Unsere Ukraine – ein einziger großer
Fall von „Korruption“
Friktionen bei der Herrichtung eines
failed state zum Frontstaat
Das Bild, das die deutsche Öffentlichkeit von der Ukraine zeichnet, hat sich seit ihrer Verwandlung in einen Vorposten des Westens stark geändert. Als es noch darum ging, das hiesige Publikum in seiner „Erweiterungsmüdigkeit“ davon zu überzeugen, warum das Land ganz unbedingt mit einem Assoziationsabkommen an die EU angebunden werden muss, war viel zu erfahren über den herrlich „europäischen“ Charakter von Land und Volk: Die Ukrainer seien auf Grund ihrer Geschichte (da figuriert ausgerechnet die k.u.k.-Herrschaft in der Westukraine als Beweis) oder von Natur aus ungleich viel westlicher/demokratischer geartet als die (asiatischen) Betonköpfe in Russland; ein Muster an buntem Pluralismus, Freiheitsliebe und civil society. Mit diesem liebenswerten Wesen, das sich auf dem Maidan gezeigt haben soll, gehörten sie einfach zu unserer Kultur und unseren Werten. Aber mittlerweile hat sich das Bild getrübt, und die Presse hat sichtlich auch die Lust an Berichten über den neuen Partner verloren – abgesehen natürlich von der endlosen Anprangerung russischer Missetaten im Osten. Die westliche Diplomatie moniert ein ums andere Mal eine doch sehr stockende Bereitschaft zu „Reformen“ und energischem Durchgreifen gegen zwielichtige Oligarchen, und überhaupt eine tief verwurzelte Korruption, die bis in die höchsten Kreise reicht: Kein Geringerer als der Präsident selbst ist in den Panama Papers aufgetaucht.
Die USA, die große Schutzmacht der Ukraine, haben sich an
die Spitze dieser Kritik gesetzt und entsprechenden
Handlungsbedarf entwickelt. Ihre Beschuldigungen richten
sich allerdings erst einmal gegen Russland. Von dort soll
es nämlich ausgehen, das Übel der Korruption, und
geradezu als Waffe zum Einsatz kommen: Wie ein
Ex-US-Botschafter berichtet, gehört Bestechung zu der
Kremlin Tool Box for Undermining the Peace of Europe
and Eurasia
.[1]
1. Amerika beklagt die Korrumpierung der Ukraine durch Russland
Mit Korruption, im amerikanischen Weltbild überhaupt eine der größten modernen Geißeln der Menschheit, will die amerikanische Diplomatie speziell ein Instrument von Putins Außenpolitik gekennzeichnet haben. Vizepräsident Biden schildert, wie Putin andere Nationen „aussaugt“ und ihrer Souveränität beraubt, passenderweise fürs amerikanische Gemüt mit Comic-Anleihen illustriert:
„Corruption is a cancer. Those of you who watch Superman movies and comic books, it is like kryptonite to the functioning of democracy. It siphons away resources. It destroys trust in government. It hollows out military readiness… But as President Putin and others engage in the use of corruption as a tool of coercion abroad, then fighting corruption is not just about good governance, it’s self-defense. It’s about sovereignty.“ [2]
Mr Herbst vertieft die Diagnose:
„Corruption, a major feature of Mr. Putin’s Russia, is an important tool for the Kremlin in promoting its influence in the Near Abroad. The Kremlin understands that corrupt foreign officials are more pliant. Cooperation between Russian intelligence services and criminal organizations figures here. For instance, the siphoning off of vast resources from the gas sector into private hands…“ [3]
Eine interessante neue Feindbildfacette, die sich die US-Diplomaten zurechtgelegt haben: Was Russland in seinem Nahen Ausland unternimmt, um sich Einfluss zu verschaffen, soll im Wesentlichen auf kriminelle Weise vonstattengehen. Abzulesen ist das zwar weniger an den Beziehungen selbst, denn dass „resources“ in „private hands“ geraten, ist ja eigentlich der Sinn von Marktwirtschaft. Aber Amerika, das Russland grundsätzlich kein Recht auf eine Einflusszone zugestehen will, das deshalb die Staatsraison der Nachbarstaaten auf „Unabhängigkeit“, sprich das pure Weg von Russland festzulegen sucht, bekommt es nun einmal damit zu tun, dass sich in denselben Nationen dann doch immerzu Interessen geltend machen, die auf fortgesetzte Beziehungen zu und Geschäfte mit Russland ausgerichtet sind. Die Supermacht korrigiert da selbstredend nicht ihre Definition, nach der sich diese Gesellschaften ausschließlich nach westlicher Betreuung sehnen, sondern weiß sofort, dass die anders orientierten betreffenden Subjekte korrumpiert, gekauft, bestochen, also russische Machenschaften am Werk sein müssen.
Mrs Nuland, im US-Außenministerium für Europa und Eurasien zuständig, vertieft diese Erkenntnisse mit Hilfe der amerikanischen sovietology:
„Fighting corruption is one of the hardest things that countries have to do – particularly countries emerging from the kleptocratic Soviet system. Pretty much every set of leaders since independence has, in one way or another, either directly ripped off the people of Ukraine or allowed it to happen. So there’s Soviet overhang here. There’s also a recent tradition of this… Dirty money buys politicians, buys businesses, takes over the sovereignty of the country, and manipulates politics.“ [4]
Nach dieser Diagnose lebt ein soviet overhang, völlig unberührt von der Abschaffung des alten Systems und deutlichen Anzeichen von Kapitalismus im europäischen Osten, immer noch weiter. Die amerikanische Politik will offensichtlich nicht ohne die Stilisierung Russlands und seiner Einflusspolitik zu einem bösen System auskommen. Ganz in der Tradition moralischer Verurteilung postuliert Nuland nun als Ersatz für die entfallene Sowjetwirtschaft die ‚System‘-Eigenschaft kleptocratic, das Ausrauben der Untertanen als Lebenszweck der östlichen Herrschaften. Und dieses angeblich sowjetische Erbe namens dirty money gilt es zu beseitigen.
Mit diesen politischen Definitionen ergänzt die US-Diplomatie ihre Sanktionspolitik gegenüber Russland, die auf dessen partiellen Ausschluss vom Weltmarkt und schrittweise Ächtung abzielen, um den Rechtstitel ‚Kampf gegen Korruption‘.[5] Die ökonomischen Interessen, die die Ukraine und andere Nachbarstaaten an Russland binden, siehe insbesondere die Geschäfte im strategisch bedeutsamen Sektor der Energieversorgung, denunziert Amerika als Ausfluss der korrumpierenden russischen Praktiken, weil es die Ukraine ein für allemal von jedwedem russischen Einfluss abtrennen will.
Im Zuge der Betreuung der endlich ins Lager der Freiheit gezogenen Ukraine hat sich dasselbe Urteil aber nun zunehmend und zunehmend giftiger gegen den eigenen Schützling gerichtet.
2. Das Leiden Amerikas an der Unzuverlässigkeit seiner Eroberung
US-Vizepräsident Biden telefoniert nach eigenen Aussagen
mindestens zwei Stunden pro Woche mit dem ukrainischen
Staatschef Poroschenko, und jedes Mal geht es um dasselbe
Thema: Corruption has been the topic of almost all of
our calls
. In einer seiner zahlreichen Standpauken
nimmt er sich den Ministerpräsidenten persönlich zur
Brust und verlangt kategorisch, dass jetzt endlich einmal
Verbrecher verfolgt, verurteilt und eingesperrt werden
müssen:
„‚Ukrainians know in their bones, it’s not enough to talk about changes, we have to deliver change, you have to deliver change. Ukraine has a strategy and new laws to fight corruption. Now you have to put people in jail.‘… Biden described Ukraine’s post-EuroMaidan Revolution government as having ‚one last chance‘ and, talking to Yatsenyuk directly from the stage, said: ‚This is it Mr. prime minister. The next couple years, the next couple months will go a long way to telling the tale… Success in Ukraine will tell a story about what Europe will look like in the next 10 or 15 years.‘“ [6]
Mit wachsender Unzufriedenheit bestehen die amerikanischen Betreuer der Ukraine darauf, dass ihre Schützlinge gefälligst Erfolge abzuliefern haben, und verwenden immer und immer wieder ihre rhetorischen Fähigkeiten darauf, denen klarzumachen, dass es einzig an der Korruption bzw. an deren mangelnder Bekämpfung liegt, dass sich der in Auftrag gegebene success nicht einstellt.
„Undermining Ukraine’s economic success… is corruption. Corruption kills. It kills productivity and smothers inspiration… Imagine the impact if – instead of lining corrupt officials‘ pockets – the resources being zapped by corruption were freed up and reinvested in Ukraine’s economy… Things get better, by insisting on accountability, transparency, and fair rules. Without these, business cannot survive and investors will not invest… Ukraine has every reason to succeed. This country has resources in abundance. Its highly educated workforce can supply Europe and its neighbors with human capital and competitive products. Its famous black earth already feeds the world.“ [7]
Es ist schon eine reife Leistung, der Ukraine ihre überreichlichen Ressourcen und das Recht auf Erfolg vorzurechnen, das in dem Fall die Schutzmacht Amerika beansprucht – derselben Ukraine, die sich seit ihrem Übertritt ins westliche Lager dank der einzigartigen Kombination von Kriegszustand und IWF-Regime gründlich ruiniert. Die regierungsamtliche Beschuldigung, dass Poroschenkos Mannschaft dem amerikanischen Paten den nötigen Erfolg allein aus mangelndem Eifer bei der Verfolgung von Korruption versagt, bewegt sich stark am Rand einer Halluzination, denn die Umstände im Land sind ja kaum zu übersehen.
Wirtschaftlicher Ruin als Preis der neuen Freiheit
Die Konfrontation in der Ostukraine hat einen industriell und für die nationale Energieversorgung bedeutsamen Landesteil in Kriegsgebiet verwandelt,[8] dazu kommen der Verschleiß von materiellen Mitteln für den Krieg, das Kappen der ökonomischen Verflechtungen mit Russland, der Abbruch der zwischenbetrieblichen Kooperationen, wodurch enorm viel von dem flachgelegt wird, was in der Ukraine bis dato als Wirtschaft zu bezeichnen war.[9] Der Streit mit dem Kreml um den Energiehandel hat zur Reduktion der von Russland abgenommenen Quantitäten geführt mit entsprechender Wirkung auf die Energieversorgung; Embargos, die Russland nach dem Beitritt der Ukraine zum europäischen Freihandel verhängt und vice versa, tragen zum Ruin der beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen bei. Zuweilen treten auch noch brave ukrainische Patrioten mit privaten Boykottmaßnahmen in Aktion und blockieren russische Transporte nach Europa, im Gegenzug blockiert Russland ukrainische Exporte nach Zentralasien etc.
Auf dieses Krisenensemble haben die westlichen Paten schließlich auch noch das IWF-Programm draufgesattelt. Der Internationale Währungsfonds verordnet der Nation im Namen einer Konsolidierung ihrer Schulden ein Staats-‚Sanierungs‘-Programm vom Feinsten: Die Freigabe des Währungskurses lässt die nationale Währung Griwna abstürzen, massive Kapitalflucht und Bankenschließungen folgen auf dem Fuße. Des Weiteren verordnet der IWF der Ukraine ein Haushaltsregime, das mit Ausnahme der Ausgaben fürs Militär [10] sämtliche Posten zusammenstreicht und die überkommenen staatlichen Leistungen für die elementaren Lebensbedingungen der Bevölkerung wegräumt. Vor allem die „Quersubventionen“ für Energie werden beendet, so dass Strom und Heizung für die Masse der Bevölkerung tendenziell unbezahlbar werden [11] und die Unternehmen mit einer explosionsartigen Teuerung zurechtkommen müssen, ihrerseits kaum mehr Steuern entrichten und Lohnzahlungen einstellen. Wachsende Teile der Bevölkerung werden dazu gezwungen, sich einen Gelderwerb im Ausland zu suchen – ironischerweise tun sie das auch in großer Zahl in Russland – oder sich in einem Status zwischen elender Subsistenz- und Schattenwirtschaft zurechtzufinden.[12]
Der amerikanische Standpunkt: die Ukraine ist ihren Befreiern den success einfach schuldig
Rücksichtslos gegen die verheerenden Umstände, die die
Einverleibung der Ukraine ins westliche Lager geschaffen
hat, besteht Amerika auf dem Erfolg seines Projekts: dass
der imperialistische Zugewinn die Funktionen
erfüllt, für die er in der US-Weltordnung vorgesehen ist:
Als Vorposten an der russischen Grenze hat er gefälligst
an sich selbst die nötige Stabilität herzustellen, seine
Leistung für das verlangte Containment Russlands darf
schließlich nie wieder wie nach der Orangen Revolution
durch einen Machtwechsel in Frage gestellt werden. Und
außerdem soll er mit seinem Erfolg auch auf die Nachbarn
ausstrahlen wie ein „Leuchtturm“, siehe Bidens Wünsche
für die europäische Zukunft: Success in Ukraine will
tell a story about what Europe will look like in the next
10 or 15 years.
Und weil eben das gar nicht stattfindet, sondern eher das Gegenteil, weil das ukrainische Desaster alles andere als ein leuchtendes Vorbild für die weißrussischen und sonstigen Nachbarn abgibt, weil die von den Führungsmächten verlangten „Reformen“, die die systematische Abtrennung von allen Verfilzungen mit russischen Interessen und Neuaufstellung als westlicher Vorposten bewerkstelligen sollten, nicht die erwünschten Wirkungen zeitigen oder auch gar nicht stattfinden, weil dieser imperialistische Zugewinn auf Grund des wirtschaftlichen Niedergangs und der Machtkämpfe in seiner herrschenden Klasse notorisch „instabil“, gar nicht definitiv gesichert ist; weil die reale Ukraine also alles in allem gegen die ihr aus Washington zugewiesene Mission verstößt, macht die amerikanische Vormacht als Grund dafür „schlechte Regierung“ im Allgemeinen und „Korruption“ bzw. „ausbleibende Korruptionsbekämpfung“ im Besonderen dingfest. Wenn man schon in Kiew die richtigen, nach Westen orientierten Figuren an die Macht gebracht hat, wenn man als Schutzmacht samt dem IWF die Aufsicht führt und „dennoch“ nichts in diesem Laden vernünftig funktioniert – kein Wachstum, kein effizienter Staat, kein energisches Durchregieren … – dann liegt das einzig daran, dass das sowjetisch-russische Erbübel Korruption die naturwüchsige Harmonie von freier Marktwirtschaft und guter Regierung blockiert: Reichtum wird unproduktiv abgezockt, anstatt sich in berufenen Händen zu vermehren, Ressourcen werden abgesaugt, statt dass sie …
Das mit dem Titel „Korruption“ praktizierte amerikanische Urteil über die Ukraine ist in der Sache ein vernichtender Befund, was deren imperialistische Tauglichkeit betrifft, eine einzige Vermisstenanzeige in Sachen good governance. Während sich aber Amerika mit vielen Staaten, denen gewohnheitsmäßig dasselbe bescheinigt wird, ganz gut abfinden kann, ist das in dieser strategisch hochbrisanten Gegend ein unerträglicher Zustand, der nicht geduldet werden darf:
„We don‘t have simply Russian aggression against the victim Ukraine. We have a predictably aggressive Russia against an unpredictable and unreliable Ukraine. Ukraine is now seen as not to be trusted. Where is the decentralization? Where is the commitment? Where are the reforms?“ [13]
Da bleibt der Supermacht gar nichts anderes übrig, als die Sache selbst in die Hand zu nehmen. An erster Stelle steht da natürlich, wie es sich in einem neuen Frontstaat gehört, die Betreuung des ukrainischen Militärs. Das wird in mehr oder weniger permanenten Manövern trainiert, an die Interoperabilität mit der NATO herangeführt und elementar ausgerüstet; allerdings nicht mit solchen Mitteln, wie sie für eine Rückeroberung der Ostukraine gebraucht würden und von Poroschenko unentwegt gefordert werden – auch in Sachen Krieg traut die US-Administration ihrem Schützling, so wie er im Augenblick dasteht, nicht über den Weg. Sie setzt auf eine intensive Pflege des ukrainischen Militärapparats – nicht nur und in erster Linie, um seine Schlagkraft zu erhöhen, sondern vor allem, um dessen Führungsstäbe auf die amerikanische Schutzmacht zu verpflichten und sich dergestalt eine Stütze im ukrainischen Herrschaftsapparat und Instrument zur politischen Kontrolle dieses unzuverlässigen Staatsgebildes zu verschaffen.
An zweiter Stelle kümmert sich Amerika nachhaltig um die weiteren essentials eines ordentlichen Staats: Was sonst noch so an Voraussetzungen für eine politische und ökonomische Stabilität nötig ist, hat die ukrainische Herrschaft gefälligst selbst herzustellen, d.h. sie gehört unter Aufsicht gestellt und zu gutem Regieren gezwungen. Und das wiederum heißt erst einmal, die der Korruption bezichtigte herrschende Klasse der Ukraine mit der Notwendigkeit einer grundlegenden Säuberung und Umerziehung zu konfrontieren.
3. Der Maßstab „Korruption“: ein Delikt, das aus dem Rechtsbestand der erfolgreichen kapitalistischen Staaten entlehnt ist und angewandt auf die Ukraine nur zersetzend wirkt
Der Maßstab, an dem die bad governance in der Ukraine gemessen wird, der ‚Tatbestand‘ der Korruption stammt aus dem Arsenal des demokratischen Rechtsstaats, der eine saubere Trennung von politischer Gewalt und ökonomischer Privatmacht postuliert, bei der die politische Gewalt unparteiisch und objektiv, eben als Rechtsstaat die Regeln setzt und überwacht, innerhalb derer die Privatsubjekte ihren und damit den nationalen Reichtum mehren.[14] Und es hat sich im Rahmen der Weltordnung, die die erfolgreichen Demokratien eingerichtet haben, eingebürgert, die Machart anderer Staaten gewohnheitsmäßig an den Einrichtungen der eigenen erfolgreichen Herrschaften zu bemessen, sich die Freiheit zu nehmen, diese Einrichtungen wie natürliche Erfolgsgarantien zu betrachten,[15] und – sehr folgerichtig – die Abwesenheit solcher Einrichtungen als Grund aller Missstände bei den Erfolglosen zu identifizieren. Warum sie fehlen, ist einerseits unverständlich, für imperialistische Erfolgsdenker aber schon auch erklärbar: Sie werden trotz dringlicher Empfehlungen und großer Not einfach nicht eingeführt, ein Versäumnis, das nur noch eine Frage aufwirft: die nach Schuld und Verantwortung bei den Machthabern. So auch im Fall der Ukraine, in dem Korruption als das Generalübel ausgemacht worden ist, an dem einerseits der gesamte Staatsapparat und andererseits die Sphäre des Gelderwerbs leiden.
Anhaltspunkte für die unsaubere Verflechtung von politischer und ökonomischer Macht sind in der Ukraine reichlich zu haben: Der Präsident ist selbst ein Oligarch, höhere politische Ämter machen ihre Besitzer reich, im Parlament hocken in so gut wie allen Parteien Oligarchen bzw. deren Strohmänner; dieselben Figuren bestimmen nicht nur die Parteienlandschaft, sondern beherrschen mit ihren Fernsehkanälen die Öffentlichkeit und lenken das Wählerverhalten. Und – was die Schutzmächte besonders erbittert – die ins Amt gehievte prowestliche Regierung gibt sich nicht die geringste Mühe, die als kleptokratisch definierte Vorgängerregierung vor Gericht zu bringen und ihre Nation mit einem demokratischen Schauprozess von der Verwerflichkeit der früheren Politik und der Güte des Lagerwechsels zu überzeugen.
Die auswärtigen Aufpasser und Berater, die die ukrainischen Zustände unter den Titel Korruption subsumieren, also als Ansammlung von Rechtsverstößen behandeln, können sich zwar darauf berufen, dass sich die Ukraine für ihren kapitalistischen Aufbruch all die Rechtsformen und -institutionen eingerichtet hat, die zu dieser Wirtschaftsweise dazugehören – insofern ist es auch keine Kunst, lauter Verstöße gegen diese Formen auszumachen. Dass diese Verstöße aber sowohl chronisch wie flächendeckend stattfinden, zeigt, wie wenig das Wirtschaftsleben in der Nation dazu geeignet ist, unter Einhaltung dieses Rechtskanons die verlangte Akkumulation von Reichtum zustande zu bringen. Wenn aber Korruption gar nicht als Ausnahme von der rechtsstaatlichen Regel vorkommt, sondern umgekehrt die Regel ist, dann ist dem zu entnehmen, dass das Objekt der Kritik anders funktioniert, als es die importierte Rechtsordnung haben will.
Das Verhältnis von politischer Gewalt und ökonomischer Privatmacht in der Ukraine: Kapitalismus als Oligarchenwirtschaft
Der marktwirtschaftliche Erfolg der Ukraine bilanziert sich im exorbitanten Reichtum von ein paar großen sowie dem etlicher kleinerer Oligarchen auf der einen, enormen Staatsschulden und einer Verelendung der Bevölkerung auf der anderen Seite, wobei das Ensemble der Nationalökonomie, die Industriekonglomerate der Oligarchen, die in Staatsbesitz verbliebenen Betriebe und die sogenannte Schattenwirtschaft im Prinzip von dem Geld leben, das im Ausland verdient wird – und nicht von den Erträgen der Geschäftstätigkeit im Land. Ihren Aufstieg haben die Oligarchen damit bewerkstelligt, dass sie sich die Unternehmen, mit denen sich Devisen erwirtschaften lassen, angeeignet haben:
„Die Wurzeln der ukrainischen Oligarchie gehen zurück auf die letzte sowjetische Periode. Die Ukraine ist nicht reich an Energie, aber hatte genug Rohstoffe (Eisenerz, Kohle, Mineralien, Uran), Schwerindustrie (Stahl, Chemie) und auswärtige Ressourcen (dank ihrer Rolle als Energie-Transitland), um eine Handvoll Individuen reich zu machen.“ [16]
Sie okkupieren den Handel; ihre Banken, die sich von der Nationalbank Finanzmittel beschaffen, benützen sie als Hebel, erfolgsträchtige Industriebetriebe in ihren Besitz zu bringen, daneben kommt auch die Methode, sich andere Betriebe unmittelbar durch Privatgewalt, den Einsatz eigener Schlägertrupps anzueignen, bis heute zum Einsatz.[17] Auf die Weise haben sie das nationale Erbe erfolgreich ausgeschlachtet und auf die Geldquellen reduziert, die dazu geeignet sind, im Unterschied zu den nationalen, in Sachen Werthaltigkeit und -beständigkeit reichlich fragwürdigen Zetteln, echtes, nämlich auswärtiges Geld zu beschaffen: Für Rohstoffe, Agrarprodukte der legendären Schwarzerde, für den Zwischenhandel mit russischer Energie sowie für die Produkte der Schwerindustrie, die sich auf Grund billiger Energiepreise in der Konkurrenz behaupten können – für all das bildet der Weltmarkt die entscheidende Geldquelle bzw. dessen russische Unterabteilung, die auch der ukrainischen Wirtschaft seit 2000 einen gewissen Aufschwung beschert hat, seitdem unter Putin in Russland wieder einiges an Produktion in Gang gesetzt worden ist. Seitdem hatte sich auch die betriebliche Kooperation zwischen Ukraine und Russland bzw. in der Eurasischen Union wiederbelebt, nicht zuletzt in der Rüstungsproduktion – abzulesen am oben dargestellten Einbruch der ukrainischen Exportziffern, seitdem diese Geschäftsausrichtung politisch in Frage gestellt wird.[18]
Zwecks Durchsetzung auf dem großen westlichen Weltmarkt, der nicht unbedingt auf ukrainische Ware gewartet hat, exekutieren die Betriebe den Sachzwang, mit konkurrenzfähigen Preisen aufzuwarten, rücksichtslos gegen die heimischen Produktionsbedingungen; in der Landwirtschaft durch „extensive“ Methoden, samt Raubbau an den Böden.[19] In der Industrie wird punktuell, wo es sich lohnt, investiert und aufgerüstet, andere Anlagen werden bis zur Schrottreife ausgenützt und dann stillgelegt – die Geldmacht der Oligarchen verschafft ihnen schließlich auch die Freiheit, sich jederzeit auf andere/bessere Verdienstquellen im Ausland zu verlegen. Insgesamt lebt auch der Reichtum der Oligarchen also immer noch von der Gunst der Natur und den Resten der sowjetischen Industrie, indem er die Naturbedingungen ruiniert und die Industrieanlagen teils erhält, teils vernutzt, um die Produkte auf dem Weltmarkt zu Schleuderpreisen zu vermarkten.
Etliche Handelsartikel werden überhaupt erst rentierlich gemacht durch die Umgehung von Zoll- und anderen Handelsvorschriften, insbesondere der Handel mit dem reichlichen Waffenerbe auf den globalen Schwarzmärkten für Rüstungsgüter, mit dem sich die Ukraine vor allem den Ärger der USA zugezogen hatte – siehe die bedeutende Rolle von „Korruption“ im Zoll. Darüber hinaus haben die ukrainischen Unternehmerpersönlichkeiten das Geschäftsmodell entwickelt, sich in alle solche Geschäftsverhältnisse als Zwischenhändler einzuklinken, um parasitär Gewinne abzuzocken.[20]
Insgesamt bleibt das Wachstum in der Ukraine auf die punktuelle Reichtumsvermehrung in den Händen der Oligarchen beschränkt, die keine flächendeckende Akkumulation im Land bewirkt. Zahlreiche Betriebe, für deren Erwerb sich kein zahlungsfähiges Interesse gefunden hat und findet, überleben nur dank der Tatsache, dass sie weiter in Staatsbesitz verbleiben und ihre Verluste vom Haushalt getragen werden. Daneben existiert der große Sektor der sogenannten Schattenwirtschaft. Der hält sich nur, indem er sich dem Zwang zur Steuerentrichtung entzieht und auch Löhne schwarz und nur sehr bedingt zahlt, öfters auch die Arbeit mit Sachleistungen entgilt.
Was das staatliche Interesse angeht, beruht das
intime Verhältnis von Oligarchen und Behörden, das die
ausländischen Beobachter empört – Die Profitabilität
der meisten Unternehmen blieb jedoch stark abhängig von
einer staatlichen Vorzugsbehandlung
(Wikipedia) –, auf der Notlage der
Herrschaft, auf diese einzig ergiebigen Geldquellen auf
ihrem Territorium angewiesen zu sein, nachdem sie sich
auf diese Art der Reichtumsproduktion verpflichtet hat.
Andere – von wegen „Vorzugsbehandlung“ – hat sie ja
nicht.
In der Reihe ihrer Dienstleistungen figuriert als erstes unverzichtbares Hilfsmittel, um überhaupt aus den Residuen der Staatswirtschaft Geschäfte zu machen, die auf den Außenmärkten reüssieren können, die billige Energie. Seitdem Russland im Streit mit der orangen Regierung die „brüderliche“ Preisgestaltung gekündigt hat, mit der es versucht hatte, die GUS-Staaten an sich zu binden, und damit der Ukraine auch den illegalen, aber lukrativen Weiterverkauf russischer Energie verunmöglicht hat, ist der Staat zur Subventionierung der Energiepreise übergegangen, erst einmal zwar nur für die Versorgung der Bevölkerung. Aber die bedeutenden Unternehmen haben es verstanden, die Sondertarife auch für ihre Zwecke nutzbar zu machen.[21] Das schlägt sich in der Schuldenakkumulation von Naftogas, dem nationalen Gasversorger, und der anderen Energieversorger nieder.
Das zweite unverzichtbare Hilfsmittel besteht im Aufrechterhalten großer Teile der realsozialistischen Erbschaft als Staatsbesitz; die Staatsbetriebe liefern schließlich notwendige Voraussetzungen für das Geschäft der Oligarchen oder sind für das Überleben des Rests der Gesellschaft unersetzlich, auf das Staaten zumeist schon auch noch Wert legen. Die mangelnde Rentabilität der Staatsbetriebe wird wiederum staatlich kompensiert und fällt als Kost im Staatshaushalt an.[22]
Andere Formen der ukrainischen Wirtschaftsförderung sind staatliche „soft loans“ – soft, weil derselbe Staat, der sie spendiert, Verzinsung und Tilgung öfters selber übernimmt – und öffentliche Aufträge, die entgegen den Vorschriften einer fairen Konkurrenz nationalen Unternehmen zugeschustert werden, um deren Überleben zu sichern.[23]
Mit eben diesen Mitteln ersetzt die ukrainische Obrigkeit mangelnde Konkurrenzfähigkeit bei den Staatsbetrieben wie bei den privaten. Die westliche Verurteilung dieser Verhältnisse, die das alles als einen einzigen Sumpf von Korruption denunziert, stellt sich komplett ignorant zur vorliegenden Sachlage, denn immerhin hält die ukrainische Staatsmacht ja auf diese Weise die produktiven Grundlagen schlecht und recht in Funktion, das, wovon die Nation irgendwie immer noch lebt. Dabei respektiert sie gleichzeitig die Regeln der Geldwirtschaft und verbucht die Finanzierung ihrer Dienstleistungen in Gestalt wachsender Staatsschulden; d.h. die kapitalistische Errungenschaft, dass sich privater Reichtum bei ein paar Figuren erfolgreich vermehrt, findet auf Kosten der Staatsrechnungen und des restlichen Standorts statt.
Der Staatshaushalt, in dem die gesammelten Ausgaben zur Aufrechterhaltung dieser Art Nationalökonomie pflichtgemäß verbucht werden, kann seinerseits kaum mit Steuereinnahmen rechnen; die mächtigen Holdings der Oligarchen haben genug Mittel, sich dieser unangenehmen Pflicht zu entziehen, die vielen anderen Geschäftssubjekte sind einfach nicht dazu in der Lage, Steuern zu entrichten. Die staatliche Finanzierung der notwendigen wirtschaftsfördernden Maßnahmen beruht also gänzlich darauf, dass der Staat selber für die Zahlungsversprechen einsteht, die er als Geld in die Welt setzt und zirkulieren lässt. Das gilt auch für das nationale Kreditgewerbe, die Bankengeschöpfe der Oligarchen, die sich bei der Nationalbank refinanzieren und von ihren Inhabern – daher der Name „Taschenbanken“ – für deren innere Kreditbedürfnisse eingesetzt werden, mit Krediten, die immer wieder prolongiert werden oder im Zuge einer Bankenrettung oder unter anderen Titeln letztlich vom Staatshaushalt „getilgt“, also getragen werden.
Mit seinem Haushalt und dieser Sorte Wirtschaftsförderung organisiert der Staat zwar die materielle Reproduktion seiner Gesellschaft, dass sein Volk irgendwie überlebt, dass der Naturreichtum und das industrielle Erbe überhaupt produktiv angewandt werden. Aber in den jetzt maßgeblichen Geldtermini gemessen verstößt er, indem er laufend die Defizite dieser Wirtschaft begleicht und nicht gerechtfertigte, weil nicht in ein nationales Kapitalwachstum einmündende Schulden aufhäuft, gegen das Diktat der Rentabilität. Er finanziert gewissermaßen selbst die Wirtschaftstätigkeit im Land vor, die sich aber nur punktuell, in den Händen der Oligarchen, in Überschüssen bezahlt macht, daneben aber in der wachsenden staatlichen Schuldenlast niederschlägt. So hält der Staat zwar überhaupt ein Wirtschaftsleben aufrecht, das aber gegen den Maßstab rentablen Wirtschaftens – was sich gemäß der Logik dieser Wirtschaftsweise an der mangelnden Tauglichkeit des Geldes geltend macht, das er in die Welt setzt: an der Wertlosigkeit der Schulden, mit denen er sein Wirtschaftswesen finanziert.
Schließlich sind die staatlichen Schuldversprechungen in Gestalt der Geldzettel, die er in seiner Gesellschaft in Umlauf setzt, auch dem Vergleich mit den Weltgeldern ausgesetzt. Den Vergleich bestehen sie nicht, was sich im – durch den lange beibehaltenen staatlichen Zwangskurs nur verdeckten – Verfall des Geldes bemerkbar macht. Eine äußere Zahlungsfähigkeit hat sich der ukrainische Staat daher nur durch die Deviseneinnahmen beschafft, die er im Transitgeschäft erwirtschaftet, und zum weitaus größeren Teil durch die Aufnahme von Schulden im Ausland. Das hat ihm eben dieses – kapitalistisch erfolgreiche – Ausland über all die Jahre, trotz wachsender Zweifel an der Solidität dieser Schulden, aus guten imperialistischen Gründen genehmigt – siehe das traditionsreiche Interesse an der „Unabhängigkeit“ der Ukraine von Russland. Die nationalen Geldzeichen, die überwiegend die Zirkulation von Staatsschulden repräsentieren, haben daher einen Wert, eine Qualität als Geld letztlich überhaupt nur durch die Kreditierung der westlichen Interessenten erhalten.
Die Macht über das ukrainische Geldwesen, die sich die westlichen Kreditgeber im Geschäft mit der ukrainischen Schuldenwirtschaft erworben haben, kommt jetzt anders zum Einsatz: Dem Staat wird die Freiheit gekündigt, im Inneren mit seinen Schuldenzetteln zu wirtschaften. Die Geldmärkte haben mit dem jahrzehntelangen Missverhältnis zwischen auswärts verdientem Geld und staatlichen Auslandsschulden abgerechnet, seine Kreditwürdigkeit auf Junk-Niveau heruntergestuft und dem Land durch die Verweigerung weiterer Kreditaufnahme seine Unfähigkeit bescheinigt, ihren Verzinsungs- und Tilgungsforderungen nachzukommen, und damit im Prinzip den Staat für bankrott erklärt. Diese geschäftslogische Konsequenz haben allerdings die Schutzmächte der freien Ukraine, USA und EU, aus ihren höheren imperialistischen Gründen unterbunden und den IWF als Sachwalter der ukrainischen Schulden eingesetzt. Der übernimmt die Betreuung der uneinbringlichen Schulden, indem er die privaten Gläubiger zu einem Schuldenschnitt und zur Vertagung der Tilgung in die Zukunft nötigt, mit seinen Beistandskrediten die Fiktion einer ukrainischen Zahlungsfähigkeit aufrechterhält und so den Wert der verbliebenen wertlosen Schulden beglaubigt.[24]
Das alles aber unter ultimativen Bedingungen: Die Ukraine muss die vom Währungsfonds verhängten Auflagen erfüllen und eine ‚Sanierungspolitik‘ einleiten, die radikal in die Weise eingreift, wie der Staat bislang die Reproduktion seiner materiellen Basis organisiert hat. Im Namen der unabweisbaren „Haushaltskonsolidierung“ wird der Staat, der nur noch von der Gnade des IWF und der dahinterstehenden Schutzmächte USA und EU lebt, dazu erpresst, sein wirtschaftliches Innenleben konsequent den Rentabilitätskriterien zu unterwerfen, an denen es schon bislang scheitert, also dazu, seine ökonomische Basis weiter abzuwickeln. Die bisherige Freiheit des Staates, seine Schuldenwirtschaft und auch die seiner Banken zu prolongieren, hat das westliche Ausland, vertreten durch den IWF, beendet, verbunden mit dem enorm glaubwürdigen Versprechen, dass es mit einem sanierten Staatshaushalt sicher wieder irgendwann einmal aufwärts gehen wird. Vorerst aber muss sich der IWF auch um die Rettung der Banken kümmern, deren Kreditgebaren der eigene Staat nicht mehr in der vorherigen Weise decken kann. Aber der Geldverkehr in der Nation, die dem nicht gewachsen ist, muss ja unbedingt nach den Regeln der westlichen Welt aufrechterhalten werden.
Die Rettung der materiellen Basis der Nation ist
ein Gesichtspunkt, der im Programm dieser Instanzen nicht
nur nicht vorkommt, sondern diese Sorge wird der
ukrainischen Notstandsverwaltung ausdrücklich untersagt.
Dem Haushalt werden zwar die notwendigen Mittel
zugestanden, das Nötigste für den Kampf um die
abtrünnigen Provinzen im Osten zu finanzieren, aber alle
Aufwendungen für das zivile Leben der Gesellschaft müssen
kontinuierlich heruntergefahren werden – exemplarisch
durchexerziert wird das an den Energiepreisen, die nicht
länger subventioniert werden dürfen, sondern an
Weltmarktpreise angepasst werden müssen. Die Aufgabe, das
Gemeinwesen durch Sanierung des Haushalts
gesundzuschrumpfen
, wird dann noch durch die
Inkriminierung der Geschäftsbeziehungen zu Russland
ergänzt. Außer den paar Millionen für die Armenspeisung,
die das menschenfreundliche Amerika springen lässt, wird
der Verzicht auf den Russlandhandel nicht im Geringsten
durch die Beziehungen zum westlichen Lager kompensiert,
schließlich fehlen
nach den Kriterien eines
gesunden Wettbewerbs der ukrainischen Wirtschaft nun
einmal in der Breite wettbewerbsfähige Produkte für
den EU-Binnenmarkt
.[25]) Mittlerweile hat sich das
ukrainische BIP um ein Drittel reduziert, unter dem
IWF-Regime wird also das, wovon das Land bislang gelebt
hat, nicht einmal mehr reproduziert, sondern
aufgebraucht. Gestützt und finanziert wird es rein wegen
seiner imperialistischen Funktion, so dass seine
antirussische Ausrichtung mitsamt der laufenden
Kriegsführung gegen ‚Putins völkerrechtswidrige
Aggression‘ regelrecht zur Existenzbedingung dieses
Staats gerät.
Zu den Konditionen, an die der IWF seine Stand-by-Kredite
knüpft und die er der widerstrebenden Regierung durch
monatelange Verweigerung der Kredite aufherrscht, gehört
an prominenter Stelle schließlich die Bekämpfung der
Korruption
, ein Forderungskatalog mit lauter
institutionellen Regelungen, mit denen die Ukraine
gefälligst die Scheidung zwischen ökonomischen
Privatinteressen und staatlicher Amtsführung durchsetzen
soll. Das Urteil, dass nach rechtsstaatlichen Kriterien
beurteilt in dem Land lauter unsaubere Verhältnisse
vorliegen, ist zwar leicht zu haben. Wenn es aber in
Gestalt der ultimativen Forderungen des IWF gegen die
Verhältnisse in der Ukraine praktisch
durchgesetzt werden soll, stellt es die
Reproduktion der Gesellschaft grundsätzlich in Frage,
weil die auf diese Weise organisiert ist,
sachlich von der Oligarchenwirtschaft gar nicht zu
trennen geht, ohne dass viel mehr zugrunde geht als nur
der Reichtum der Oligarchen. Der Angriff auf die Symbiose
von Staat und Oligarchen ist ein Angriff auf die
Überlebensgrundlagen dieser Gesellschaft. Das davon
betroffene Volk ist zwar vorwiegend mit der Kunst
befasst, unter diesen Bedingungen sein Überleben zu
sichern, und äußert sich nur in ohnmächtigen Protesten
gegen die rasant verschlechterten Lebensbedingungen;
manifeste Gegenwehr erfährt das Reformprogramm der
westlichen Betreuer allerdings seitens der herrschenden
Klasse, dem Amalgam aus Politfiguren und Oligarchen.
Der Feldzug der Aufsichtsmächte gegen die „Korruption“ verlangt eine komplette Umwälzung der ukrainischen Verhältnisse
Die Diktate der westlichen Patrone, nach dem Vorbild ihrer gelungenen Herrschaft die Trennung ökonomischer Privatmacht von der politischen Macht durchzusetzen und die Suprematie eines rechtsstaatlich agierenden Gewaltmonopols gegenüber der Konkurrenz der Privatsubjekte herzustellen, greift nicht nur die Existenzgrundlage der Oligarchen an, der ökonomischen Machtzentren der Ukraine, denen mit dem Verlust der für ihr Geschäft konstitutiven intimen Beziehungen zur Staatsmacht, gewissermaßen mit Enteignung gedroht wird.[26] Das Diktat trifft auch auf eine Politikergarde und einen Staatsapparat, die mit den Oligarchen verwachsen bis identisch sind, da beide Bestandteile der herrschenden Klasse für ihre Behauptung nun einmal elementar aufeinander angewiesen sind.
Schließlich besteht ein Resultat des ukrainischen Kapitalismus in der Schwäche der Staatsmacht, der die nationale ökonomische Grundlage bei weitem nicht das Nötige einspielt, um auch nur die eigenen Agenten ausreichend zu alimentieren, so dass – dies die andere Seite der universellen Verstöße gegen das rechtsstaatliche Modell – staatliche Dienste von ganz unten bis oben käuflich sind: Staatsfunktionäre machen aus ihrer Zuständigkeit eine Einkommensquelle und beschaffen sich darüber die Mittel für politischen Machterhalt oder private Bereicherung; Teile des staatlichen Gewaltapparats beherrschen selbst ganze Geschäftszweige, die mehr oder weniger illegal, jedenfalls aber gewinnbringend sind. Umgekehrt sichern sich die Oligarchen, die den Einsatz von Staatsmacht als entscheidenden Hebel ihres Geschäfts brauchen, dieses Instrument, damit seine Handhabung in ihrem Sinne garantiert ist. Sie kaufen sich Richter und die erwünschten Urteile, besetzen besondere Staatsfunktionen im Zoll oder Geheimdienst mit ihren Vertretern.[27] Auf Grundlage der Tatsache, dass Demokratie teuer und der Staat arm ist, kaufen sich Oligarchen aber nicht nur einzelne Dienste, sondern – ein fließender Übergang – die Bestimmung der Politik: Sie finanzieren oder gründen Parteien, kaufen sich Sitze im Parlament, so dass die dortigen Fraktionen mit zahlreichen Oligarchen bzw. deren Vertretern bestückt sind [28] und sich weniger durch alternative Fassungen der Staatsraison als durch die in ihnen versammelten mächtigen Privatinteressen und deren Konkurrenz definieren. Zur Absicherung ihrer politischen Macht finanzieren die Oligarchen manchmal auch gleich alle Parteien und haben auf die Art alle Regierungswechsel und farbigen Revolutionen überlebt, weil ja jede neue Herrschaft mangels Einkünften aus einer nationalen Akkumulation auf ein konstruktives Verhältnis mit ihrer ökonomischen Macht angewiesen war. Bei der ukrainischen Symbiose von Staatsgewalt und Privatmacht des Geldes besetzt letztere entscheidende Posten gleich selbst – eine Kooperation von Staat und Kapital gewissermaßen per Personalunion.
Die Oligarchen sichern ihre Macht darüber hinaus mittels der Instanzen zur Ausrichtung des Wählerverhaltens: Seit der politischen Polarisierung durch den Maidan ziehen sie zur Gestaltung der Machtverhältnisse jeweils auch noch Fake-Parteien auf,[29] und die Organe der Öffentlichkeit, die ihren Beitrag zur Entscheidung von Wahlen leisten, gehören ihnen ohnehin.[30] Seit Eröffnung des Bürgerkriegs bestreiten Oligarchen sogar ein ganzes Stück Gewaltapparat, indem sie auf eigene Kosten Freiwilligenbataillone für den Krieg im Osten aufstellen bzw. die Belegschaft ihrer Firmen zu einer Art Bürgerwehr umfunktionieren – mangels eigener Mittel ist die Staatsmacht auf solche Dienste angewiesen, um sich im Osten überhaupt gegen die ‚prorussischen Rebellen‘ zu behaupten.[31] Bei dieser Sorte Kampfgemeinschaft von Staatsagenten und Oligarchen ist am Personal dann sachlich gar nicht zu unterscheiden, ob der Betreffende als Staatsagent oder Funktionär der Oligarchenwirtschaft unterwegs ist.
Die Entfesselung eines neuen Machtkampfs
Die herrschende Klasse in der Ukraine, zu einem regelrechten Existenzkampf genötigt, leistet manifesten Widerstand gegen die von den Aufsichtsmächten diktierten Reformen, im Staatsapparat, im Parlament und in der Regierung. Die spaltet sich in Verteidiger des Status quo und die Stellvertreter des von außen diktierten Reformprogramms, da die Schutzmächte der freien Ukraine auf Grund ihres soliden Misstrauens gegenüber der Zuverlässigkeit des ukrainischen Regierungspersonals Ministerposten der ersten Nach-Maidan-Regierung und weitere Posten in der Justiz und im Staatsapparat mit ausländischen Funktionären bestückt haben.
Rhetorisch schwört die Poroschenko-Regierung ein ums
andere Mal strikten Gehorsam gegenüber den einschlägigen
Reformauflagen des IWF und der westlichen Regierungen zur
Entoligarchisierung, Entmonopolisierung, Privatisierung
etc., kommt aber an der Tatsache nicht vorbei, dass sie
auf die Oligarchen in ihrer Eigenschaft als „biggest
employers“ kaum verzichten kann.[32] Auch aus der angekündigten
großflächigen Privatisierung von Staatseigentum ist
bislang nicht viel geworden.[33] Ob da nun wieder Korruption
am Werk ist oder die Verteidigung nationalen Eigentums
gegen einen drohenden nationalen Ausverkauf bzw. eine
großflächige Stilllegung von Betrieben, ist in der Sache
nicht zu unterscheiden. Immerhin droht der vom Westen
eingesetzte Wirtschaftsminister Abromavičius, es sei
unzweckmäßig, eine große Menge von Unternehmen im
Staatseigentum zu halten, weil diese Unternehmen nur
‚Schäden produzieren‘.
[34] Da sich so gut wie keine
ausländischen Investoren für die Übernahme dieser
Betriebe interessieren – nicht einmal der Hafen von
Odessa hat einen Käufer gefunden – und nach
marktwirtschaftlicher Logik alle unrentablen Unternehmen
geschlossen werden müssten, leistet die ukrainische
Regierung hinhaltenden Widerstand gegen ein
Privatisierungsprogramm, das zu nichts anderem gut wäre
als dazu, große Teile ihrer ökonomischen Basis
flachzulegen. Auf der anderen Seite tritt die
Oligarchenwirtschaft gegen die angekündigte Enteignung
mit ihren Erpressungsmitteln an. Die einen drohen mit der
Einstellung der Stromversorgung oder
Düngemittelproduktion, ein anderer schickt zur Wahrung
seines Besitzstands seine Kampftrupps los.[35]
Schon aus der lauthals angekündigten Verfolgung und Bestrafung der Janukowitsch-Regierung, die zum ersten großen Fall von Korruptionsbekämpfung deklariert worden war, die auch zur Wiederbeschaffung von Vermögenswerten gut sein sollte, ist nicht viel geworden: Beides funktioniert nur sehr bedingt, wenn der politische Wille, repräsentiert von Parlament, Teilen der Regierung und des Apparats, dagegensteht.[36]
Das von den westlichen Patronen verlangte Reformprogramm
mit dem obersten Ziel der Korruptionsbekämpfung ist also
zu einem andauernden zähen Machtkampf zwischen dessen
Vertretern und dem Parlament ausgeartet. Der IWF
interveniert regelmäßig mit der Drohung, die zugesagten
Tranchen der Stand-by-Kredite zurückzuhalten, das
Parlament torpediert oder verzögert die verlangten
Gesetzesbeschlüsse,[37] so dass der damalige
Ministerpräsident Jazenjuk seinem Staatswesen eine
weitgehende Unregierbarkeit bescheinigt: nur 30 % der
Gesetzesvorlagen der Regierung wurden beschlossen, 70 %
blieben irgendwo in Parlamentsausschüssen
stecken
.[38] Andererseits werden
Gesetze, die auf Druck des IWF dann doch durchgepeitscht
worden sind, nicht ausgeführt:
„Sabotage und das bewusste Hinauszögern von Reformen durch Teile der Ministerialbürokratie sind keine Seltenheit, beispielsweise im Zuge der Kritik an Gesundheitsminister Aleksandr Kwitaschwili, dessen Behörde den Kampf gegen die verbreitete Korruption bei der Arzneimittelbeschaffung auch laut internationalen Organisationen behinderte.“ [39]
Wobei mit Korruption hier der Sachverhalt bezeichnet wird, dass das Gesundheitsministerium sich geweigert hatte, auf Kosten der nationalen Pharmaindustrie die billigeren Erzeugnisse der Weltmarktfirmen einzuführen.
Weil Gesetze zwar beschlossen, aber nicht exekutiert werden, arbeiten sich die aus dem Westen entsandten Reformer bis dahin vor, überhaupt das ukrainische Staatspersonal zum entscheidenden Hindernis zu erklären, und verkünden mit Stolz, wie gründlich sie im Beamtenapparat aufräumen.[40] Zusätzlich zu den in die Regierung verpflanzten ausländischen Funktionären haben die Aufsichtsmächte ein Anti-Korruptions-Büro installiert, das neben und getrennt vom Justizapparat die Säuberungen in der herrschenden Klasse in Gang setzen soll, sowie ihre Vertreter auch in der Generalstaatsanwaltschaft platziert, damit sich endlich einmal die Gefängnisse füllen. Auf die Weise wird der Machtkampf um die Reformen in den Staatsapparat hinein verlängert und mit wechselseitigen Beschuldigungen, Verhaftungen und deren Rücknahme durch andere Richter, Rücktritten und Wiedereinsetzung von Funktionären ausgetragen, was zum Funktionieren des Apparats nicht unbedingt beiträgt. Insbesondere die von den Aufsichtsmächten verlangte Ersetzung des Generalstaatsanwalts bewirkt einen Streit, der sich lange hinzieht, bis Poroschenko endlich nachgibt, den Posten aber wieder mit einem „Vertrauten“ besetzt.[41]
Angesichts der Widerspenstigkeit ihres Objekts kommen die Aufsichtsmächte daher immer mehr zu der Überzeugung, dass die Machtausübung in der unabhängigen Ukraine keinesfalls ihr selber überlassen werden darf.
Die Ausübung ökonomischer und politischer Machtfunktionen in der Ukraine muss outgesourct werden
Damit endlich Fortschritt & Erfolg in Kiew zustande
kommen, gehört auf jeden Fall schon einmal die Ökonomie
in die Hände vertrauenswürdiger, also nicht-ukrainischer
Subjekte gelegt. Leute, die es wissen müssen, nämlich die
von den USA bereits im ukrainischen Staatswesen
platzierten ausländischen Reformminister verkünden den
programmatischen Standpunkt, dass zur Beseitigung der
Korruption bei der Privatisierung eigentlich nur
ausländische Interessenten zum Zug kommen dürften.
Abromavičius will dafür sorgen, dass statt
ukrainischer Oligarchen mit Sonderbeziehungen künftig so
oft wie möglich westliche Investoren ins Land geholt
werden. ‚Ich will keine Privatisierung, bei der nur Leute
aus dem Umfeld des Establishments zum Zug kommen‘.
(FAZ, 23.10.15) Und ein
europäischer Analyst hält es für unabdingbar, dass ein
Privatisierungsfonds gegründet wird, nicht nur unter
internationaler Führung, sondern sicherheitshalber gleich
auch noch located offshore
, mit dem expliziten
Zweck, so viele Vermögenswerte wie möglich an
möglichst breit verteilte Eigentümer zu verkaufen, um die
Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht in
der Ukraine aufzulösen
(Wilson,
s. Fußnote 16). So weit ist die wohlmeinende
westliche Partnerschaft mit der Ukraine gediehen, dass
die Privatisierung ausdrücklich auf die Entmachtung der
herrschenden Klasse zielt.
Dabei macht der westliche Reformimpuls aber längst noch
nicht halt; auch Staatsfunktionen sollen an tüchtige
auswärtige Dienstleister übertragen werden, z.B. die
Beschaffung von Arzneimitteln und der Zoll: Die
Ukraine will laut Premier Arseni Jazenjuk mehrere
Zollpunkte an der westlichen Grenze von einem britischen
Unternehmen verwalten lassen.
(Sputnik, 22.7.15)
In diesem Sinn wird auch der Polizeiapparat überholt; in Kiew wird schon einmal die gesamte Verkehrspolizei entlassen und eine neue aufgestellt, mit amerikanischer Ausbildung, amerikanischen Uniformen, finanziert aus Amerika; andere Polizeiabteilungen sollen folgen.[42] Zudem haben die USA die ukrainische Regierung dazu genötigt, ihre in Georgien gestürzte Reformspeerspitze Saakaschwili als Gouverneur im Bezirk Odessa einzusetzen – als Aushängeschild für ein Experiment, mit dem sie dort schon einmal ein ganzes Stück „gute Regierung“ organisieren und finanzieren wollen.[43]
Darüber hinaus halten die USA es schließlich für erforderlich, sich in der Ukraine über die Verkehrspolizei hinaus ein Stück Gewaltapparat für ihren Bedarf zu schaffen:
„Die Obama-Administration hat angekündigt, dass sie die Ausbildung ukrainischer Sicherheitskräfte, Übungen mit kleineren Abteilungen, auf das Personal des Verteidigungsministeriums ausdehnen wird … ähnlich wie die Ausbildung der ukrainischen Nationalgarde.“ (Washington Post, AP 24.7.15) „Das Innenministerium plant eine neue SWAT-Truppe aufzustellen … die vermutlich die früheren Sondertruppen wie ‚Berkut‘ ersetzen soll.“ (The Problem with Ukrainian Police Reform, Foreign Policy, 29.12.15)
Die Freunde und Förderer der Ukraine gehen mit aller Gründlichkeit vor und machen auch vor der Staatsspitze nicht halt: Die US-Regierung hat mit allen Mitteln die Ablösung und Ersetzung der Jazenjuk-Regierung durch eine „Expertenregierung“ betrieben. Auf Grundlage der immer stärker um sich greifenden Überzeugung, dass die Ukraine im Prinzip von ihrer Führung freigesetzt werden muss und die nötige good governance einzig von einer mit Ausländern bestückten Technokraten-Regierung zu garantieren ist, bescheinigt man der gesamten herrschenden Klasse in der Ukraine ihre grundsätzliche Untauglichkeit für die Politik, die die Weltordnungshüter dem Land verordnen. Eine deutliche Auskunft, wie die heilige Unabhängigkeit der Ukraine, die der Westen aus der russischen Fremdherrschaft befreit hat und dauerhaft beschützen will, genauer zu verstehen ist: Für die Linie, die die Befreier der Nation vorschreiben, ist ‚selbstbestimmtes‘ Regieren nicht zu gebrauchen, die Nation muss daher umfassend von außen revolutioniert werden. Natürlich unter Einhaltung des demokratischen Procedere, was nicht ganz einfach ist. Politologische Vordenker konstruieren Wege, wie sich die politische Entmachtung der herrschenden Klasse der Ukraine machen lassen müsste. Dass die weg muss, steht erst einmal fest:
„Als Erstes muss die politische Klasse, die die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit regiert, gestürzt werden. Ihre Mitglieder haben das Land – trotz der erfolgreichen Volksaufstände 2004 und 2014 gegen Wahlfälschung und die massive Korruption der Behörden – in ihrer Gewalt gehalten. Jede Regierung, die von dieser Klasse begrüßt wird, einschließlich der heutigen, ist zu sehr durch Beziehungen zu den Oligarchen kompromittiert, um das Land zu verändern.“ (Dethroning Ukraine’s Oligarchs, Foreign Policy, 13.6.16)
Also muss das Volk sie gefälligst abwählen:
„Um die herrschende Klasse zu ersetzen, muss das Volk an die Urnen. Die Ukrainer müssen eine parlamentarische Mehrheit und einen Präsidenten wählen, die nicht aus dem post-kommunistischen Establishment stammen“, damit der dann alle Macht ans Ausland abgibt: „Einmal gewählt, muss diese Koalition eine Regierung von angesehenen Technokraten anstelle der üblichen Insider einsetzen.“ (Ebd.)
Anstelle dieser schönen Idee, nach der das Volk selbst die Souveränität seiner Regierung abwählen sollte, hat aber erst einmal der Rückschlag stattgefunden, die Ersetzung von Jazenjuk durch Groisman, einen „Vertrauten“ Poroschenkos, und der Rückzug der Ausländer aus der Regierung.[44]
Gegen das Machtmittel, das die Aufsichtsmächte in diesem Kampf um die Ausrichtung der Ukraine zum Einsatz bringen – der Staat lebt schließlich nur noch von auswärtiger Finanzierung – hat sich das Lager des ukrainischen Präsidenten auch nur deshalb behauptet, weil seine Patrone angesichts der zu erwartenden Resultate keine Neuwahlen riskieren wollten.[45] Auch wenn das Innenleben der befreiten Ukraine ganz von der Auseinandersetzung mit den Schutzmächten bestimmt ist, aus Gründen der internationalen Anerkennung muss die Legitimation durchs Procedere beibehalten und der Wille des Volkes formell respektiert werden. Um den korrupten Schützling auf den richtigen Weg zu bringen, bleibt es also vorerst bei der Erpressung der amtierenden widerspenstigen Regierung und des ebenso unwilligen gewählten Parlaments.
„Das Schlimmste, was jetzt passieren könnte, wäre der Zusammenbruch der Regierung und Neuwahlen… Denn dann entsteht ein einziges Chaos und das ganze System ist blockiert. Das war Bidens Sorge, als er Anfang Dezember nach Kiew flog. In seiner Rede vor dem Parlament drängte er die Regierung dazu, sich angesichts von Putins Einschüchterung weiterhin auf den Erhalt der politischen Einheit und der Reformpolitik zu fokussieren… Die USA blieben auch in Zukunft auf die Ukraine fokussiert, aber die Überwindung der Krise wäre so lange unmöglich, wie das Parlament sich wie ein Kampfverein benimmt. ‚Unsere Botschaft ist die: Ihr müsst eine Regierung haben, die funktioniert. Ihr könnt euch keine Unordnung leisten. Sonst wird sich die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft in Luft auflösen.“ (Distracted by ISIL, frustrated by infighting in Kyiv, the administration makes little progress against Putin in Europe. Politico.eu, 29.2.16)
Ukraine has every reason to succeed
Zu einem Gewaltmonopol in dem Sinn hat es die Ukraine zwar seit Erlangung ihrer Eigenstaatlichkeit nicht gebracht, nur zu einem Bündnis zwischen den oligarchischen Privatgewalten mit ihrem Bandenwesen und Vertretern der politischen Gewalten. Die sogenannte Reformpolitik unter dem Titel der Korruptionsbekämpfung trägt aber einiges dazu bei, um auch diese Restbestände von Herrschaft weiter zu untergraben. Die von außen verordnete Säuberung des gesamten Staatswesens, kombiniert mit der IWF-Politik, die den Schuldnerstaat gründlich gesundschrumpft, sowie die sonstigen Umstände, die seit dem Putsch in der Ukraine geschaffen worden sind, eignen sich wenig dazu, die stabile prosperierende Nation zu schaffen, wie sie die Aufsichtsmächte in ihren Aufrufen beschwören.
Garantiert ist vielmehr die andauernde Unzufriedenheit im
Volk, die auch ihre Wortführer findet. Durch die
westliche Protektion und Förderung des Maidan-Aufstands
sehen sich die Kräfte, die dadurch hochgekommen sind,
ausdrücklich ins Recht gesetzt, Saubermannsparteien, und
-figuren, die das Ideal einer „echten“, volksnahen
Demokratie verfolgen, auf der einen und Nationalisten,
die das Gemeinwesen von allen Überresten der
russisch-sowjetischen Fremdherrschaft säubern wollen, auf
der anderen Seite. Die einen messen die Regierung an den
Rechtstiteln einer gerechten und sauberen Herrschaft, die
anderen am Gelingen der nationalen Sache, d.h. der
Niederschlagung des Aufstands in der Ostukraine – und
beide Lager sehen sich tief enttäuscht. Die Machtkämpfe
der herrschenden Figuren, bei denen Korruptionsvorwürfe
aller gegen alle zum Einsatz kommen, versorgen sie mit
reichlich Stoff für die Überzeugung, dass immer noch die
alten Clans und Seilschaften am Ruder sind, mit denen
aufgeräumt werden muss. Und der unentschiedene Krieg im
Osten spornt die nationalistisch militant gewordenen
Mannschaften dazu an, das nationale Recht selber in die
Hand zu nehmen. Diese Empörten lassen sich nicht einfach
wieder auf die passive Rolle gehorsamer Staatsbürger
zurückdrängen, ziviler Ungehorsam ist schon wieder
gewalttätig geworden wie im Fall der Krim-Tataren, die
den Zugang zur Krim blockiert hatten
(Reform and resistance: Ukraine’s selective
state, 20.1.16, neweasterneuropa.eu). Auch andere
Arten von Aufruhr sind an der Tagesordnung; von den
Reformen ruinierte Mannschaften veranstalten einen
„Finanzmaidan“, blockieren Straßen, schlagen wieder Zelte
im Kiewer Zentrum auf.
Vor dem Hintergrund profiliert sich der Exil-Georgier Saakaschwili samt seiner Mannschaft damit, dass er Tag für Tag die Korruption in Kiew anprangert. Mittlerweile ist er unter wüsten Beschuldigungen der Poroschenko-Regierung von seinem Amt in Odessa zurückgetreten,[46] um die manifeste Unzufriedenheit im Volk auszunützen und in Richtung einer neuen Partei zu kanalisieren, mit der er sich nach dem Muster seiner damaligen georgischen „Rosenrevolution“ als Führungsfigur für einen neuen Umsturz anbietet. Eine Steilvorlage für seine Kampagne bildet das neue Anti-Korruptionsgesetz, das die Regierung nach langer Gegenwehr auf Druck des IWF dann doch in Kraft setzen musste, das mehrere zehntausend führende Politiker und Spitzenbeamte samt ihren Angehörigen zwingt, ihre Vermögen und Einkommen in einem elektronischen Register offenzulegen.
„Die führenden Beamten und Politiker des Landes besitzen teils Dutzende von Luxusuhren, Sammlungen von Ikonen, Waffen und Bibeln. Sie besitzen Fabergé-Eier und ganze Kirchen. Vor allem aber haben sie offenlegen müssen, was für Kenner der „rauchende Colt“ der Korruption ist: Millionen in Bargeld.“ (FAZ, 5.11.16)
Das sollte doch dem Volk die Augen öffnen, wo seine Armut in Wirklichkeit herrührt.
[1] Das Werkzeug, mit
dem der Kreml den Frieden in Europa und Eurasien
unterminiert
(US Senate
Hearing. U.S. Policy in Ukraine: Countering Russia and
Driving Reform, 10.3.15, Testimony by Ambassador (Ret.)
John E.Herbst, Director of the Dinu Patriciu Eurasia
Center Atlantic Council)
[2] Korruption ist
ein Krebsgeschwür. Für alle, die die Superman-Filme und
Comics kennen: Sie ist das Kryptonit einer
funktionierenden Demokratie. Sie saugt Ressourcen ab.
Sie zerstört das Vertrauen in Regierungen. Sie höhlt
die militärische Verteidigungsbereitschaft aus… Aber da
Präsident Putin und andere Korruption als
Zwangsinstrument gegen auswärtige Staaten einsetzen,
geht es beim Kampf gegen Korruption nicht nur um gutes
Regieren, es ist Selbstverteidigung. Es geht um
Souveränität.
(whitehouse.gov)
[3] Korruption, ein
Wesensmerkmal von Herrn Putins Russland, ist ein
wichtiges Werkzeug, mit dem der Kreml seinen Einfluss
in seinem nahen Ausland voranbringt. Der Kreml hat
begriffen, dass korrupte auswärtige Funktionäre
nachgiebiger sind. Da kommt die Zusammenarbeit zwischen
russischen Geheimdiensten und kriminellen
Organisationen ins Spiel. Wenn zum Beispiel
beträchtliche Einnahmen aus dem Gassektor abgezockt
werden und in private Hände wandern…
(Herbst, s. Fußnote 1)
[4] Die Korruption zu
bekämpfen ist eine der schwierigsten Sachen, die Länder
zu erledigen haben – vor allem jene, die aus dem
kleptokratischen Sowjetsystem hervorgegangen sind. So
ziemlich jede Führungsriege seit der Unabhängigkeit hat
auf die eine oder andere Weise entweder direkt das
ukrainische Volk ausgenommen oder zugelassen, dass das
passiert. Hier gibt es also noch
Sowjethinterlassenschaften. Dies begründet auch eine
neue Tradition… Schmutziges Geld kauft Politiker, kauft
Geschäfte, übernimmt die Souveränität des Landes und
manipuliert die Politik.
(Victoria Nuland’s interview with Savik
Shuster, 17.7.15, kyivpost.com)
[5] In diesem Sinn haben die USA auch bei den Sanktionen, die sie aus Anlass der Ukraine-Krise gegen Russland verhängt haben, speziell einen Kreis von russischen Geschäftsleuten auserkoren, die als Putin-Amigos vorgezeigt werden und damit auch den zutiefst korrupten Charakter der Herrschaft in Russland belegen sollen, damit auch der russische Wähler endlich einmal die richtigen Schlüsse daraus zieht.
[6] ‚Die Ukrainer
wissen haargenau, es reicht nicht, über Veränderungen
zu reden, wir müssen Veränderungen liefern, Sie müssen
Veränderungen liefern. Die Ukraine hat eine Strategie
und neue Gesetze, um Korruption zu bekämpfen. Sie
müssen jetzt endlich diese Leute hinter Gitter
bringen.‘ … Biden sprach davon, dass die Regierung der
Euromaidan-Revolution noch ‚eine letzte Chance‘ hat,
und richtete sich von der Rednerbühne direkt an
Jazenjuk: ‚So ist es, Herr Premierminister. Die
nächsten paar Jahre, die nächsten paar Monate werden es
zeigen… Der Erfolg in der Ukraine wird ein Beispiel
dafür sein, wie Europa in den nächsten 10 oder 15
Jahren aussieht.‘
(Obama joins
Biden in White House meeting with Yatsenyuk, other
Ukrainian officials, Kyiv Post, 14.7.15,
kyivpost.com)
[7] Es ist die
Korruption, die den Wirtschaftserfolg der Ukraine
untergräbt. Korruption tötet. Sie tötet Produktivität
und erstickt Erfindungsgeist… Stellt euch die Wirkung
vor, wenn – anstatt die Taschen korrupter Politiker zu
füllen – all die Ressourcen, die von der Korruption
verzehrt werden, befreit und in die ukrainische
Wirtschaft investiert würden… Alles wird besser, wenn
auf Verantwortlichkeit, Transparenz und fairen Regeln
bestanden wird. Ohne sie können Unternehmen nicht
überleben und werden Investoren nicht investieren… Die
Ukraine hat allen Grund erfolgreich zu sein. Dieses
Land hat Ressourcen im Überfluss. Seine hoch
qualifizierte Arbeiterschaft kann Europa und seine
Nachbarn mit Humankapital und wettbewerbsfähigen
Produkten versorgen. Seine berühmte Schwarzerde ernährt
bereits die Welt.
(Remarks by
US Ambassador Geoffrey Pyatt at the Odessa Financial
Forum, 24.9.15, ukraine.usembassy.gov)
[8] „Wegen massiver Probleme bei der Stromversorgung fallen Teile der Ukraine immer häufiger in Dunkelheit – in einigen Städten bis zu sechs Stunden täglich… Die Lage in den Kraftwerken sei katastrophal, berichtete die Internetzeitung ‚Ukrainskaja Prawda‘ am Freitag. ‚Kiew könnte erfrieren‘, warnte das Portal. Zu den Engpässen komme es unter anderem wegen des Mangels an Kohle, teilte der Minister mit. Der Rohstoff wird vor allem im Konfliktgebiet Donbass gefördert, über das die ukrainische Regierung die Kontrolle verloren hat.
Minister Demtschischin forderte die Unternehmen auf, ihre Arbeit in die Nachtstunden zu verlegen, weil dann der Verbrauch im Land geringer sei. In der Westukraine schalteten Energieversorger in einigen Städten die Straßenbeleuchtung ab. Der Verbrauch ist auch deshalb so hoch, weil viele Menschen angesichts des Mangels an Gas Elektrogeräte zum Heizen benutzen.“ (Der Standard, 6.12.14)
[9] In Bezug auf die
Exportdestinationen ist Russland noch immer der
wichtigste Exportmarkt für ukrainische Waren. Im
Vorjahr (2015) exportierte die Ukraine aber nur noch
Güter für knapp 5 Milliarden US-Dollar nach Russland,
ein Rückgang um 75 % innerhalb von vier Jahren… Vor der
Krise 2008/2009 stellten Stahl- und
Metallurgie-Erzeugnisse 40 % der Exporte dar, 2015 nur
noch ein Viertel. In Warenwerten bedeutet dies, dass
die Stahlexporte 2015 mit 8–9 Milliarden US-Dollar nur
noch einen Bruchteil der Spitzenwerte von 27 Milliarden
US-Dollar (2008) oder 22 Milliarden US-Dollar (2011)
ausmachen… Der Maschinenbau ist mit einem Anteil von
rund 15 % der drittgrößte Exportsektor der Ukraine. Mit
der Verschlechterung der Handelsbeziehungen zu Russland
schrumpften die Exporte dieses Sektors seit 2011 stark
– nominal in US-Dollar um 70 %… Die Konzentration der
Maschinenbauexporte auf Russland und die GUS ist ein
schwerwiegendes strukturelles Hindernis beziehungsweise
ist es unwahrscheinlich, dass eine schnelle und
umfassende Umorientierung des Sektors auf westliche
Märkte gelingen kann.
(Gunter
Deuber und Andreas Schwabe, Finanzsituation der
Ukraine: Schwierige Außenhandelsentwicklung und
zögerliche internationale Investoren, in:
Ukraine-Analysen 166, 13.4.16)
Eine bezeichnende Sichtweise: Dass das private Geschäftswesen der Ukraine offenkundig immer noch auf Elementen der früheren sowjetischen Arbeitsteilung aufbaut, der sich ja auch die industrielle Basis des Landes verdankt, dass das Land also immer noch entscheidend von dieser Hinterlassenschaft lebt, gilt als „strukturelles Hindernis“. Und dass die „westlichen Märkte“, die von den dortigen Konzernen beherrscht werden, eine ukrainische Konkurrenz kaum mit offenen Armen aufnehmen, liegt selbstverständlich an deren Unfähigkeit zur „Umorientierung“. So kann man die Tatsache auch auf den Kopf stellen, dass sich die Ukraine mit ihrer Überführung ins westliche Lager auch von einem bedeutenden Teil ihrer ökonomischen Existenzgrundlage verabschiedet.
[10] Die Soldaten können freilich nicht damit rechnen, einigermaßen regelmäßig ihren Sold zu bekommen; Proteste und Desertionen sind an der Tagesordnung.
[11] Daher kommen zunehmend auch andere Methoden des Heizens in Mode:
Vor allem in der Provinz fällen die Leute an den
Straßen und in den Stadtparks die Bäume; auch Feuerholz
aus der Sperrzone bei der Ruine des Atomkraftwerks
Tschernobyl findet rege Nachfrage. Das zuständige
Forstamt meldete einen Einschlag von 1,36 Millionen
Festmetern allein in der laufenden Saison. Vor die Wahl
gestellt, zu hungern oder zu frieren, sparen die
Ukrainer auch am Essen.
(Junge
Welt, 27.10.16)
[12] Das
durchschnittliche Einkommen hat sich seit dem Ende der
Janukowitsch-Ära halbiert und liegt nach
Weltbank-Berechnungen bei umgerechnet 156 Euro, auf
einem der letzten Plätze in Europa. Die Inflation lag
2014 bei 25 und 2015 bei 34 Prozent, was sich auf eine
Halbierung der Binnenkaufkraft noch vor allen
Wechselkurseffekten summiert. Die durchschnittliche
Rente beträgt umgerechnet 80 Euro und wird alten
Leuten, die nebenher noch jobben, pauschal um 15
Prozent gekürzt. Kein Wunder, dass sich immer mehr
Ukrainer nur noch von den auf der Datscha oder von
Verwandten auf dem Land angebauten Lebensmitteln
ernähren. Auch Dienstleistungen aller Art werden gern
gegen Sachwerte erbracht. Die Schattenwirtschaft hat
nach Weltbank-Schätzung ein Volumen von 50 Prozent der
Wirtschaftsleistung.
(Junge
Welt, 20.1.16)
[13] Wir haben es
nicht nur mit einer russischen Aggression gegenüber der
Ukraine als Opfer zu tun. Wir haben es mit einem
vorhersehbar aggressiven Russland gegenüber einer
unberechenbaren und unzuverlässigen Ukraine zu tun. Die
Ukraine wird nicht mehr als vertrauenswürdig
betrachtet. Wo bleibt die Dezentralisierung? Wo bleibt
das Engagement? Wo bleiben die Reformen?
(David M. Herzenshorn, 17.5.15,
NYT)
[14] Mehr dazu in: Klarstellungen zum Thema: Korruption in der Politik, GegenStandpunkt 1-2000
[15] US-Botschafter
Pyatt buchstabiert der ukrainischen Regierung bei jeder
Gelegenheit vor, welche glänzende Zukunft ihr
bevorsteht, wenn sie sich nur eine moderne Polizei
und Staatsanwaltschaft
zulegt, die sich den
Dienst an den Bürgern zur Aufgabe macht
, sowie
gleiche Wettbewerbsbedingungen. Dann wird sich die
amerikanische Geschäftswelt – mit Unterstützung der
amerikanischen Handelskammer – weiterhin nach
Investitionsgelegenheiten in der Ukraine umschauen, in
einer Ukraine, die auf Reform, Transparenz,
Rechenschaftspflichtigkeit und auf klare und
einklagbare Regeln verpflichtet ist.
(s. Fußnote 6)
[16] Andrew Wilson, Survival Of The Richest: How Oligarchs Block Reform in Ukraine, 14.4.16, ecfr.eu
[17] ‚Raiding‘ (die
gewaltsame Übernahme anderer Gesellschaften) ist immer
noch üblich, angeheizt durch das Gerede über
Re-Privatisierungen.
(Andrew
Wilson, 27.4.15, ecfr.eu)
Die Macht des Privateigentums tritt hier in einer Form in Erscheinung, in der es die Liebhaber der Marktwirtschaft gar nicht als Exemplar vom selben Schlag erkennen mögen. Der schlechte Ruf der Oligarchen – Größe und Art ihres Reichtums unterscheidet sie sich ja kaum von den westlichen Kollegen – resultiert einzig daraus, dass die Fachleute die rechtlich einwandfreien Wege von Bereicherung vermissen:
Herausgebildet haben sich die dominierenden
Oligarchen im Übergang der Ukraine von einer
Sowjetrepublik in die Unabhängigkeit in den 1990er
Jahren. In der ersten Phase wurden vor allem Handels-
und Finanzgeschäfte betrieben, die von staatlicher
Seite durch Tolerierung ungesetzlicher Maßnahmen,
Staatsaufträge und günstige Kredite unterstützt wurden.
Die Gewinne dienten dem manipulierten Aufkauf von
Staatsbetrieben und der Übernahme der Firmen von
Schuldnern durch staatlicherseits gebilligte
Konkursverfahren.
(Oligarch,
Wikipedia)
„Mit dem Beginn marktwirtschaftlicher Reformen begannen eine Reihe von Unternehmern in einer gesetzlichen Grauzone und teilweise auch durch illegale Aktivitäten erhebliche Gewinne zu erwirtschaften… Schwerpunkte der Geschäftstätigkeit … Handelsaktivitäten und … Finanzgeschäfte. In beiden Fällen waren große Gewinne nur mit Hilfe politischer Unterstützung möglich. Regulierungs- und Kontrollbehörden mussten ein Auge zudrücken. Die Nationalbank gab Vorzugskredite. Staatliche Unternehmen wurden als Kunden gewonnen.
Die Gewinne aus Finanz- und Handelsaktivitäten investierten einige dieser Unternehmer in die Industrie, um Unternehmensbeteiligungen zu erwerben. Zum einen übernahmen sie im Zuge der Privatisierung staatliche Unternehmen. Zum anderen benutzten Handelsfirmen die Schulden ihrer Kunden, um deren Unternehmen im Rahmen von Konkursverfahren unter ihre Kontrolle zu bringen. Auch hier war staatliche Unterstützung unverzichtbar. Die Privatisierung wurde in vielen Fällen durch die zuständigen staatlichen Behörden manipuliert. Auch die Konkursverfahren wurden häufig zugunsten der Handelsunternehmen beeinflusst.“ (Heiko Pleines, Die Macht der Oligarchen. Großunternehmer in der ukrainischen Politik, in: Ukraine-Analysen Nr.40, 27.5.08)
Das Bemängeln der fehlenden Rechtsförmlichkeit zeugt allerdings von einer durch ihren doktrinären Standpunkt stark gestörten Wahrnehmungsfähigkeit der Beobachter: Was die marktwirtschaftlichen Gründerjahre der Ukraine angeht (wie im Übrigen auch die aller anderen Nachfolgestaaten des realen Sozialismus), die durch den weitgehenden Zusammenbruch von Ökonomie und Staatsapparat gekennzeichnet sind, war von einem Rechtsstaat weit und breit nichts zu sehen. Wie sollte sich auch ein kapitalistisch funktioneller Gewaltapparat vollständig etabliert haben können, bevor er über eine halbwegs taugliche ökonomische Grundlage verfügt, von der er ja selber in seiner ganzen Machtherrlichkeit lebt. Und auch was die spätere und heutige Verfassung der Nation betrifft: Solange sich die Staatsgewalt in einer existentiellen Abhängigkeit von den wenigen ergiebigen Geldquellen befindet, stellt sie auch nicht viel anderes dar als den verlängerten politischen Arm dieser ökonomischen Privatmacht. Und der Rechtsapparat, den sie sich weniger aus eigenem Bedarf als auf energisches Drängen ihrer westlichen ‚Partner‘ zugelegt hat, ist auf Grund der staatlichen Armut gar nicht dafür ausgelegt, Verstöße effektiv zu verfolgen, wenn es denn überhaupt einmal gewollt sein sollte. Ihre eigenen Rechtshändel tragen die Oligarchen bezeichnenderweise im Ausland aus.
[18] Der
ukrainische Außenhandel der 1990er und 2000er Jahre war
maßgeblich von vier Faktoren geprägt: 1. Die
Abhängigkeit von Rohstofflieferungen aus Russland und
die damit einhergehenden zwischenstaatlichen
Streitigkeiten sowie Gas- und Erdölpreisschwankungen.
2. Die Fortführung des ‚Smeshniki‘-Systems, also die
Beibehaltung fester Handelsbeziehungen mit
Zulieferbetrieben aus der Zeit der sowjetischen
Planwirtschaft. 3. Zoll- und Steuervergünstigungen für
ukrainische Exporte in die GUS. 4. Ein eingeschränkter
Zugang zu westlichen Absatzmärkten.
(Dmitri Stratievski, Der ukrainische
Außenhandel mit der postsowjetischen Region,
Ukraine-Analysen, Nr. 172, 28.9.16)
[19] Traditionell
ist die Ukraine im Getreide- und Ölpflanzensektor
exportstark. Diese Tendenz setzt sich fort. Seit 2014
ist die Ukraine der drittgrößte Getreideexporteur der
Welt, übertroffen nur von den USA und der EU. Den
Prognosen nach kann die einheimische Getreideproduktion
noch um bis zu 50 Prozent zunehmen. Die Ukraine ist der
unumstrittene Weltmarktführer im Anbau und in der
Verarbeitung von Sonnenblumenkernen… Momentan ist die
steigende Leistung eher extensiven als intensiven
Produktionsmethoden zu verdanken…
(Kateryna Zelenska, Aktuelle Trends im
ukrainischen Agrarhandel, Ukraine-Analysen Nr.
168, 11.5.16)
[20] Abromavičius, der unter Jazenjuk eingesetzte litauische Wirtschaftsminister: „…sein Ministerium habe 2014 entdeckt, dass das Unternehmen ‚Elektrotjaschmasch‘ Bergwerksausrüstung an einen Kunden in Kasachstan nicht direkt lieferte, sondern über einen schattenhaften Mittelsmann. Dieser habe dann vom Kaufpreis (drei Millionen Dollar) die Hälfte für sich behalten. …Obwohl die Sache ans Licht gekommen ist, konnte der Minister den verantwortlichen Direktor lange nicht feuern, weil der sich ‚mit Hilfe korrupter Richter‘ stets wieder ins Amt klagte… Entweder sahnten gutvernetzte Zwischenhändler die Gewinne staatlicher Unternehmen ab, oder die Chefs von Staatskonzernen zahlten Freunden mächtiger Männer Phantasiepreise für Lieferungen und Leistungen.“ (FAZ, 25.2.16)
[21] Einkünfte auf
Grundlage der Energietarife sollen nicht mehr anhand
politischer Beziehungen umverteilt werden… Stark
subventionierte Gaspreise von nur 12 Prozent der
Kostpreise wurden in die Industrie umgeleitet.
(Wilson, s. Fußnote 16)
[22] Und das ist in den Augen der Experten wiederum keine elementare Notwendigkeit der gesellschaftlichen Reproduktion, sondern ein klarer Fall von „Korruption“:
Die Ukraine hat ungefähr 1800 Betriebe in
Staatsbesitz, die alle wesentliche Elemente der
Geschäftsimperien der Oligarchen bilden. 1500 von denen
verzeichnen chronisch Verluste, oftmals auf Grund von
Korruption.
(Ebd.)
[23] Viele
Kraftwerke in der Ukraine sind veraltet. Die Führung in
Kiew hat deshalb beschlossen, gleich 37 neue
Transformatoren zu kaufen. Den Auftrag bekam ein
heimischer Hersteller aus der Industriestadt
Saporischja. Dessen Transformatoren gelten allerdings
als hoffnungslos überteuert. Nach Berechnungen
ukrainischer Medien kosten die Anlagen doppelt so viel
wie Transformatoren von Siemens oder ABB.
(Spiegel Online, 3.8.15)
[24] „Die Staatsschulden … haben sich seit der Finanzkrise 2008/2009 auf 36 Milliarden US-Dollar verdreifacht, seit dem ‚Maidan‘ sind sie um 6 Milliarden US-Dollar angestiegen. Die Restrukturierung internationaler Staatsanleihen mit einem Schuldenschnitt von circa 20 % im vierten Quartal 2015 hat den staatlichen Schuldenstand nur marginal gedrückt.
Die externen Staatsschulden sind zuletzt durch die mit dem seit 2014 bestehenden IWF-Programm verbundenen öffentlichen Kredite und Garantien der USA und der EU (und anderer bilateraler Geber) angestiegen. Die Erhöhung der Währungsreserven mit IWF-Mitteln hat zudem die Außenschuld der Zentralbank seit 2013 um fünf Milliarden US-Dollar ansteigen lassen. Das Problem der hohen Schuldenlast im öffentlichen Sektor wird kurz- bis mittelfristig durch zwei Faktoren etwas entschärft. Die Restrukturierung der internationalen Staatsschulden hat zwar die ausstehenden Schulden nur wenig gesenkt, jedoch beginnen die Rückzahlungen erst 2019. Bis dahin müssen ‚nur‘ Zinsen gezahlt, keine Tilgung geleistet werden. Zudem hat sich in den letzten Jahren die Kreditaufnahme weg vom Markt zu den öffentlichen Kreditgebern verschoben. Hier stehen 2016/2017 wenige Rückzahlungen an, und bei gewissen Reformleistungen der Ukraine ist hier mit Anschlussfinanzierungen zu rechnen… Derzeit hat die Ukraine keinen Zugang zu internationalen Anleihemärkten.“ (Deuber/Schwabe, s. Fußnote 9)
[25] Analyse der österreichischen Bank Raiffeisen-International, zitiert in: Junge Welt, 20.1.16
[26] Ironischerweise verlangen die Schutzmächte damit von der Ukraine genau das, was Putin im Fall Chodorkowskij und Kollegen als Verbrechen gegen das Menschenrecht des Kapitals vorgeworfen worden ist.
[27] … das System
informeller, unregulierter politischer Ernennungen, das
ein Netzwerk von Strohmännern im Beamtenapparat und bei
den Chefs der Staatsunternehmen etabliert… Die
Staatsbürokratie war lange Zeit vermittels dieser
Strohmänner in Einflusszonen verschiedener Oligarchen
aufgeteilt: Die staatliche Fluggesellschaft zum
Beispiel hat jahrelang Widerstand geleistet gegen die
von der EU unterstützten Versuche zur
Entmonopolisierung, während Bündnispartner des
vertriebenen Präsidenten Viktor Janukowitsch
beschuldigt wurden, dieselben Verhältnisse im
Zolldienst wiederherzustellen… Das Anti-Monopol-Komitee
zum Beispiel war, trotz der Einsetzung eines neuen
Vorsitzenden im Mai 2015, lange Zeit in der Hand der
Oligarchen.
(Wilson, s.
Fußnote 16)
[28] „Spiegel Online: Waren Sie enttäuscht, welche Kandidaten unter Jazenjuk und Poroschenko ins Parlament einzogen?
Fiala: Auf den vorderen Plätzen haben sie gute Kandidaten aufgestellt: Kriegshelden und Aktivisten mit gutem Leumund. Weiter hinten auf den Wahllisten folgten aber viele Geschäftsleute. Nach meinen Informationen wurden Parlamentssitze gekauft, für Preise zwischen drei und zehn Millionen Dollar pro Mandat.“ (Der Investmentbanker Tomas Fiala, Chef der Europäischen Wirtschaftsvereinigung in der Ukraine, rechnet mit der angeblichen Reformregierung in Kiew ab, Spiegel Online, 26.8.15)
Die wichtigsten Kandidaten des von Achmetow
finanzierten ‚Oppositionsblocks‘ in Mariupol waren
zugleich Manager seiner Unternehmensgruppe.
(FAZ, 27.10.15)
[29] Oligarchen wie
Ihor Kolomoisky und Rinat Akhmetov besitzen immer noch
außerordentlichen Einfluss in der Politik; ihre
schmutzigen Gewinne erlauben es ihnen, zwei oder drei
scheinbar gegensätzliche Parteien gleichzeitig zu
fördern. Man muss nur Kolomoiskys patriotisch
ausgerichtete, pro-ukrainische Ukrop-Partei mit der
anderen angeblich von ihm gesponserten
Renaissance-Partei vergleichen, die nach außen
pro-russisch auftritt.
(Hannah
Thoburn, Revenge of the Oligarchs, Foreign
Policy, 27.10.15)
Die Präsidialverwaltung unterstützte geklonte
Parteien, um ihre vier Gegner in den Lokalwahlen 2015
zu behindern… Diese Fälschungen schädigen die
wirklichen Oppositionskräfte wie die Demokratische
Allianz und die Kraft des Volkes und führen zur
Desillusionierung, wenn die ‚Reformkräfte‘, die echten
und die falschen, nicht liefern – und die korrupte alte
Garde an der Macht bleibt.
(Wilson, s. Fußnote 16)
[30] Die erste
Triebkraft, die die Oligarchie am Leben hält, ist das
Zusammenspiel von Politik, Medien und Geld in der
Ukraine. Politik ist außerordentlich teuer,
Wahlkampagnen belaufen sich auf Hunderte von Millionen
Dollar in einem Land mit einem realen
Bruttosozialprodukt von 132 Milliarden Dollar… Die
gesamte Berichterstattung in Fernsehen und Zeitungen –
Sendezeiten, Leitartikel, wer tritt in welcher Show
auf, wohlgesonnene Journalisten – ist vom Geld
durchdrungen und bestimmt… Davon lebt die Macht der
Oligarchen, denn die Massenmedien sind unter ihrer
Kontrolle. Sie entscheiden über die Sichtbarkeit von
Politikern und suchen sie sogar aus, vor allem die
Kandidaten, die sich auf ‚Polittechnologie‘ verlassen –
auf die hoch entwickelte, von den Oligarchen
finanzierte Industrie der Wählermanipulation… Die
letzten Wahlen lassen sich genauso gut als Krieg
zwischen den drei Hauptfernsehkanälen wie zwischen
politischen Parteien betrachten.
(Ebd.)
[31] Der Übergang zum Einsatz der Freiwilligenbataillone zur Bereicherung des Auftraggebers liegt dann allerdings auch nahe:
Dass die Zentralregierung auf Unterstützung in den
Regionen angewiesen ist, besonders in denen, die an die
Krim und den Donbass angrenzen, gibt der Macht der
lokalen Oligarchen zusätzlich besonderen Auftrieb. Die
Herrschaft in Kiew hat sich dazu entschieden, mit lokal
einflussreichen Politgrößen und deren Strohmännern eine
Reihe von deals abzuschließen, um sich deren
Unterstützung zu sichern… Der Oligarch Ihor Kolomoisky
hat Milizen finanziert, die im Donbass kämpfen, um
gleichzeitig mit aggressiven Mitteln sein
Geschäftsimperium auszudehnen und Anhänger in
Schlüsselstellungen in benachbarten Regionen wie Odessa
und Charkiw unterzubringen.
(Ebd.)
[32] Der Aufruhr
ist eskaliert, seitdem Poroschenko kürzlich angekündigt
hat, dass er gegen die reichsten und mächtigsten
Geschäftsleute, bekannt als Oligarchen, energisch
durchgreifen wird, ein Versuch, ihren Einfluss zu
beschneiden und die öffentliche Unterstützung
zurückzugewinnen. Aber mit dem Angriff geht er das
Risiko ein, sich die größten Arbeitgeber des Landes,
die bislang die Regierung unterstützt haben, zu Feinden
zu machen.
(Herzenshorn, s.
Fußnote 13)
[33] Siehe z.B. die
Auseinandersetzung in folgendem prominentem Fall:
Eigentlich versucht die Regierung, den Verkauf von
ZentrEnergo zu forcieren, dem zweitgrößten
Kraftwerksbetreiber des Landes. Der IWF fordert eine
schnelle Privatisierung. Mehrere westliche Investoren
haben Interesse bekundet, darunter der französische
Konzern GDF Suez. Kiews Energieministerium aber sperrt
sich dagegen. Offiziell bremst Demtschischin die
Privatisierung, weil der Strommarkt zunächst neu
geordnet werden müsse. In Wahrheit wolle das
Energieministerium die ausländischen Investoren
abschrecken und ZentrEnergo dann an den
Poroschenko-Partner Grigorischin verkaufen.
(Spiegel Online, 3.8.15)
[34] USA begrüßen Privatisierung von Großunternehmen in Ukraine, 26.1.16, nrcu.gov.ua/de
[35] Rinat
Achmetows Gesellschaft DTEK droht damit, die nationale
Stromversorgung zu unterbrechen, um ihre Sonderstellung
und Subventionen zu behalten.
(Wilson, s. Fußnote 16)
Firtasch hat früher sowohl mit Russland Geschäfte
gemacht als auch den Euromaidan mitfinanziert, aber
sein Imperium ist seit der Machtergreifung der Gruppe
um Jazenjuk Ziel ständiger politischer Attacken… Dass
Firtasch jetzt auch ‚Asot‘, die größte
Düngemittelfabrik des Landes, stilllegen will, könnte
auch ein politischer Vergeltungsschlag gegen die
Regierung sein… Ohne den dort produzierten Kunstdünger
steht nach Angaben der Ukrainskaja Prawda sogar die
Herbstaussaat auf den berühmten ukrainischen
Schwarzerdeböden auf der Kippe.
(Junge Welt, 29.6.15)
Der Oligarch Kolomoisky ist – u.a. – auch der Besitzer
der größten Geschäftsbank in der Ukraine, die über
26 Prozent aller Einlagen verfügt, was Kolomoisky ein
beträchtliches Erpressungspotential verschafft
(Wilson, s. Fußnote 16). Da
seine Bank als to big to fail
eingestuft wird,
hat sie im Rahmen der Stabilisierung des Bankensystems
einen Stützungskredit des IWF erhalten, der dann prompt
über verschiedene Transaktionen im Ausland gelandet
ist. Schließlich sind die ukrainische Währung und
ukrainische Banken keine sonderlich geeigneten Mittel
zur Wertaufbewahrung – das gilt natürlich wieder als
Fall von „Korruption“.
[36] „Generalstaatsanwälte aus der Zeit nach dem Euromaidan scheiterten [?] daran, Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung unter Janukowitsch einzuleiten. Praktisch alle Korruptionsermittlungen gegen Janukowitsch und seine Verbündeten — die zum Einfrieren von Vermögen und der Beschlagnahmung von Eigentum führten — wurden allein von EU-Behörden durchgeführt.“ (Andrei Marusov, Schleppende Korruptionsbekämpfung in der Ukraine 2, Ukraine-Analysen 153, 9.6.15)
Was bisher an Entmachtung der Oligarchen zustande
gekommen ist, hat die Poroschenko-Mannschaft
offensichtlich auch nur nach ihren Interessen
vorgenommen; im Fall von Achmetow und Firtasch wegen
deren Nähe zu Russland, im Fall von Kolomoisky wegen
dessen politischer Eigenmächtigkeit. Und westliche
Experten hegen den Verdacht, dass die verlangte
Entmachtung mehr zur Umverteilung unter der Mannschaft
gerät, die in Kiew an der Macht ist: Insofern ist
noch unklar, ob die Deoligarchisierung in der Ukraine
tatsächlich für eine Marginalisierung von
reformfeindlichen ‚vested interests‘ spricht oder sich
nur deren Träger verändern.
(André Härtel, Das postrevolutionäre
Machtvakuum als Quelle der ukrainischen
Reformträgheit, Ukraine-Analysen 156,
30.9.15)
[37] Ein
prominentes Beispiel ist die Blockadehaltung des
Parlaments im Fall des Gesetzes zur Neuregelung der
Vergabe von Staatsaufträgen, das die verbreitete
Korruption in diesem Bereich (‚tendernaja mafia‘)
beenden und die Teilnahme an zukünftigen
Ausschreibungen erleichtern sollte. Wirtschaftsminister
Aivaras Abromavičius zufolge scheiterte eine
Verabschiedung auch nach der zweiten Lesung am Versuch
mehrerer Parlamentarier, die liberalisierende Wirkung
des Gesetzes durch Änderungen abzuschwächen. Ähnlich
gelagert war die Abstimmung über die Schaffung des
‚Nationalen Büros gegen Korruption‘ (Nazionalnoje
Antikorrupzionnoje Bjuro, NABU), bei der Abgeordnete
der Werchowna Rada über 180 Änderungen einbrachten,
welche die Autonomie der neuen Struktur stark
einschränken.
(Ebd.)
Erbitterten Widerstand hat die Rada auch gegen die Freigabe des Erwerbs von landwirtschaftlichen Grundstücken durch Ausländer geleistet, gegen die Zwangsversteigerung von Eigentum der Schuldner von Naftogas, im Streit um die Fremdwährungskredite, gegen verschiedene vom IWF geforderte Gesetze, mit denen Tariferhöhungen durchgesetzt werden sollen, u.a. dagegen, das Moratorium bei Zwangsräumungen aufzuheben.
[38] Information and Communication Department of the Secretariat of the CMU, 3.7.15, kmu.gov.ua
[39] Härtel, s. Fußnote 36
[40] Zum Beweis seiner
Qualifikation kokettiert das Westpersonal regelrecht
mit seiner Rücksichtslosigkeit: Auch in seinem
eigenen Ministerium habe er [Abromavičius] aufgeräumt
und knapp ein Drittel des Personals entlassen oder
ausgetauscht. ‚Das waren Leute, die sich dem Reformkurs
widersetzt haben.‘ Die vielen Wechsel in Ministerien,
Ämtern und Behörden sind für Investoren aber nicht
immer die reine Freude: ‚Ständig müssen wir uns auf
neue Ansprechpartner einstellen‘, beklagt ein deutscher
Unternehmer.
(DW,
23.10.15)
„Natalie Jaresko: Allein im vergangenen Jahr haben wir ein Fünftel der Belegschaft entlassen. Dieses Jahr kommt ein weiteres Fünftel dazu, sodass alle Ministerien einen Anreiz haben, unproduktive Mitarbeiter zu entlassen und die produktiveren besser zu entlohnen. So bekämpfen wir Korruption durch Anreize und gute Beispiele.
Die Welt: Ein Fünftel der Belegschaft zu entlassen muss schwierig sein. Die meisten Leute finden doch derzeit keine Jobs.
Natalie Jaresko: Es ist extrem schwierig, vor allem wenn die Wirtschaft gerade erst anfängt, wieder zu wachsen, und wir eine Arbeitslosigkeit von zehn Prozent haben.“ (Die Welt, 27.10.15)
[41] Die
Generalstaatsanwaltschaft sollte als Oberkommando der
Korruptionsbekämpfung funktionieren, hat aber bislang
kein einziges Korruptionsverfahren gegen irgendeine
größere Figur der Janukowitsch-Ära durchgeführt. Die
Behörde ist gespalten zwischen Reformern, die mit dem
FBI und den Beratern des amerikanischen
Justizministeriums zusammenarbeiten wollen und die
volle politische Unterstützung von oben benötigen, und
der frustrierenden alten Garde, die sie einzuschüchtern
versucht.
(Remarks Senate
Committee on Foreign Relations Hearing October 8, 2015,
By Clifford G. Bond)
Ein amerikanischer Nachruf auf Vizepräsident Biden
rühmt dessen Fähigkeit, leicht Freundschaften zu
schließen
, und zitiert als Beispiel den Streit um
den Generalstaatsanwalt, in dem Biden Poroschenko
ausgesprochen freundschaftlich kommt: Er drängte
Poroschenko, den korrupten Generalstaatsanwalt zu
feuern, andernfalls würde die Zusage über einen Kredit
über 1 Milliarde Dollar zurückgezogen. ‚Petro, Du
bekommst deine Milliarde Dollar nicht… Es ist okay, Du
kannst deinen Staatsanwalt behalten. Aber das musst Du
kapieren – wenn Du das tust, zahlen wir nicht.‘
Poroschenko hat den Staatsanwalt gefeuert.
(theatlantic.com)
[42] Die
Polizeireform zielt letztlich darauf, das gesamte
Personal des ukrainischen Innenministeriums umzuschulen
und gegebenenfalls zu ersetzen, einschließlich
derjenigen, die die Ermittlungen in schwerwiegenden
Fällen wie Mord und gemeinschaftlichem Betrug führen…
Die Reform, zu der die Vereinigten Staaten 15 Millionen
Dollar beigetragen haben, wird voraussichtlich 5 bis 10
Jahre in Anspruch nehmen.
(Washington Post, AP 24.7.15)
[43] „Die Vereinigten Staaten helfen der Ukraine beim Aufbau von Kapazitäten, um die Korruption zu bekämpfen, die Schuldigen zu entlarven und ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Und wir tun das auch hier, in Odessa. Erstens entwickelt die US-Regierung ein Programm, um jeden Richter, jeden Staatsanwalt und jeden Verteidiger in Odessa für das prozessuale Strafverfahren auszubilden, das die neue Kriminalgesetzgebung vorsieht. Wir hoffen, dass dieses Pilot-Projekt demonstriert, wie Strafprozesse in der Ukraine effektiviert werden können. Wenn es Erfolg hat, kann es als Modell für die restliche Ukraine dienen.
Zweitens haben wir in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium und Odessa dort eine neue Streifenpolizei eingeführt. Die Präsenz dieser Beamten auf den Straßen ist ein konkreter Beweis dafür, wie sich die Ukraine ändert, aber, was noch wichtiger ist, sie bauen das Vertrauen der Bevölkerung auf. Dieses Vertrauen wird Zuversicht stiften – Zuversicht darin, dass die Korruption, die das kleine Gewerbe erstickt und die Durchschnittsbürger einschüchtert, gemeinsam entlarvt und bekämpft wird.
Drittens finanzieren wir ein Team von ukrainischen, regionalen und internationalen Experten, die gemeinsam mit Gouverneur Saakaschwili eine Anti-Korruptions- und Deregulierungs-Agenda für den Oblast Odessa ausarbeiten. Das Leitbild der Reform, wie sie in Odessa verfolgt wird, zielt auf den Wandel. Wenn das Erfolg hat, kann sich Odessa zu einem Modell für transparentes, verantwortliches Regieren und Wirtschaften entwickeln. Es wird zu einem Symbol für Erfolg in der neuen Ukraine werden. Odessa, lange bekannt für Korruption, wird sauber werden. Investitionen und Chancen werden folgen.“ (ukraine.usembassy.gov, 24.9.15)
[44] Versuche, die
diskreditierte Regierung durch ein Team von
Reformexperten unter Führung von Finanzministerin
Natalie Jaresko zu ersetzen, haben die nötige
Stimmenmehrheit im Parlament nicht erreicht. Groisman
wiederum gehört zur alten Garde der Ukraine und ist ein
enger Verbündeter von Präsident Petro Poroschenko, und
die verbliebenen Reform-freundlichen Minister,
einschließlich Jaresko, haben mitgeteilt, dass sie sich
weigern, weiter unter ihm ihr Amt auszuüben.
(Wilson, s. Fußnote 16)
[45] Geoffrey Pyatt
hatte zwar wochenlang Lobbyarbeit dafür betrieben, ein
Kabinett aus ‚parteilosen Technokraten‘ mit der
US-Bürgerin und derzeitigen ukrainischen
Finanzministerin Natalie Jaresko als Chefin zu berufen.
Doch damit war er auf Widerstand der einheimischen
Politikerszene gestoßen. Anschließend plädierte Pyatt
für die Devise, Neuwahlen auf jeden Fall zu vermeiden…
Würde jetzt gewählt, gäbe es wahrscheinlich vor allem
zwei Gewinner: den Oppositionsblock, die
Nachfolgeorganisation der alten Partei der Regionen und
die um diesen gruppierten Oligarchen, und auf der
anderen Seite die faschistische Swoboda-Partei, mit der
Timoschenkos Vaterlandspartei zuletzt verstärkt
zusammengearbeitet hat.
(Junge
Welt, 18.2.16)
[46] ‚Odessa wird
sich erst entwickeln, wenn Kiew von den Korruptionären
befreit ist, die direkt Banditentum und Gesetzlosigkeit
decken‘, sagte er. Poroschenko ‚persönlich‘ unterstütze
in Odessa zwei kriminelle Clans (darunter den des
Bürgermeisters, der mutmaßlich aus den Mafiabanden
stammt, die in den neunziger Jahren mit Gewalt um die
Herrschaft über den wichtigsten ukrainischen Hafen
kämpften) und lasse in der Stadt prorussische
Separatisten an der Macht teilhaben.
(FAZ, 8.11.16)