Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Deutsche Einsichten in die russischen Verhältnisse:
Ein Dezember-Update fürs zeitgemäße Russland-Bild

Die Parlamentswahlen und die ihnen folgenden Proteste gegen Putin und Medwedjew bieten der deutschen Presse die Gelegenheit, ihre Leser über die politische Lage im Land aufzuklären.

„Facebook-Feldzug gegen Putin. Ein neues Russland kämpft gegen das alte.“

Dem Spiegel (50/2011) sind die Massenproteste offenbar herzlich willkommen; mit einem einzigen Wort stiftet es Klarheit darüber, was man von den Ereignissen zu halten hat. Der Name „Facebook“ verleiht der Protestbewegung ein Attribut, mit dem erschöpfend Auskunft über sie gegeben ist: Es steht für persönliche Freiheit und moderne Lebensweise, gilt als wesentliches Kennzeichen fortgeschrittener westlicher Gesellschaften und erinnert an die ihm zugeschriebene rühmliche Rolle im Kampf arabischer Völker gegen Diktatoren. Der gute Ruf des im Westen beheimateten, sozialen Netzwerks drückt alles aus, was der Spiegel zur Beurteilung dieser Bewegung braucht. Damit ist sie zur guten, ja ideell zu unserer Sache gemacht. Dieselbe Botschaft bekräftigt das Gegensatzpaar „neu“ versus „alt“ noch einmal. Über Russland muss man im Wesentlichen wissen, dass da eine junge Bewegung gegen eine Staatsführung protestiert, die schon länger in denselben Händen liegt.

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Deutsche Einsichten in die russischen Verhältnisse:
Ein Dezember-Update fürs zeitgemäße Russland-Bild

Die Parlamentswahlen und die ihnen folgenden Proteste gegen Putin und Medwedjew bieten der deutschen Presse die Gelegenheit, ihre Leser über die politische Lage im Land aufzuklären.

Der Spiegel: Putins Götterdämmerung

„Facebook-Feldzug gegen Putin. Ein neues Russland kämpft gegen das alte.“

Dem Spiegel (50/2011) sind die Massenproteste offenbar herzlich willkommen; mit einem einzigen Wort stiftet es Klarheit darüber, was man von den Ereignissen zu halten hat. Der Name „Facebook“ verleiht der Protestbewegung ein Attribut, mit dem erschöpfend Auskunft über sie gegeben ist: Es steht für persönliche Freiheit und moderne Lebensweise, gilt als wesentliches Kennzeichen fortgeschrittener westlicher Gesellschaften und erinnert an die ihm zugeschriebene rühmliche Rolle im Kampf arabischer Völker gegen Diktatoren. Der gute Ruf des im Westen beheimateten, sozialen Netzwerks drückt alles aus, was der Spiegel zur Beurteilung dieser Bewegung braucht. Damit ist sie zur guten, ja ideell zu unserer Sache gemacht. Dieselbe Botschaft bekräftigt das Gegensatzpaar „neu“ versus „alt“ noch einmal. Über Russland muss man im Wesentlichen wissen, dass da eine junge Bewegung gegen eine Staatsführung protestiert, die schon länger in denselben Händen liegt.

Dabei stehen „neu“ und „alt“ nicht einfach für neu und alt, sondern für zeitgemäß, historisch berechtigt, also gut, gegen überlebt, reaktionär und böse.

„Nach der gefälschten Parlamentswahl rütteln Blogger am Unterdrückungsapparat des Kreml... Blogs und andere Online-Kampagnen gegen die Lügen des Fernsehens und die Unterdrückung durch Polizei und Geheimdienst... Mehr als 350 000 Mitarbeiter zählt alleine der Inlandsgeheimdienst; 200 000 gehören zu den Innenministeriumstruppen. Sie alle sind gedrillt, Proteste niederzuschlagen, ausgerüstet mit Panzerwagen und Kampfhubschraubern...“

Die russische Staatsgewalt ist böse, sie be- und verhindert Protest gegen sich. Damit enthüllt sie im Urteil des Spiegel ihren ganzen und einzigen Daseinszweck: Er besteht in nichts als Machterhalt und Repression. Die Protestbewegung kennzeichnet das entgegengesetzte Anliegen: Sie kämpft gegen die Mächtigen und ihre Macht – das zeigt, dass hier die Guten unterwegs sind. Wenn der Spiegel dann erst die unfair asymmetrische Kriegsführung vor Augen stellt zwischen den unzähligen bewaffneten Staatsschützern und der unbewaffneten, mutigen Internet-Jugend, ist endgültig klar, wer hier David und wer Goliath ist, wer Sympathie verdient und wer Verachtung.

Jetzt brauchen die Guten nur noch Erfolg, damit der Spiegel sie nicht nur sympathisch finden, sondern ernst nehmen kann. Kein Problem: Auch dafür sorgt er selbst durch entsprechende Lagerberichte:

„Internetberichte über Wahlfälschungen können sie nicht verhindern... Gegen die neue digitale Welt ist auch einer der weltweit größten Unterdrückungsapparate weitgehend machtlos. “

Da schau her, das smarte, freiheitliche Internet stellt die schwerfällige Kriegsmaschinerie des Regimes bloß. Goliath schlägt um sich, und ins Leere und beweist mit dem Einsatz seines gigantischen Machtapparats doch nur seine Ohnmacht. Das „Neue Russland“ entlarvt einen Koloss auf tönernen Füßen. Und was fällt, das soll man bekanntlich auch noch stoßen. Erfolg und Misserfolg, Stärke und Schwäche sind beim Spiegel eben auch nicht nur, was sie sind, sondern Werturteile, mit denen er das Recht auf die Macht bzw. auf Widerstand gegen sie verteilt.

Es ist bemerkenswert, was da über eine Auseinandersetzung zwischen einer Staatsführung und unzufriedenen Bürgern mitteilenswert gefunden wird: Über die Zwecke und Interessen, die sich gegenüberstehen, erfährt man nichts. Stattdessen bekommt man den Gegensatz von alt gegen neu geboten, hört von Demonstrationsverboten gegen Bürger, die Wahlergebnisse nicht respektieren, und von ineffektiver Repression gegen clevere Angriffe auf die öffentliche Ordnung. Und immer ist klar, dass das Zweite das Richtige und Gute ist und die Parteinahme des deutschen Lesers verdient, das Erste aber verdient, gestürzt zu werden. In seinen Wert- und Unwert-Urteilen begründet der Spiegel nicht, in ihnen betätigt er eine vorausgesetzte Parteilichkeit gegen den höchsten Repräsentanten eines Russland, das dem deutschen Standpunkt, den er vertritt, irgendwie – wie sagt er ja nicht – nicht recht ist. Für diese Parteilichkeit vereinnahmt er die Leser mit seinen unsachlichen, politmoralischen Prädikaten.

Dem Schema bleibt er treu, wenn er sich dem ganzen russischen Volk zuwendet, ob es nun demonstriert oder nicht: Auch es ist innerlich längst von seinem Despoten abgefallen.

„Seit der gefälschten Wahl ist das Land wie aus einer Starre erwacht, scheinen seine Bürger die Angst vor dem Regime, vor Kontrolle und Repression zu überwinden.“

Wenn jetzt eine Minderheit demonstriert und sich weiße Schleifchen ans Auto bindet, was sie früher nicht gemacht hat, dann nicht, weil sie jetzt etwas anderes richtig findet als damals, sondern weil sie jetzt Starre und Angstüberwindet, also tut, was sie immer schon tun wollte – sich aber nicht getraut hat. Der journalistische Kunstgriff, das Aufbegehren der Minderheit nicht auf Gründe der Unzufriedenheit, sondern auf die Überwindung einer Hemmung zurückzuführen, erschließt dem Spiegel zugleich, warum das dann doch nur eine Minderheit tut: Auch die Mehrheit, die nicht rebelliert (sondern Putin wählt), steht innerlich in Opposition zu ihm, sie ist aber noch, was die Mutigeren nicht mehr sind: verängstigt und mutlos. Eigentlich ist die Absage an die Putin-Nomenklatura flächendeckend. Wenn man nicht viel davon merkt, beweist das nur den Grad der Repression.

Freilich kennt der Spiegel auch positive Gründe für die Unzufriedenheit mit Putin: Der Mann ödet.

„Angewidert oder bloß gelangweilt von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, sehen immer mehr Russen in Nawalny nun das Gesicht, nach dem sie sich sehnen. Das Magazin ,Esquire‘ setzte den neuen Helden sogar auf seinen Hochglanztitel.“

Ob der politische Gehalt des Protests wirklich so bescheuert ist, wie hier behauptet, dass sich nämlich ein Volk nach neuen Führern sehnt, weil es sich an den alten satt gesehen hat, sei dahingestellt. Der Spiegel hält Langeweile und Überdruss, die er den Russen nachsagt, für absolut respektable Gründe, gegen Putin zu sein. Jeder Unsinn ist ihm gleich willkommen, wenn der nur die entscheidende Botschaft hergibt: Putin steht bei seinem Volk endgültig und vollständig auf verlorenem Posten!

Also braucht und will das Volk – was sonst? – neue Führer, denen es wieder begeistert nachlaufen kann. Die Redaktion hat schon einen Überblick über das personelle Angebot, das als Alternative zu Putin schon mal ihre Vorschuß-Sympathie verdient:

„Warlamow ... dirigiert seine Mitarbeiter per Smartphone und Computer, darunter sind seit neuestem auch 20 Journalisten, die er bezahlt, um die regimekritische Web-Seite „Ridus“ zu betreiben ... Nawalny … , ein Internetpolitiker und noch dazu ein echter Kerl, ein ‚Muschik‘. Er gehört nicht zu den Liberalen, die in Russland als Weichlinge gelten, er ist ein Nationalist, der auch nicht davor zurückschreckte, gemeinsam mit Faschisten durch Moskau zu marschieren.“

Dass Warlamow ein Handy hat und sich Journalisten-Meinungen kauft, spricht sehr für ihn: Hier greift ein moderner und agiler Macher den Langweiler im Amt an. Einem Nawalny verleihen fehlende Berührungsängste mit Faschisten einen hübschen Farbtupfer im demokratischen Bewerberfeld und einen überzeugenden Kontrast gegen die hergebrachten, greis und grauen Oppositionsgestalten. Der Spiegel kennt nämlich die russische Seele: Kann liberale Weicheier an den Schalthebeln der Macht nicht leiden. Einem Macho und Führer wie Nawalny sollten die Herzen und Wahlstimmen also zufliegen; das macht Hoffnung.

Denn – die alter Leier wird wieder aufgenommen – Macho Putin schwächelt! Davon kündet nicht zuletzt der Ausgang der Parlamentswahl: 15 % hat seine Partei verloren … bei korrekter Zählung wären es noch einmal 10-15 % weniger gewesen.

Putins Partei hat nach 65 % vor vier Jahren nun noch knapp 50 % der Stimmen geholt, mehr als doppelt so viele wie die nächstplatzierten Kommunisten. Das ist dem Spiegel Absturz genug, um den Machtverfall Putins und seinen fälligen Sturz daraus abzuleiten. Für das demokratische Magazin spricht nichts so sehr für oder gegen eine Partei wie ihr Abschneiden bei Volkes Stimme, ob die Herrschaft ein Fluch oder Segen, legitim oder illegitim ist, entscheidet sich für es am Wahlausgang. Deshalb steht für es auch fest, dass einer wie Putin,dem der Spiegel das Herrschaftsrecht steitig machen möchte, kein Wahlsieger sein kann. Von daher rechtet der Spiegel an Putins Wahlerfolg herum und führt den gekonnten Nachweis, dass der in Wirklichkeit gar keiner, sondern purer Schein ist; der Mann im Kreml also aller demokratischer zustimmung zum Trotz undemokratisch, also unrechtmäßig die Macht ausübt: Erstens verliert er Zustimmung, verdient also auch die nicht, die er hat; und zweitens ist ja auch die nicht echt.

Der Mann kann machen, was er will, der Spiegel konstruiert aus jeder seiner politischen Regungen ein Indiz dafür, wie irreparabel abgewirtschaftet er ist. Setzt er sich angesichts schwindender Popularität zur Wehr, dann so, wie es Versager eben tun: er lenkt vom eigenen Versagen ab. Äußert er sich politisch, so bemüht er die alten Feindbilder, zu denen man nur noch müde lächeln kann. Selbst unter den Alten, einem Volksteil, dem noch jeder zutraut, geistig im Vergangenen verhaftet zu sein und sich von Scharlatanen leicht um den Finger wickeln zu lassen, ist eine neue Distanz zum Regime zu beobachten. Und wenn sein Pressesprecher nun einen Neustart verkündet und von ,Putin 2.0‘ spricht, so als könnte man dem Premier ein Update verpassen, hilft das erst recht nichts. Der Spiegel hat schon den passenden Konter parat: Er lässt den oppositionellen Blogger und Radiomoderator Matwej Ganapolski sprechen, dem eine unglaublich witzige Computer-Metapher eingefallen ist:

„Die neue Putin-Software passt nicht zum alten Prozessor... Man muss den ganzen Computer auswechseln.“

Noch schöner gerät die Tour, das eigene Urteil von einer russischen Stimme verkünden zu lassen, um ihm Echtheit und Unverfälschtheit zu verleihen, wenn sie sich allseits anerkannter Geistesgrößen bedient: Diesmal ist das Wiktor Jerofejew, Russlands wohl bekanntester Schriftsteller: Man muss ihn nur richtig fragen – Könnte Putin wie ein arabischer Autokrat vom Volk verjagt werden? – , um ihm die gewünschte schöngeistige Antwort zu entlocken: Der Zar steht auf einmal ohne Kleider da. Das Revolutionsjahr 2011 mit seinen Protesten ist nun auch im stillen Russland angekommen.

Die FAZ-Anlageberatung: Stabile Herrschaft ist auch ein Wert

Die schlechte Meinung des Spiegel über die russische Führung teilen die Kollegen vom Franktfurter Wirtschaftsressort (Risse in Putins Herrschaft, 13.12.11) nicht. Sie wischen dessen moralische und demokratische Urteilskriterien vom Tisch und stellen klar, worauf es ihnen zufolge bei der Führung des russischen Staates ankommt und von welchem Standpunkt aus das angemessen zu beurteilen ist:

„Putins Regentschaft war geprägt von Stabilität … Die Popularität, die Putin immer noch genießt, erwarb er sich in seiner ersten Amtszeit als Präsident durch die Stabilisierung der Wirtschaft, der Gesellschaft und der außenpolitischen Position Russlands nach den chaotischen neunziger Jahren. Die ausländischen Investoren schätzten diese Stabilität.“

Wo der Spiegel „Unterdrückung“ sieht, sieht die FAZ das Ende des Chaos und „Stabilität“. Um zu verstehen, dass das, was andere Friedhofsruhe nennen, keine neutrale Feststellung, sondern ein positives Werturteil über die Leistungen Putins ist, muss man – was dem Frankfurter Blatt ja im Blut liegt – nur vom richtigen Standpunkt aus die Verhältnisse beurteilen: dem Standpunkt kapitalistischer Investoren. Wo die gesunde Verhältnisse für ihre Bereicherung diagnostizieren, da ist das Land gesund. Was ihnen nützt, ist das allgemeine Wohl, um das es überall und auch in Russland zu gehen hat. Der FAZ sind die Proteste also Anlass zur Sorge, ob es bei der Putinschen Stabilität auch bleiben wird.

„Das schlechte Wahlergebnis der Kreml-Partei ,Einiges Russland‘, die Proteste gegen die vermutete Wahlfälschung, die zunächst harsche polizeiliche Reaktion darauf und der große Zustrom zu den jüngsten Demonstrationen lassen mittlerweile Zweifel an der Stabilität des politischen Systems und an der Popularität Putins aufkommen.“

Wer hegt diese Zweifel? Oder besser: Wessen Zweifel sind überhaupt von Belang?

An den Moskauer Börsen kam es nach der Wahl zu Kursverlusten ... Auch die Investoren beginnen offensichtlich, sich Gedanken über Russland zu machen.

Die FAZ hält sich zur Beurteilung der russischen Verhältnisse schlicht an die Börsenkurse: Wenn die Spürnasen des Profits unsicher werden und Investments meiden, dann sind Staat und Volk nicht mehr in Ordnung. Mehr Urteil braucht es nicht. Das aber schon – zumal Börsianer ihre Einschätzungen gleich wirksam und verbindlich machen. Wo sie Geld abziehen, ist die Wirtschaft ja tatsächlich beschädigt. Die Kursverluste an der Moskauer Börse veranlassen die Freunde von Putins Stabilität zu einem abwägenden Urteil.

„Es geht um die Frage, ob die Vorteile der Stabilität oder Nachteile der Stagnation überwiegen. Sowohl für Direktinvestoren als auch langfristig orientierte Portfolioanleger sind stabile Verhältnisse von Vorteil. Die Begriffe der politischen Stabilität sind jedoch vieldeutig ... Problematisch an der Stabilität à la Putin ist allerdings seit jeher, dass sie von einer Person abhängig ist. In solch einem System ist prinzipiell die Ab- und Übergabe von Macht mit Schwierigkeiten behaftet.“

Stabilität, der Zustand in dem alles seine Ordnung hat und alle an dem Platz bleiben, wo sie hingehören, ist gut für Investoren und also überhaupt gut; Stagnation ist schlecht. Der Unterschied leuchtet jedem ein, der die Worte versteht; aber wo ist er? Mit theoretischen Erörterungen hält der Autor des Eliteblattes sich nicht auf; er lässt sich ein Beispiel einfallen, das alles klar macht: Wenn die Stabilität von der Art ist, dass sie den Keim von Instabilität in sich trägt, dann ist das Stagnation – und eben nicht so gut. Die scheindemokratische Alleinherrschaft à la Putin hat bei allen Vorteilen also auch potenziell geschäftsschädigende Schattenseiten.

Vor allem dann, wenn Putin auf die Proteste reagieren und zur Förderung seiner Popularität populistische Zugeständnisse machen sollte, die das Investitionsklima belasten. Soziale Rücksichtnahme aufs Volk geht gar nicht, da würden vollkommen sachfremde Kriterien die Politik des Kreml bestimmen.

„Bedeutsam wird auch für das Investitionsklima sein, wie die russische Führung reagiert. Es gibt Kabinettsmitglieder, die der Ansicht sind, die Regierung müsse ihre Maßnahmen besser kommunizieren und sozialorientierter werden. Dies könnte mit der Forderung, das Investitionsklima zu verbessern, im Widerspruch stehen.“

Die FAZ vermittelt ihren Lesern ein klares Bild vom Aufgabenkatalog politischer Führer: Die sind dafür da, ihre Länder mitsamt Völkerschaften als Wachstumspotenz fürs Profitstreben herzurichten und die dabei unvermeidlich erzeugte Unzufriedenheit der breiten Masse ohne Kosten und ohne Aufruhr unschädlich zu machen. Sie führt den Leser ein in die Besichtigung der Welt vom Standpunkt des Kapitalanlegers und erwartet von ihm, dass er, wie sie, dies als den objektiven, einzig relevanten Blickwinkel übernimmt. Da ist sie absolut entschieden; nicht so entschieden ist sie in der Frage, ob Putins Stabilität von diesem Standpunkt aus gesehen nun eher positiv oder eher negativ einzuschätzen ist. Auch „das Neue“ könnte Chancen für Investoren bereit halten.

„Trotz der Vorteile – großer Markt in der Nähe europäischer Länder, gut ausgebildete und konsumfreudige Bevölkerung – wirkt die russische Volkswirtschaft noch nicht entfesselt. Die institutionellen Probleme wie mangelnde Rechtsstaatlichkeit, Korruption, überbordende Bürokratie und die Abhängigkeit von Rohstoffexporten belasten das Investitionsklima … Auf längere Sicht könnte Bewegung in der verkrusteten politischen Struktur für Russland und die Investoren von Vorteil sein. Es gilt, die Stagnation zu überwinden.“

Bild: Putin – unser Mann für Öl und Gas

Anlässlich der Moskauer Proteste schreibt das Blatt des kleinen Mannes an Putin einen Brief:

„Lieber Wladimir Putin… Als ich gestern in der ‚Tagesschau‘ die Demonstrationen in Russland sah, hatte ich Angst… Was bedeutet das für mich? Was bedeutet es für mich als Wuppertaler, Hamburger, wenn Tausende von Russen demonstrieren? Bricht dort das Chaos aus? Unsere Heizung kommt aus Russland. Müssen wir jetzt frieren, wenn dort alles drunter und drüber geht? ... Ich kenne Menschen die Holz einlagern, Konservenbüchsen stapeln. Linsen, Bohnen, Erbsen, Möhren… Werden wir am Ende alle hungern?“

Der Autor erweckt gar nicht erst den Eindruck, er würde über die Vorgänge in Russland berichten; bei ihm ist gleich und ausschließlich Thema, was bei anderen Zeitungen der implizite Gesichtspunkt der Reportagen ist: Was haben die Moskauer Ereignisse für uns zu bedeuten. Und „Wir“, das ist das Blatt seinen Lesern schuldig, ist das Kollektiv der kleinen Leute: Es spricht sie als möglicherweise von russischen Unruhen betroffene Nutzer ihrer Öl- oder Gasheizung an. In gnadenloser Überzeichnung malt es frierende und hungernde Kälteopfer aus – um Putin für die Abwendung „unserer“ Not verantwortlich zu machen. Keine der vielen politischen und wirtschaftlichen Instanz hierzulande wie dortzulande, die mit ihren Interessen wirklich zwischen dem heizenden Bürger und den russischen Energiequellen stehen, wird auch nur erwähnt. Der Leser ist auf eine ihn scheinbar ganz unmittelbar und individuell betreffende Weise für einen politischen Anspruch auf höchster Ebene vereinnahmt. Nämlich für den des deutschen Staates gegenüber dem russischen, der gefälligst ein pflegeleichter Handelspartner für die Lieferung von Rohstoffen zu sein hat. Die ausgemalte Hilflosigkeit von Otto-Normal-Verbraucher steht für eine handfeste nationale Anspruchshaltung: Der Russe soll gefälligst sein Chaos in den Griff kriegen und uns zuverlässig sein Gas abliefern. Das wird der deutsche Kleinverbraucher – stellvertretend für die ganze Nation – von seinem Heizungs- und Gaswart in Moskau ja wohl verlangen dürfen – herzlichst!. Imperialismus für Hausfrauen!