Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Neue Manteltarife für die Klinikbeschäftigten zur Gegenfinanzierung der Krankenhausdefizite
Eine vorwärtsweisende Etappe im Kampf um die politische Senkung des Lohnniveaus

Zwei Tarifrunden für die Beschäftigten in den Krankenhäusern – Budgetsanierung auf Kosten der dort Arbeitenden: In der ersten Runde Lohnerhöhung um 3,1%; in der zweiten Runde ein Arbeitgeber-Angebot von „20% weniger verdienen und länger arbeiten“.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Neue Manteltarife für die Klinikbeschäftigten zur Gegenfinanzierung der Krankenhausdefizite
Eine vorwärtsweisende Etappe im Kampf um die politische Senkung des Lohnniveaus

Die 490000 öffentlich Bediensteten in den Krankenhäusern kommen dieses Jahr in den Genuß gleich zweier Tarifrunden. In der Abteilung Lohnrunde haben ÖTV und DAG dieses Jahr kräftig hingelangt und in den üblichen „aufreibenden“ Nachtschichten dem Verhandlungsführer Schily, der gar nicht einsehen wollte, warum die Gewerkschaften beim Lohn „diesen Nachholbedarf haben auflaufen lassen“, den jetzt ein rot-grüner öffentlicher Arbeitgeber „finanzieren“ soll, einen „vollen Schluck aus der Lohnpulle“ abgetrotzt. Ab dem 1. April steigen somit auch für das Krankenhauspersonal die BAT-Tarife um satte 3,1 Prozent. Die Tarifverhandlungen zur Arbeitszeitgestaltung und zu Arbeitszeitkonten, die – wie im Schlichtungsergebnis von 1998 vereinbart – im Januar gesondert mit den kommunalen Krankenhausträgern aufgenommen wurden und bis zum 31. Juli abzuschließen sind, sollten demgegenüber nach gewerkschaftlicher Auffassung ganz dem gewerkschaftlichen Steckenpferd gewidmet sein: Durch Abbau von Überstunden Beschäftigung im Krankenhaus sichern. (ÖTV-Pressemitteilung 21.1.99) Auf „einkommensneutrale“ Weise sollten, so die Gewerkschaft, auch die Klinikbeschäftigten einen Beitrag zum Kampf gegen ihre Arbeitslosigkeit leisten dürfen. Wenn es nach der Gewerkschaft gegangen wäre, wäre es in den Verhandlungen um den Tausch von bisherigen Lohnbestandteilen gegen „Freizeitausgleich“ und „Beschäftigungssicherung“ gegangen. Ein riesiger „Reformbedarf“ sei da in dieser Hinsicht inzwischen „aufgelaufen“, weil sich seit Jahren, wie die ÖTV beklagt, die Arbeitgeberseite diesem gewerkschaftlichen Angebot verweigert habe, die Verhandlungen von ihr systematisch „verschleppt“ worden seien, und deshalb natürlich kein gewerkschaftliches Kraut gewachsen war gegen den „massiven Stellenabbau“ und einen Betriebsalltag in den Krankenhäusern mit Arbeitszeiten für das Personal, die bislang schon von keinem Arbeitszeitgesetz gedeckt und durch keine „Sonderregelung“ erlaubt sind.

Mit der „Verschleppung“ ist jetzt endgültig Schluß. Pünktlich zur zweiten Runde im März liegt das Arbeitgeberangebot auf dem Tisch. Als „Kostenausgleich“ für die „1.5 Milliarden Mark, die nach Angaben der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) den Krankenhausträgern in den Kassen fehlen“, sollen die Beschäftigten in Kliniken künftig im Durchschnitt die Kleinigkeit von 20% weniger verdienen und länger arbeiten. Ein kleiner Auszug hinsichtlich der Ansprüche, denen die neu auszuhandelnden Manteltarife genügen müssen:

„Tatsächlich wollen die Kommunen das Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie manche Schichtzulage streichen…laut einer von der Gewerkschaft vorgelegten Modellrechnung müßte, wer heute im Monat auf 2800 Mark brutto kommt, Einkommenseinbußen von monatlich bis zu 900 Mark hinnehmen. … Künftig soll eine tägliche Arbeitszeit von 12 Stunden zulässig sein, bei Schicht- und Nachtarbeit bis zu 13 Stunden. Das geltende Arbeitszeitschutzgesetz erlaubt eine maximale Arbeitszeit von zehn Stunden. … Die halbstündige Ruhepause nach sechs Stunden Arbeit soll durch fünfminütige Kurzpausen abgelöst werden. … Die Ruhepause soll von elf auf acht Stunden verringert werden … Tatsächlich geleistete Arbeit während der Rufbereitschaft soll nicht mehr als Arbeitszeit angerechnet werden…dank künftig flexiblerer Arbeitszeiten … müssen keine Zuschläge mehr bezahlt werden … überdies soll Krankenhäusern, die in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken, erlaubt werden, die neuen tariflichen Vereinbarungen zu unterschreiten … sollte der Kostenausgleich nicht gelingen, seien rund 19000 Arbeitsplätze bedroht.“ (SZ, 22.3.99)

Wie war das noch? Die Zeiten, als es vielleicht mal einen „Klassenkampf von oben“ und Ausbeutung gab; „Arbeitgeber“ ihr Interesse und Recht an der ausgiebigsten Benutzung der entlohnten Arbeiter rücksichtslos gegen deren Lebensbedürfnisse geltend machten; sie mit ihrer „Lohnabhängigkeit“ erpreßten: solche Zeiten und Zustände sind bekanntlich – Sozialstaat, Konsensdemokratie und freier Tarifpartnerschaft sei Dank – längst Geschichte. „Absolute Verlängerung des Arbeitstages, schrankenlose Ausdehnung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit, unbezahlte Über- und Mehrarbeit, Herunterdrücken des Preises der Ware Arbeitskraft unter ihren Wert“ – auf ein Niveau also, auf dem sich der Lohn gar nicht mehr daran bemißt, daß der Arbeiter von ihm leben muß: so hat ein Kritiker der kapitalistischen Reichtumsproduktion aus dem letzten Jahrhundert in seinem Werk „Das Kapital“ die Mittel und Methoden charakterisiert, die „Arbeitgeber“ zur Anwendung bringen, um unbezahlte Arbeit flüssig zu machen und Personalkosten und damit Personal einzusparen. Genau so wollen heutzutage öffentliche Arbeitgeber und kostenbewußte Budgetsanierer des „medizinisch-industriellen Komplexes“, in dem „ein Drittel der gesamten Gesundheitsausgaben verpulvert werden“ (der wiedergenesene SPD-Sozialexperte Dreßler), einen „Kassenausgleich“ herstellen und für die einzig sachgerechte Refinanzierung ihrer „Haushaltslöcher“ sorgen. So ist unser „vorbildliches Gesundheitswesen“ (SZ) gestrickt, daß die Verbilligung der Volksgesundheit, die mit der Budgetdeckelung hergestellt wird, quasi automatisch für den nächsten hoheitlichen Handlungsbedarf sorgt, umfassend am Klinikpersonal zu sparen, und dem politischen Imperativ, den „hohen Tarifabschluß an anderer Stelle einzusparen“ (Schily), Rechnung getragen wird. Dieser Imperativ folgt einer medizinischen Volksversorgung, die mit Zwangsbeiträgen aus dem versicherungspflichtig gemachten Verdienst der lohnarbeitenden Menschheit finanziert wird. Seit geraumer Zeit läßt diese Funktion des Lohns als Finanzierungsquelle der Gesundheitskassen schwer zu wünschen übrig. Die in freier Tarifpartnerschaft seit Jahren ausgehandelten Reallohnsenkungen, die vier Millionen Arbeitslosen, die eine deutsche Wirtschaft erfolgreich herbeirationalisiert hat, um ihre Kostenstruktur für den „globalen Wettbewerb“ fit zu machen – alles das ist nicht ohne Wirkung auf das Beitragsaufkommen geblieben, das unser Sozialstaat bei seiner lohnarbeitenden Mannschaft einsammeln läßt. Auf der anderen Seite ist deswegen das Volk nicht schon gesünder geworden und der Bedarf nach kostspieligen Gesundheitsleistungen nicht einfach zurückgegangen. Und auf der dritten Seite sind die Produktion des „höchsten Guts“ im allgemeinen und die Krankenhausversorgung im besonderen als ein Geschäft organisiert, das sich für die verschiedenen Anbieter von Gesundheitsleistungen und medizinischen Artikeln rechnen muß – und das den Kommunen dort, wo sie die benötigten Heilanstalten betreiben, zumindest keine Zuschüsse aus ihren Haushalten abverlangen darf. Also müssen die verantwortlichen Gesundheitspolitiker eine „Kostenexplosion“ diagnostizieren und rücken ihr in allen Abteilungen des medizinisch-industriellen Komplexes mit der Deckelung der Ausgaben zu Leibe: Wenn der Lohn der Beschäftigten für das Geschäft mit dem medizinischen Unterhalt des ganzen Volkskörpers, dessen unbrauchbarer und einkommensloser Teil laufend wächst, nicht mehr genügend Geld hergibt – wegen der „unerträglichen Lohnnebenkosten“ kommt eine Steigerung der Beitragssätze für die Sozialreformer nur bedingt in Frage –, dann hat die gesundheitliche Volksfürsorge eben billiger zu kommen. Dann gibt es eben genau soviel Pflege am „höchsten Gut“ wie Beitragsaufkommen in den Kassen. Und die benötigten Krankenhausdienste dürfen genau soviel (Lohn)Kosten verursachen, wie der Etat der Krankenkasse für den veranschlagten Posten hergibt. Eine saftige 3,1%-ige Tariferhöhung ist im Lohndeckel des Krankenhausbudgets natürlich nicht vorgesehen:

„Bisher waren die Budgets der Krankenhäuser um den gleichen Prozentsatz gestiegen wie die Vergütungen der Beschäftigten. Nach den Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst wären dies 3,1 Prozent gewesen. Das neue Solidaritätsstärkungsgesetz sieht jedoch vor, daß die Budgets sich nun nach der Steigerung der beitragspflichtigen Einnahmen der Krankenkassen richten. Diese hätten 1998 im Westen plus 1,73, im Osten minus 0,48 Prozent betragen. Den Differenzbetrag müßten die Kassen nur zu einem Drittel ausgleichen. Die Krankenhäuser seien gezwungen, den Rest selbst einzusparen.“ (SZ, 24.3.)

Für die Gegenfinanzierung der „Defizite“, zu denen, neben der lohnmäßigen Überversorgung der Krankenhausbeschäftigten, bekanntlich auch die Überversorgung der Patienten mit Krankenhäusern, Betten, Intensivmedizin und ähnlichem entscheidend beitragen, macht sich der Umstand, daß im Krankenhausbereich „70% der Ausgaben aus Lohnkosten“ bestehen, durchaus positiv geltend. Um den Budgetdeckel mit den Ausgaben in Einklang zu bringen, braucht bloß das Personal entsprechend flexibel gestaltet zu werden. Eine Tarifrunde im Gesundheitswesen kennt deshalb keinen anderen Verhandlungsgegenstand und Auftrag als den, die Beschäftigten drastisch schlechter zu stellen durch eine umfassende Renovierung des Verhältnisses von Verdienst und dafür abverlangter Arbeitsleistung. Und die gewerkschaftliche Interessensvertretung der Betroffenen? Die nimmt ihrer neuen Herrschaft einfach nicht ab, daß sie will, was sie macht, und „die Finanzierungsprobleme, die die abgewählte Bundesregierung zu verantworten hat, von den Menschen bezahlt werden sollen, die rund um die Uhr für die Patienten da sind.“ (Blechschmidt, Tarifexperte der ÖTV) Eher erklärt sie die Gegenseite, die ihr diesen „tariflichen Horrorkatalog“ (ÖTV) präsentiert, zum Opfer der gesundheitspolitischen Erblast der Kohlregierung und läßt das Klinikpersonal in der freien Mittagspause in bundesweiten Protestkundgebungen vor Beginn der zweiten Verhandlungsrunde „Druck machen“ auf die Arbeitgeberseite, damit diese zusammen mit der ÖTV bei der Bundesregierung für eine „ausreichende Finanzierung der Krankenhäuser“ kämpft. Gewerkschaftliche Erfolge für das Krankenhauspersonal waren so in der zweiten Runde vorprogrammiert: Die „Horrorzahlen“ sind vom Tisch. Ab sofort „werde nur noch über Arbeitszeiten gesprochen“ (ÖTV). Und das kann ja mit einer Budgetsanierung auf Kosten der Krankenhausbeschäftigten so gut wie gar nichts zu schaffen haben.

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Die sozial gestimmten Kostendämpfer aus der Süddeutschen Redaktionsstube halten den „Forderungskatalog der kommunalen Arbeitgeber“ auch für überzogen, allein schon aus Sorge, ob darüber in Zukunft die „Attraktivität“ der Krankenhausberufe und der „Qualitätsstandard“ der Krankenhauspflege nicht Schaden nehmen könnte und womöglich ein „neuer Pflegenotstand droht“. Die Krankenhausträger sollten es bitteschön nicht übertreiben mit der Ausnutzung der Moral und Bereitschaft ihrer Dienstkräfte, die nun einmal nicht eher Schluß machen, als bis jeder Patient versorgt ist. Sonst fangen sie womöglich glatt zu rechnen an, was sie von ihrem Beruf so haben…

Insofern kann das Klinikpersonal bei seinem Protest mit einem gewissen Maß an öffentlichem Verständnis rechnen – jedenfalls solange es seine Moral ausnutzen läßt. Weniger Verständnis erntet die zuständige Gewerkschaft – jedenfalls soweit sie immer noch daran erinnert, daß hingebungsvolle Fürsorge für Kranke eine Lohnarbeit ist, die irgendwie auch noch den Menschen ernähren muß, und keine reine Ehrensache. Im Zeitalter der Globalisierung gehört das Pflegen und Helfen nämlich wieder mit Idealismus erledigt und nicht gegen Geld. Man sieht es ja, wenn die Gewerkschaft Geldzahlungen durchsetzt: Dann muß sie sich sagen lassen, daß erst ihr „hoher Tarifabschluß die absurden Widersprüche in der Gesundheits- und Tarifpolitik, die seit Jahren gelten, virulent hat werden lassen.“ (SZ, 23.3.) Denn das ist klar: Wenn eine ÖTV unverantwortliche 3,1% rausschlägt, müssen die von ihr Vertretenen sich nicht wundern, wenn das System 20% zurückverlangt.