Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Nachbemerkung zum Wahlkampf 98
Wie kluge Köpfe unter der Demokratie leiden – und ihr dabei unverwüstlich die Stange halten

Eine beliebte „Kritik“ in Wahlkampfzeiten: alles nur „Inszenierung“ und keine seriöse „Politikdebatte“. Alles andere, als ein Auftakt zum Beginn des schmerzlich vermissten „gesellschaftlichen Diskurses“ à la Sozialkundelehrbuch. Warum und wie die Trennung zwischen dem, was Politiker machen, und dem, worüber Wähler entscheiden, vollkommen in Ordnung geht.

Aus der Zeitschrift

Nachbemerkung zum Wahlkampf 98
Wie kluge Köpfe unter der Demokratie leiden – und ihr dabei unverwüstlich die Stange halten

1. Unter der Rubrik „Bericht“ ist ihnen jede Wahlkampfshow, jeder intrigante Winkelzug, jede berechnende Gehässigkeit der Häuptlinge des bundesdeutschen Wahlkampfes, jede „Schwankung der Wählergunst“ und jeder Politikersympathie- und andere Umfragewert jede Menge Raum und Zeit, Reportereinsatz und Druckerschwärze wert – den beobachtend-mitwirkenden Strategen der demokratischen Öffentlichkeit. Sobald es ans Kommentieren geht, sind dieselben klugen Leute enttäuscht von einem Wahlkampf „ohne Inhalte“, angeödet von „gehaltlosen“ Parolen, im Namen des mündigen Bürgers beleidigt durch „Inszenierungen“, die den Wähler für dumm verkaufen, empört über Werbekampagnen, die alle wichtigen „Themen der Zeit“ und erst recht alle brennenden „Probleme der Zukunft“ komplett aussparen: nirgends „Konzepte“, weit und breit keine seriöse „Politikdebatte“.

Das ödet uns an. Wenn sie den „gesellschaftlichen Diskurs“ so schmerzlich vermissen: Warum führen sie den dann nicht? Warum verschwenden all die gescheiten Köpfe ihren brillanten Sachverstand auf Gejammer über das fehlende Niveau der Wahlkämpfer statt auf fetzige Abhandlungen über die von ihnen doch längst erkannten Sachthemen? Wenn bloß alle, die öffentlich Beschwerde führen, nicht weiter vergeblich danach seufzen, von Rexrodt, Waigel und Stollmann mit Zukunftsweisendem bedient zu werden, sondern selber diskutieren, daß es nur so kracht, und die Zuspitzung des Parteienstreits auf Visagen und Glitzereffekte seiner Lächerlichkeit preisgeben: dann hätten sie sie doch schon, die politische Debatte als ersten Schritt zu einer allgemeinen vernünftigen Beschlußfassung, so wie sie es sich vorgeblich wünschen und wovon die sozialkundlichen Kinderbücher wissen wollen, das wäre überhaupt das „Herzstück“ der Demokratie und der Inbegriff der bürgerlichen Freiheit!

2. Wir wissen schon und haben es vernommen: So was geht gar nicht. Anscheinend gibt es sogar – wenn wir das aus dem tatsächlich stattfindenden „öffentlichen Diskurs“ richtig herausgehört haben – mindestens zwei voneinander unabhängige Gründe, weshalb eine Verknüpfung von Wahlkampf und vernünftiger Diskussion unmöglich ist.

Erstens herrscht – übrigens ohne kontroverse Debatte und ohne Abstimmung – ein allgemeiner Konsens über eine ansehnliche Liste von Themen, die aus dem Wahlkampf unbedingt draußenbleiben müssen. Dazu gehören:

  • die Renten. Schon wegen der Rentner.
  • die Bundeswehr. Schon wegen der Soldaten.
  • das Holocaust-Denkmal in Berlin. Schon wegen der toten Juden.
  • der Kombilohn. Schon wegen der vielen Langzeitarbeitslosen.
  • der nationale Ausländerhaß. Schon wegen der Ausländer.
  • Bosnien. Schon wegen der Bosnien-Flüchtlinge.
  • die Atomkraft. Schon wegen dem Standort der Atomindustrie.
  • der Konjunkturaufschwung. Schon wegen der Konjunktur.
  • der Euro. Schon wegen Europa.
  • die Kinderarmut. Schon wegen der armen Kinder.

Und so weiter. Die Liste ist unvollständig. Im Verhältnis zu den Sachen, die auf ihr draufstehen, erfüllt der Wahlkampf den Tatbestand der „Niederungen“, in die, was uns teuer und wichtig ist, auf gar keinen Fall „hinabgezogen“ werden darf.

Der zweite Grund, über den genauso einhelliger Konsens herrscht, lautet so: Wahlkampf ist überhaupt die denkbar unpassendste Gelegenheit für Problemdiskussionen. Da haben Politiker und alle anderen, die etwas zu sagen haben, alle Hände voll damit zu tun, die Wahlalternativen „zuzuspitzen“, dem Volk einen guten Eindruck zu machen und den Gegner in ein schlechtes Licht zu rücken; und etwas anderes will und erwartet sich der Wähler von seinen wahlkämpfenden Meistern letztlich auch gar nicht. Es geht ums Gewinnen; da muß es „heiß hergehen“, sonst wird man als Wahlbewerber gar nicht wahrgenommen und kann als demokratischer Politiker gleich einpacken. Für die „Richtungsentscheidung“, die ansteht, wäre ein „Übermaß“ von „Sachthemen“ eine ganz unsachliche Ablenkung.

3. Wir halten also fest:

  • Was die Staatsmacht mit den Leuten anstellt, steht im Wahlkampf nicht zur Debatte; geschweige denn die Nachfrage, ob irgendetwas davon und daran vernünftig ist. – Das wird von klugen Köpfen beseufzt, nicht geändert.
  • Was im Wahlkampf „zur Debatte“ steht, ist eine Sorte Volksbetörung, die mit einem hohen Maß von Verblödung kalkuliert und operiert, weil die Politik in Gestalt ihrer Macher sich bei der Wahl an gar nichts anderem messen lassen will und soll als an dem Schein von Eignung konkurrierender Polit-Karrieristen für die Jobs der Macht, den sie selbst und ihre teuren Werbe-Fuzzis erzeugen. – Das wird von denselben klugen Köpfen der Nation für erstens unumgänglich, zweitens normal und drittens völlig in Ordnung befunden.
  • Der Wahlkampf organisiert also die denkbar gründlichste Trennung zwischen dem, was Politiker machen, und dem, worüber die Wähler entscheiden. – Das wiederum ist das Letzte, was die klugen Köpfe der Nation ihrer Demokratie nachsagen würden.

Aber wieso sollten sie auch: Nach der Wahl, wenn der ganze „Zirkus“ erst einmal vorbei ist, dann wird in unserer lebendigen Demokratie ja wieder diskutiert und Vernunft in den Laden gebracht, daß es eine Freude ist – das kennt man doch!

4. Vorerst jedoch tobt sich noch der Wahlkampf aus. Um das eine Sachthema, das sich mit ihm überhaupt erledigen läßt: Kohl oder Schröder?