Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Deutschland kümmert sich um den Sudan:
Wozu eine „humanitäre Katastrophe“ gut ist

Die Opfer „ethnischer Vertreibungen“ im West-Sudan werden ideell adoptiert und nicht bloß der bekannten deutschen Mildtätigkeit ans Herz gelegt, sondern zum Anlass genommen für flammende Appelle an die ‚internationale Gemeinschaft‘: Die dürfe nicht wie vor 10 Jahren beim Massenmord von Hutus an Tutsis „wegschauen“, sondern müsse einschreiten und mit überlegener Gewalt einen neuen Völkermord verhindern.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Deutschland kümmert sich um den Sudan:
Wozu eine „humanitäre Katastrophe“ gut ist

Den ganzen Frühsommer über unterhält die deutsche Öffentlichkeit ihr Publikum mit einer ‚humanitären Katastrophe‘ größeren Ausmaßes im West-Sudan: Die mörderischen Auswirkungen eines Aufstands bzw. seiner Niederschlagung durch Militär und Milizen werden umfänglich ins Bild gesetzt und beklagt. Über die Hintergründe der Schlächtereien und Vertreibungen wird auch das eine oder andere bekannt: über Erdöl, das mal wieder eine wichtige Rolle spielt; über ‚ethnische Konflikte‘, in denen es um die Nutzung des Landes geht und die sich mit den umstrittenen Herrschaftsverhältnissen im benachbarten Tschad verquicken; der derzeitige Hauptfeind der Menschheit, der ‚Islamismus‘, soll diesmal nicht von großer Bedeutung sein… Wie dem auch sei, die Opfer werden ideell adoptiert und nicht bloß der bekannten deutschen Mildtätigkeit ans Herz gelegt, sondern zum Anlass genommen für flammende Appelle an die ‚internationale Gemeinschaft‘: Die dürfe nicht wie vor 10 Jahren beim Massenmord von Hutus an Tutsis „wegschauen“, sondern müsse einschreiten und mit überlegener Gewalt einen neuen Völkermord verhindern.

„Wenn es nach den meisten Menschen auf dieser Welt ginge, dann wären längst UNO-Friedenstruppen im Westsudan und würden die Massenvertreibungen, wenn nicht gar den Völkermord verhindern… Und was tut die Bundesregierung?“ (Ulrich Wickert im Tagesthemen-Gespräch mit Heidemarie Wieczorek-Zeul, 20.5.)

Die Bundesregierung ist einer Meinung mit ihrer aufgeregten 4. Gewalt, entsendet den Außenminister nach Khartum zwecks ernstlicher Abmahnung der sudanesischen Regierung, und die so hart befragte Zuständige für Berlins Wirtschaftliche Zusammenarbeit erklärt am 26.5. im Bundestag:

„Wir sind in der Verantwortung, alles zu tun, damit im West-Sudan Menschenleben gerettet werden. Ethnische Vertreibungen werden wir nicht hinnehmen! Die Taktik der verbrannten Erde darf nicht aufgehen! Unser Ziel ist, den Vertriebenen die Wiederkehr in ihr Land zu ermöglichen.“

So viel ist klar: Ein mitfühlender Mensch, dem Elend und Gemetzel auf der Welt aufs Gemüt schlagen, würde sich schlicht lächerlich machen mit der Ansage an die sudanesische Regierung, er wäre nicht länger bereit, deren Gewaltaktionen hinzunehmen. Auch der kritische Nachrichtenmoderator, der mit moralischer Empörung den Weltlauf kommentiert, würde sich blamieren, wenn er seine Redaktionskonferenz beschließen ließe, den Vertriebenen die Wiederkehr in ihr Land zu ermöglichen. Nicht lächerlich ist die Sache, weil hier ein Mitglied der Bundesregierung eine Regierungserklärung abgibt und weil es sich um die deutsche und nicht um irgendeine Staatsgewalt handelt, die sich so zu Wort meldet – Politiker aus inferioren Nationen würden auch nicht besonders ernst genommen, wenn sie bei sich zu Hause einer fremden Staatsmacht Null-Toleranz für deren Machenschaften ankündigen würden. So wie die Berliner Minister für Außenpolitik und Entwicklungshilfe können nur Machthaber reden, die erstens fähig und zweitens gewillt sind, über zwischen- und innerstaatliche Gewaltaffären auf dem Globus wirksam Aufsicht zu führen, und denen niemand damit kommen kann, sie sollten sich gefälligst nicht in die „inneren Angelegenheiten“ anderer Souveräne „einmischen“. Sich so mit drastischen Forderungen vor aller Welt aufzubauen, ist das Privileg der Macht.

Damit ist nun allerdings auch des Weiteren klar: Mit so einer Regierungserklärung ist nicht einfach ein ehrliches oder geheucheltes Entsetzen über Gemetzel und Massenelend am Rande der Sahara auf eine höhere Stufe gehoben. Die Sache selbst, um die es geht, ist damit eine ganz andere. Eine Regierung, die sich so praktisch für die Gewaltverhältnisse in einem anderen Staat interessiert, zettelt damit eine Machtprobe an; sie testet die Reichweite ihres Einflusses, ob nämlich der derart angegangene Staat von ihrem Machtwort hinreichend beeindruckt ist, so dass er a) überhaupt reagiert und b) sogar mit Respekt. Das ist dann auch die Sache, um die es geht: ein Stück zwischenstaatlicher Bevormundung, den Gewaltgebrauch der fremden Obrigkeit betreffend. Mit dem wir der deutschen Ministerin, ihrem werden wir nicht hinnehmen; darf nicht aufgehen; unser Ziel ist es usw., befindet man sich in den Sphären der Macht und des internationalen Machtvergleichs, des Kräftemessens, der allergrundsätzlichsten Konkurrenz der Nationen, in der es eben vor allem um die Frage geht, wer wen wie sehr zu beeinflussen, wie viel Respekt eine Staatsgewalt sich bei ihresgleichen zu erringen und zu erzwingen vermag. Was den moralischen Menschen erschüttern mag, spielt für diese politische Hauptsache bestenfalls die Rolle eines Anlasses, ist Material für die eigentliche politische Materie.

Wenn deutsche Regierungsmitglieder hochtönende Erklärungen in Richtung Khartum vom Stapel lassen, dann geht es also erstens um einen weltpolitischen Machtbeweis. Die Opfer vor Ort sind der Stoff, an dem Deutschland in diesem Fall die Reichweite seines Einflusses und seine Fähigkeit erprobt, den Machthabern im Sudan Respekt abzunötigen. Deswegen muss sich die Chefin der deutschen Entwicklungshilfe auch gar nicht erst erkundigen, ob irgendeine Partei vor Ort überhaupt scharf auf die trostlosen Zustände ist, die sie unbedingt wiederherstellen will; deswegen braucht sie sich keine Gedanken darüber zu machen, mit wie vielen Opfern das Unterfangen verbunden wäre, die längst praktizierte „Taktik der verbrannten Erde“ nachträglich scheitern zu lassen: Berlin präsentiert sich als – über alle Konkurrenten würde man sagen: ‚selbst ernannter‘ – Oberaufseher über die Gewaltverhältnisse in anderen Ländern. Das ist so abstrakt, wie es klingt: Solcherart Abstraktion, die Prinzipienreiterei in Sachen Einfluss, ist die erste Materie der Diplomatie.

Deswegen liegt es auch zweitens überhaupt nicht an den Opfern in Afrika, sondern in der Kompetenz der Machthaber in Berlin zu entscheiden, welche Bedeutung den innersudanesischen Gewalttätigkeiten eigentlich zukommt. Sie wissen bei jedem Gemetzel fein säuberlich zu unterscheiden und völker-rechtsmäßig zu kategorisieren – so auch in diesem Fall: Handelt es sich um ein „humanitäres Problem“, wie Khartum behauptet, oder um „ethnische Vertreibung“, um eine „Säu-berung“, um „Genozid“ oder vielleicht um gar kein Verbrechen, sondern lediglich – wie ein englisches Blatt meint – um einen „relatively minor subplot“? Die Antwort hängt nicht von genaueren Ermittlungen ab; unterschiedliche Einschätzungen liegen nicht daran, dass die eine Großmacht mehr Tote und vergewaltigte Frauen entdeckt hätte als die andere und deswegen ein Eingreifen für dringlicher hielte. Es ist umgekehrt: Weil die verschiedenen weltpolitisch interessierten und engagierten Aufsichtsmächte den Konflikt unterschiedlich wichtig nehmen, gelangen sie zu unterschiedlichen „Definitionen“ der Lage. Es zeugt von einem besonders dringlichen Bedürfnis, den eigenen Eingriffswillen anzumelden, wenn die deutsche Ministerin definiert: Dies ist mehr als ein Konflikt. Das ist der organisierte Versuch, eine Volksgruppe auszulöschen. Wohingegen der amerikanische Außenminister gar nichts mehr anmelden muss, sondern sowieso maßgeblich eingemischt ist, dem Sudan noch eine Bewährungschance geben will und daher die „Tragödie“ „fast“ genauso sieht wie die deutsche Kollegin, aber eben nur „fast“: Das ist fast ein Genozid.

Zu welcher Lagedefinition die zuständigen weltmächtigen Oberaufseher sich entschließen, das hängt drittens von noch ganz anderen Dingen ab als dem Grad der Widerspenstigkeit, den die Regierung in Khartum ihrer Bevormundung entgegensetzt. Der Sudan ist Teil des islamischen Krisenbogens (Außenminister Fischer), der von Nordafrika über den Nahen Osten bis nach Afghanistan reicht; von dem gehen Gefahren ganz eigener Art aus. Er bedroht zwar nicht gerade die Flüchtlinge in Darfur, dafür aber Staaten, die im „Krieg gegen den Terror“ engagiert sind. Von dieser Warte aus betrachtet, muss man sich fragen, ob man den Sudan nicht in eine Antiterror-Allianz einbauen sollte, in dem Fall ist Nachsicht beim Umgang mit dem „verbrecherischen Regime“ geboten. Hat sich der Sudan nicht von einem Herbergsvater für Bin Laden zu einem Mitstreiter im Kampf gegen Al Kaida gewandelt? Und wenn Amerikas große Anti-Terror-Kampagne den Irak als Petroleumquelle bis auf Weiteres unbrauchbar macht und so wichtige Ölförderländer wie Saudi-Arabien destabilisiert, wird der Sudan dann nicht vielleicht zu einem wichtigen Mosaikstein in der zu schaffenden Stabilitätszone? Zumal sich dort interessante Ölquellen befinden, die unter dem Gesichtspunkt der Versorgungssicherheit als alternative Bezugsquelle zum Mittleren Osten für das hohe Gut namens „unsere Ölversorgung“ dienlich sein können (SZ, 20.2.). Damit sie dienlich werden, muss man den Sudan vielleicht sogar ein wenig umwerben? Andererseits ist Rücksichtnahme insoweit ganz unangebracht, wie konkurrierende Wirtschaftsmächte mit dem Sudan bereits im Geschäft sind und „unsere“ Geschäftsaussichten ganz ungebührlich einschränken. Ein kritisches Augenmerk richtet sich hier vor allem auf den neuen „global player“ China, der mit seinem allzu erfolgreich aufstrebenden Kapitalismus gar nicht bloß nützlich, sondern als Konkurrent gefährlich ist, außerdem „unsern“ Ölmarkt leer kauft und sich angeblich schon die Öl-Claims im Südwesten des Sudan gesichert hat – ohne Genehmigung aus Berlin! Das alles will jedenfalls mit bedacht sein, wenn man die Schlächtereien dort als „Völkermord“ oder anders einstuft. Und das alles ist auch mit einkalkuliert, wenn Außenminister Fischer in aller Öffentlichkeit bedauert, dass die Regierung in Khartum keine Angst vor Sanktionen hat, und zugleich hofft, dass der riesige Sudan nicht an seinen Konflikten zerbricht (Der Spiegel, 29/04).

Die Nutzenabwägungen eines politischen Engagements sind also einigermaßen komplex und werden viertens schon gar nicht einfacher, wenn man sie ins Verhältnis zum Aufwand setzt, den „wir uns“ leisten wollen, um die sudanesische Regierung gegebenenfalls gewaltsam zur Willfährigkeit zu zwingen. Eigene Soldaten schicken, das wäre eine hochgefährliche Operation. Wir können das nicht leisten (Ch. Schmidt von der CSU) – gedacht wird an eine solche „Option“ also durchaus. Aber wenn die Bundeswehr schon mit der Verteidigung der deutschen Freiheit im Kosovo und am Hindukusch ausgelastet ist: Kann man nicht vielleicht intervenieren und zugleich die Lasten der Intervention billig halten oder gleich auf andere abwälzen? Ist dem Kontrollanspruch eventuell mit Beobachtern hinreichend Genüge getan? Falls zu deren Schutz dann doch Truppen nötig sind: Kann man dafür nicht die Afrikanische Union mit ihren Soldaten einspannen und so erstens Personal, zweitens Geld sparen und drittens erreichen, dass auch diese Staaten auf deutsch-europäisches Kommando hören? Können „wir“ den dafür nötigen finanziellen Aufwand nicht gleich der EU aufhalsen und die afrikanische Friedensfazilität der EU anzapfen? Zusammengefasst: „Unser“ Kontrollanspruch soll respektiert werden – aber möglichst zum Null-Tarif. Besondere Schwierigkeiten einer „humanitären Mission“ ergeben sich also daraus, dass Deutschland sich mit anderen Nationen darum streiten muss, wer die Lasten zu tragen hat und wer federführend in der Angelegenheit ist.

Das führt fünftens direkt zum Verhältnis zur Führungsmacht USA, die so etwas wie ein Monopol auf Federführung für sich in Anspruch nimmt. Die Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul kann daher gar nicht an die „humanitäre Katastrophe“ in Afrika denken, ohne zugleich an Amerika zu denken: Die Amerikaner sind mit den entsetzlichen Folgen ihres Kriegs im Irak beschäftigt. Sie konzentrieren sich darauf und es darf nicht wieder passieren, dass alle Augen auf andere Konflikte gerichtet werden und Afrika vergessen wird. Natürlich befürchtet man in Berlin überhaupt nicht, dass die Regierung in Washington Afrika vergessen könnte; im Gegenteil. Dass Amerika immer und überall seine Regelungskompetenz geltend macht, schon gleich da, wo in irgendwie interessanten Weltgegenden in größerem Stil Gewalt zur Korrektur politischer Verhältnisse angewandt wird, das ist überhaupt der praktische Ausgangspunkt aller deutschen Einmischungsinitiativen. Überall stößt ja der Versuch, eigenen Einfluss zu entfalten, auf die USA, und an allen Ecken und Enden stellt sich die Grundsatzfrage, wie man sich zu deren Ordnungsmacht ins Verhältnis setzen soll: mehr konkurrierend oder mehr unterstützend; mehr schmarotzend oder mehr alternativ… Was die deutsche Regierung im Sudan afrikapolitisch plant, ist von vornherein durchkalkuliert im Hinblick auf die Rolle, die sie sich innerhalb und komplementär zu der Weltordnungspolitik der USA erobern will.

Wie halten „wir“ es sechstens last but not least mit der UNO? Womöglich ist das Elend im Sudan ja eine günstige Gelegenheit, sich in eine Führungsrolle in diesem Verein zu hieven, indem Deutschland – in wohltuendem Kontrast zu den Amis, die die UNO immer nur für ihre Anliegen instrumentalisieren wollen – als Unterstützer eines grandiosen Vorschlags auftritt, den die UNO, in Gestalt ihres Chefs, selber propagiert: Kofi Annan kennt seine Vereinten Nationen, weiß, dass Massaker zur Tagesordnung gehören, will daher der Welt – anlässlich des 10. Jahrestags des Völkermords in Ruanda – ein Frühwarnsystem spendieren und den Sudan zum ersten Fall für den neuen Sonderbeauftragten zur Verhinderung von Völkermord machen. Wenn Deutschland sich vorbildlich hinter diese Initiative stellt, beweist dies nicht, dass es in Zukunft in der UNO weiter vorn stehen muss, also Deutschlands Eignung für einen Sitz im Sicherheitsrat (Der Spiegel, 29/04)? So kommen die drangsalierten Sudanesen schließlich auch noch zu der Ehre, der deutschen Regierung als Anlass für eine innerimperialistische Konkurrenzaffäre zu dienen, die auf der höchsten Ebene der internationalen Diplomatie abgeklärt werden muss: Staatsministerin Kerstin Müller reist nach New York und erwirkt nach langen und mühsamen Verhandlungen im Sicherheitsrat eine Presidential Declaration, die eine unverkennbar deutsche Handschrift trägt.

*

Von wegen also: Es passiert nix! Das alles „passiert“. Den Wickerts der Nation macht das jedoch wenig Eindruck. Denen ist das alles zu wenig: Sie vermissen Gewalt gegen ‚das Böse‘ in der Welt. Offenbar ist ihnen die Ideologie zu Kopf gestiegen, mit der die NATO seit einem Jahrzehnt ihre Kriegspolitik rechtfertigt und der sie sich, natürlich immer kritisch, vollinhaltlich angeschlossen haben: Bei der Einmischung in die Bürgerkriege zur Zerlegung des einstigen Jugoslawien und speziell im Kampf gegen die Belgrader Regierung zur Sicherung der Oberhoheit über die innereuropäischen Machtverhältnisse wäre es um nichts als internationale Verbrechensbekämpfung und darum gegangen, Moslems und Kosovaren vor „Gräueltaten“ zu schützen. Jetzt nehmen die Moralisten des gerechten Kriegs ihre Politiker beim Wort und verlangen nach der Devise ‚Wer A sagt, muss auch B sagen‘ die Fortsetzung dieser edlen Mission im Sudan; andernfalls könnten sie ihnen den Vorwurf der Pflichtvergessenheit nicht ersparen.

Mit diesem kritischen Blick auf die Sudan-Politik der Regierenden in Berlin und anderswo stellt die nationale Öffentlichkeit sich einerseits entschieden ignorant zur Logik der Berechnungen, denen das Interesse der Berliner Machthaber an den Vertriebenen von Darfur folgt. Äußerst parteilich und durchaus realitätstüchtig stellt sie sich dafür andererseits zum letzten und obersten abstrakten Zweck, den Deutschland tatsächlich mit seiner Einmischung in die sudanesischen Gewaltverhältnisse verfolgt: Die Welt braucht mehr deutschen Imperialismus. Die Moralisten, die dem Imperialismus der Nation vorauseilend sein gutes Gewissen verschaffen, gibt es schon.