Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Präsidentenwahl in Serbien
Der Zerfall Jugoslawiens geht weiter

Besonderheit des Wahlkampfes in Rest-Jugoslawien: Die Parteien streiten um eine unfertige Staatsmacht, deren Reichweite und nationaler Auftrag strittig sind. Das Ganze steht unter dem Kontrollregime und Souveränitätsvorbehalt der Nato-Besatzungsmächte.

Aus der Zeitschrift

Präsidentenwahl in Serbien
Der Zerfall Jugoslawiens geht weiter

In den beiden Teilrepubliken der übriggebliebenen Jugoslawischen Föderation, Serbien und Montenegro, werden Parlamente und Präsidenten neu gewählt. Die Aufmerksamkeit der demokratischen Aufseher in Westeuropa und Amerika gilt ganz der Frage, wie gut oder schlecht die Partei des bisherigen serbischen Amtsinhabers Milosevic abschneidet und wieviel Wahlbetrug ihr nachzuweisen ist – nach dem Urteil der OSZE-Wahlbeobachter: eigentlich keiner… –; denn der Mann steht nach freiheitlich-pluralistischer Auffassung für das Serbisch-Böse auf dem Balkan im allgemeinen und im besonderen für die Gemeinheit, sich dem Westen als Bändiger des Bürgerkriegs unentbehrlich gemacht zu haben, obwohl man sich doch auf ihn als Hauptschuldigen am Bürgerkrieg geeinigt hat. Nun hat er sich ins gesamtjugoslawische Präsidentenamt wählen lassen, respektiert also glatt das Verbot einer Wiederwahl zum Chef der Serben-Republik; den Posten soll der zu seiner Partei zählende bisherige Föderations-Präsident Lilic übernehmen: ein Schachzug, der einzig und allein dem Machterhalt dient – und ein ganz übler, weil wir im Westen doch beschlossen haben, daß dem Mann die Macht nicht zusteht, ganz gleich, wie serbische Wähler darüber denken!

Dieser voreingenommene Blick auf die Wahl und ihre mutmaßlichen Manipulateure und Profiteure trifft die wirkliche Eigenart der serbisch-restjugoslawischen Wahlveranstaltung nicht. Tatsächlich geht es gar nicht um „Machterhalt“ für die regierende Partei, so wie der in Machtgewinn und -verlust erfahrene Demokrat ihn sich denkt und der Milosevic-Partei nicht gönnt. Und zwar deswegen, weil diese Wahl gar nicht bloß die eine und einzige Machtfrage stellt, die der demokratische Staat seinem Volk zur freien Entscheidung überläßt: wer sie haben und ausüben soll, die mit dem Staatsamt fraglos verbundene Macht im Land. In Serbien tragen Retter und Gegner einer Staatsmacht, deren Reichweite genauso strittig ist wie ihr nationaler Auftrag, ihre politische Feindschaft aus, und zwar auf dem dafür inadäquaten Feld der Wahlstimmenwerbung; mit dem ganz folgerichtigen Ergebnis, daß, ganz gleich wer gewählt oder nicht gewählt wird, dieser fundamentale Streit um die „Räson“ des ganzen Staatswesens nicht entschieden wird, sondern eher verschärft weitergeht.

Diese Eigenart des Wahlkampfes und Wahlgangs in Rest-Jugoslawien wird schon daran deutlich, wer sich alles nicht daran beteiligt und warum.

Innerhalb der serbischen Republik mit ihren aus dem alten Gesamtstaat überkommenen Grenzen grassiert weiter der Unter-Nationalismus, der schon die einstige Republik Jugoslawien zersprengt hat: Die albanische Minderheit, die in der Provinz Kosovo die Mehrheit ist, will sich partout nicht von Serben regieren lassen; sie leistet „passiven Widerstand gegen die serbische Unterdrückung“ (so der Präsident der Kosovo-Albaner in der FAZ, 10.9.) und boykottiert die Wahl, weil sie sonst das „serbische“ Wahlgesetz respektieren und damit die verkehrte Staatsmacht legitimieren würde. Als ebenfalls nicht zur Nation gehörig begreift sich die muslimische Minderheit, die im Sandzak siedelt; deren Führer droht vor den Wahlen mit einem Kampf um Autonomie, der sich nicht mehr auf „friedliche Mittel“ beschränkt.

Doch es sind nicht nur diese „ethnischen Minderheiten“, die der auf Unterwerfung bestehenden serbischen Führung ihre Loyalität verweigern. Zehn serbische Oppositionsparteien, darunter die Demokratische Partei des hierzulande als demokratische Lichtgestalt gehandelten Zoran Djindjic, rufen ebenfalls zum Wahlboykott auf, weil sie sich wegen zu erwartender „Manipulationen und Fälschungen“ keine Chancen ausrechnen, das „überholte System Milosevic“ mittels Urnengang abzulösen. Zwar räumt dieses „System“ ihnen das Recht ein, demokratisch um die Macht zu konkurrieren; doch die Machtfrage, die die Parlaments- und Präsidentenwahl stellt, genügt ihnen nicht, eben weil sie im Rahmen des „Systems“, nämlich der gegebenen politischen Verfassung der serbischen Republik verbleibt; und die mag die demokratische Opposition nicht durch ihre Wahlbeteiligung anerkennen. Der Grund und der programmatische Inhalt dieser Absage an das existierende Staatswesen sind mit dem Verweis auf die betrügerische Natur des obersten Chefs zwar nur sehr heuchlerisch, mit der Beschwerde über unterbliebene „marktwirtschaftliche Reformen“ aber schon etwas klarer angedeutet und am deutlichsten in der Klage des Parteichefs Djindjic kenntlich, der Westen mit seinem überparteilichen „Schweigen“ zur serbischen Wahlfarce lasse ihn – erklärtermaßen das Pferd, auf das der Westen setzen sollte – im Stich: Die Minderheit, die er vertritt, will ein Serbien, das seine Staatsräson aus den Ansprüchen „des Westens“ auf einen pflegeleichten Balkan heraus entwickelt – wie immer das auch gehen und am Ende aussehen mag.

Zwei andere Parteien und Präsidentschaftskandidaten beteiligen sich – neben der Milosevic-Mannschaft – an den Wahlen; mit ihren Rettungsprogrammen stehen sie aber in keinem geringeren Gegensatz zur existierenden Staatsmacht als die Verweigerer.

Die Serbische Radikale Partei des ehemaligen Tschetnik-Führers Seselj tritt gegen das „System Milosevic“ mit dem Vorwurf an, die regierenden „Linken“ hätten es an einer bedingungslos nationalen Führung fehlen lassen. Für die empfiehlt der neue Führer sich: Er wäre der Richtige, um mit kompromißloser Härte gegen albanische „Terroristen“ und montenegrinische „Sezessionisten“ vorzugehen, für die Befreiung der Krajina und die Integration der Republika Srpska zu sorgen und überhaupt „großserbische Grenzen“ herzustellen, die am besten eines Tages an Großdeutschland grenzen! (Spiegel, 29.9.) Daß er mit diesem Programm der serbischen Wiedergeburt den gesamten Westen zum Gegner hat, ist dem Mann klar; deswegen setzt er auf ein Rußland, das sich freilich auch erst gründlich im Sinne seines Gesinnungsgenossen Schirinowski ändern müßte.

Im Kern dieselbe Botschaft präsentiert der in zig Demonstrationen an der Seite von Djindjic erprobte „Widerstandskämpfer“ Draskovic mit seiner Serbischen Erneuerungspartei. Er will dem großen Serbenvolk die ihm zustehende Hegemonie über Bosnien, Mazedonien und die Krajina verschaffen, dafür aber keinen panslawistischen Faschismus bemühen, sondern bloß ein wenig die Monarchie wieder einführen. Denn er ist kein größenwahnsinniger Feind des Westens; das beweist er mit seiner demokratischen Qualifikation, die er sich in vom westlichen Ausland geschätzten Straßenaufmärschen und durch sein Bündnis mit dem bekennenden Pro-Westler Djindjic erworben hat – um so tiefer seine Enttäuschung, daß der ins Belgrader Bürgermeisteramt gebrachte Zajedno-Genosse die Gegenleistung verweigert, ihn, den „charismatischen Populisten“, als Repräsentanten aller unzufriedenen Kräfte auf den Präsidententhron zu heben. (Die Rache folgt auf dem Fuße: Zwischen erstem und zweitem Wahlgang verbündet sich der demokratische Monarchist mit Seseljs „Chauvinisten“ und Milosevics „Sozialisten“ und verjagt Djindjic von seinem Belgrader Bürgermeistersessel.)

Der regierende „Linksblock“ schließlich unter der Führung der Sozialistischen Partei und des bisherigen serbischen Präsidenten Milosevic ruft dazu auf, mit der Wahl des Ex-Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien den geplanten Ämtertausch zwischen Lilic und Milosevic zu beglaubigen und so die alten Machtverhältnisse zu bestätigen. Mit den Parolen Für politische Stabilität und Wirtschaftswachstum – was vor allem gegen Seselj geht – und Gegen die Handlanger feindlicher Mächte – womit Djukanovic, Djindjic und Co. gemeint sind – preisen sich die bisherigen Machthaber als die Garanten einer Ordnung, die ihren Bürgern zumindest eine serbische Rumpfnation bewahrt hat, ohne sie in einen aussichtslosen Krieg zu schicken; diese Ordnung soll als Basis eines neuen Aufschwungs fungieren und gegen „abenteuerliche“ Nationalisten wie gegen „Landesverräter“ gesichert werden.

Da konkurrieren also drei Kandidaten – und ein vierter außer Konkurrenz – um nichts Geringeres als die „Rettung“ des serbisch-restjugoslawischen Staatswesens; mit untereinander unvereinbaren Rezepten. Feindlich gegeneinander definieren die Parteien die Nation, um deren Erfolg es jedem anständigen Serben gehen soll, und den Erfolg, um den es der Nation zu gehen hätte. Dabei haben sie die nichtserbischen Minderheiten, die zum Belgrader Herrschaftsbereich hinzugehören, überhaupt gegen sich. Und daneben haben sie es mit der Republik Montenegro zu tun, die sich einerseits als dem wahren Serbentum zugehörig definiert und deswegen mit der serbischen Republik gemeinsame Sache macht, dabei aber ihre Autonomie wahren will und parallel zu den innerserbischen Abstimmungen einen Mann zum Präsidenten wählt, der seinen vom Schmuggel lebenden schönen Landstrich nicht länger von einem „überholten Mann“ namens Milosevic in Mißkredit bringen lassen will und die Option einer Trennung vom übermächtigen Föderationspartner offenhält.

Diese Gegensätze, die im Kampf um die Wahlen und im Wahlkampf selber aufeinandertreffen, bringen die Lage der Nation auf den Punkt: Die Nation ist selber gar nicht fertig. Die Neugründung eines serbischen Staatswesens aus dem zerstörten alten Jugoslawien heraus ist noch ohne definitives, anerkanntes Resultat, auf das alle Bevölkerungsteile alternativlos festgelegt wären und für das sich dann die konkurrierenden politischen Parteien – über alle Gegensätze hinweg, in demokratischem Konsens – Alternativen des Regierens einfallen lassen könnten. Aus der Zerstörung des alten Jugoslawien, die sie nicht verhindern konnte, ist die serbische Teilrepublik als Haupterbe der früheren Staatsmacht hervorgegangen; ganz im Sinne des – vom Westen ermutigten und geförderten – völkisch-chauvinistischen Aufteilungswahns, der den alten Staat zerstört hat, hat sie sich als souveräner Serbenstaat konstituiert und als Heimstatt aller Serben definiert; dementsprechend weitreichende Ansprüche hat sie gegen ihre Nachbarrepubliken erhoben – und beim Versuch, diese durchzusetzen, eine vollständige Niederlage erlitten. Nicht durch die neuen Nachbarn, sondern durch die westlich-demokratischen Weltmächte, die nach wie vor im Belgrader Staat mit seiner ererbten alten Macht und seiner neuen serbisch-nationalistischen Selbstdefinition die Hauptbedrohung ihres durchgreifenden Regimes über den „in Unordnung geratenen“ Balkan erblicken, sich entsprechend feindselig gegen alles stellen, was nach großserbischer Einigungspolitik aussieht, und einiges tun, um die republik-interne Nationalitätenfrage „offenzuhalten“. Gegen dieses imperialistische Regime kann der Belgrader Staat nicht an – den offenen Kampf hat er sowieso immer vermieden, den verhaltenen und verhohlenen Kampf hat er verloren, und dafür, daß er ihn probiert hat, läßt der Westen ihn ökonomisch noch immer büßen. Unter dem Regime der Aufsichtsmächte und der NATO kann der Staat aber nicht die nationale Serben-Heimat sein, als die er sich im Zuge der Zerstörung des alten Jugoslawien überhaupt neu aufgestellt hat.

Das ist das grundlegende Dilemma des Belgrader Staatswesens; und aus ihm ergeben sich die widerstreitenden Rezepte, mit denen die Führer der Belgrader Polit-Elite einander bekriegen. Jetzt erst recht auf die autonome („Rück-“)Eroberung großserbischer Macht setzen, oder aus der Not der erpresserischen Dayton-Ordnung die opportunistische Tugend eines größeren Wohlverhaltens gegenüber den maßgeblichen Westmächten machen – das ist die Alternative, aus der sie ihre jeweiligen Versuche eines Auswegs zusammensetzen. Kein Wunder, daß sich die Vertreter jeder Seite von den Gegenspielern die Preisgabe unverzichtbarer nationaler Positionen vorhalten lassen müssen: Zwar ist der großserbische „Traum“ gerade an der überlegenen Macht der weltpolitischen Ordnungsmächte gescheitert; aber soll man deshalb freiwillig die nationalen Interessen von den Lizenzen und Sanktionen derer abhängig machen, die Serbien erklärtermaßen kleinmachen wollen? Andererseits: soll man deswegen alle nationalen Interessen dem Widerstand gegen die verhängte Balkan-Ordnung unterordnen? Ist das Streben nach einem gesamtserbischen Staat staatsgefährdendes Abenteurertum oder der Verzicht darauf Hochverrat an der Sache des Volkes? Drangsale des Nationalismus…

Der serbische Wähler in seiner Weisheit trifft zwischen diesen Alternativen erst einmal gar keine Entscheidung: Einerseits gibt er dem entschlossensten Nationalisten die meisten Stimmen; andererseits verhindert er, ob mit oder ohne Nachhilfe der offiziellen Stimmenauszähler, mit einer unter den vorgeschriebenen 50% liegenden Beteiligung am zweiten Wahlgang Seseljs Erfolg. So bleibt wenigstens das unauflösliche Dilemma der Nation einstweilen in bewährten Händen – und was an Staatsmacht in Belgrad verblieben ist, löst sich unter der Konkurrenz ihrer Retter weiter auf.

Dieses Ergebnis kommt in der Tat ganz ohne direkte Einmischung der NATO-Staaten zustande. Die Aufsichtsmächte lassen aber keinerlei Zweifel daran aufkommen, daß sie sich für die entscheidende Instanz halten, die über das Schicksal auch des serbischen Staatsprojekts befindet. Die Brechung des serbischen Nationalismus ist für die Oberaufseher über den Balkan noch nicht beendet. Folglich entnehmen sie dem mehr oder weniger verächtlich kommentierten innerserbischen Machtkampf sowohl die Perspektive einer – durchaus erwünschten – weiteren Schwächung von innen heraus als auch die „Destabilisierungs“-Risiken, auf die sie sich mit ihrem Kontrollbedürfnis einstellen müssen. Ihr prinzipieller Souveränitätsvorbehalt gegenüber dem Belgrader Rumpf-Jugoslawien – die USA verweigern der Republik die diplomatische Anerkennung, die Europäer den Zutritt zur OSZE – äußert sich darin, daß sie das Wahlergebnis für eine ziemlich undemokratische Zumutung erklären, noch bevor die Wahl überhaupt begonnen hat. Schließlich halten sie das „Milosevic-Regime“ schon längst für „historisch überholt“, die angetretenen Konkurrenten aber für eher noch größere Übel – und was den am ehesten passenden Kandidaten betrifft, das selbsternannte „Pferd des Westens“ Djindjic, so machen sie sich über dessen Erfolgsaussichten nichts vor. Insofern geht das Ergebnis mangels brauchbarer Alternativen im Endeffekt auch wieder in Ordnung: Nach Lage der Dinge hätte der Wähler sowieso nichts richtig machen können…