihren Kreuzchen in der Wahlkabine aufschreien, Gysi hört sie und versteht, wonach sie lechzen. Danach, von ihm mitregiert zu werden: Wer die PDS jetzt bei der Regierungsbildung übergeht, verzichtet auf die innere Einheit der Stadt! (SZ, 23.10.)

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Derjenige, der die PDS übergehen könnte, Wowereit von der SPD, ist nicht als Kandidat in den Wahlkampf gegangen, sondern gleich als Chef des Ladens und Regierender Bürgermeister. Dass das einen großen Unterschied zu den Bewerbern macht, die eben nur Kandidaten sind, lässt sich der Bürger, je länger der Wahlkampf dauert, immer mehr einleuchten, so dass sich nach und nach die Umfragewerte immer mehr zugunsten der amtierenden Stadtregierung verschieben. Ganz zu Anfang, nachdem er mit seinem Überraschungscoup das Amt ergattert hat, lässt er auch das Eine oder Andere über den geplanten Berliner Neuanfang verlauten und kündigt harte Einschnitte im Sozial- und öffentlichen Personalwesen an. Ansonsten vermeidet er es konsequent, seine konkreten Absichten auszubreiten (SZ, 20.10.), und setzt sich dadurch dem Vorwurf aus, er sei politisch-programmatisch so leer wie die Kassen Berlins (FAS, 7.10.). Der neue Bürgermeister ist dagegen offenbar der Meinung, dass er selbst als Programm eigentlich ausreichend ist. Wenn es ihm gelingt, mit dem Angebot, das seine Person als neuer Bürgermeister darstellt, alle Bedürfnisse nach Konkretheit und politischer Programmatik zu erfüllen, dann sind die vielen Einzelheiten, die beim Regieren so anfallen, für einen großen Teil seines Wahlvolkes ohnehin nicht mehr so sonderlich interessant. Dann setzt es eben eher darauf, dass es erstens überhaupt halbwegs ordentlich, also ohne große „Skandale“, und zweitens von möglichst sympathischen Leuten regiert wird. Darunter fällt in Berlin anscheinend, dass man sich mannhaft zu abweichendem Sexualverhalten bekennt, ein echter Berliner ist, deshalb auch wie fast alle Berliner in die Pandabären Yan und Bao Bao im Zoo vernarrt ist und Golf spielt, weil das „ein sehr fairer und demokratischer (wegen des Handicaps!) Sport ist“, bei dem man Demut lernen kann. (BamS, 7.10.) Ansonsten genügt es zunächst, als neuer ‚Regiermeister‘ Wowereit allüberall(FAS, ebd.) präsent zu sein, den Regierenden Bussi-Bär (taz) und Schmuse-Linken (Der Spiegel) zu markieren und leise zu regieren: Durch derlei Präsentationen gewinnen demokratische Politiker, so auch nach übereinstimmender Medien-Auskunft Wowereit, an Format. Das wächst sprunghaft ins geradezu Staatsmännische hinüber, als das Schicksal in Gestalt der arabischen New-York-Attentäter dem schwulen Softie eine Bewährungsprobe beschert, die ein Regierungschef gar nicht vergeigen kann (wenn er sich nicht gerade zur Unzeit mit einem alten Grafen im Swimmingpool fotografieren lässt): Er bekommt die Gelegenheit zu beweisen, dass die neue Regierung der Stadt schnell und besonnen auf schwierige Sicherheitslagen reagieren (SZ, 18.9.) kann, darf alle Vorkehrungen treffen, die Hauptstadt sicher zu machen. Und dafür steht Wowereit, im Fernsehen, auf Podien, bei Kundgebungen. Überall sein Gesicht. (SZ, 15.10.) Er verstopft Berlin mit viel Polizei und ein wenig Bundesgrenzschutz (ebd.), läuft mit Schily und Schröder durch die Gegend und verkündet, mit viel Vollzugspolizei auf den Straßen … den Terrorismus schon im Vorfeld zu bekämpfen. (SZ, 18.9.) Der sanfte Bürgermeister darf jetzt überall die Macht und die Sicherheit der wehrhaften Demokratie mitrepräsentieren, nützt das zur Demonstration von Kompetenz und Fürsorglichkeit, und das tut seinem Renommee offenkundig so gut, dass er am Ende die relativ meisten Stimmen und damit den Auftrag zur Regierungsbildung gewinnt.

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Überhaupt dieser 11.9., der mitten in den Wahlkampf hineinplatzt: Für musikalisch empfindsame Gemüter ist der Wahlkampf, der vorher dahinplätschert, seit dem 11.9. plötzlich in Moll (SZ, 18.9.) gestimmt. Es ist eben nichts mehr, wie es war. Die Wahl aber muss trotzdem stattfinden, weil Wahlen das Edelste sind, was die Demokratie hat. (SPD-Wahlkampfleiter, SZ, 18.9.) Da es die Terroristen bekanntlich gerade auf unser Bestes abgesehen haben, wollten sie vermutlich auch die Berliner Wahlen verhindern. Das ist ihnen, Gott sei Dank, misslungen. Die Berliner Wahlberechtigten sind nämlich zu über 70% zur Wahl gegangen. Davon wiederum ca. 80% haben durch die Wahl der richtigen Parteien einen entschieden antiterroristischen Akt gesetzt. Nur die Ossis haben sich mal wieder gründlich daneben benommen und eine Partei gewählt, die gegen den Krieg in Afghanistan gestimmt hat, also für den Terrorismus ist. Nur den Grünen und der FDP ist es zu verdanken, dass die Situation in der Hauptstadt gerettet werden konnte: Die Grünen haben mit ihrer extrem geschickten Arbeitsteilung zwischen dem Fischer-Flügel (Weiter bombardieren im Namen der Humanität!) und dem Roth-Flügel (Kurze Bombenpause wg. Humanität!) doch wieder ein so breites Spektrum an Wählern abdecken können, dass ihnen der Wiedereinzug ins Parlament und vielleicht sogar die Regierung gelungen ist. Und auch die FDP hat mit dem zündenden Argument: Lieber Rexroth als rot-rot! eine ausreichende Anzahl mündiger Stimmbürger von ihrer Regierungsfähigkeit überzeugen können. Feine Leistung.