Streit um den Internationalen Strafgerichtshof
Die Vollstrecker der Weltgerechtigkeit und das Weltgericht – Praktische Klarstellungen zum Verhältnis zwischen Weltmacht und Völkerrecht

Dem Anspruch nach will der internationale Strafgerichtshof über die Rechtmäßigkeit zwischenstaatlicher und innerstaatlicher Gewaltaktionen richten, also eine über allen Staaten stehende, für sie verbindliche Rechtsinstanz sein. Mit diesem Vorhaben wollen sich die Europäer Teilhabe an einem weltweiten Gewaltmonopol ergattern und dafür Amerikas Macht und Unterstützung verlässlich einholen. Die USA fassen den ISG als Angriff auf den von ihnen reklamierten Status auf, als die einzige Weltmacht alleiniger Stifter von Recht und Gerechtigkeit zwischen den und innerhalb der Staaten zu sein.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Streit um den Internationalen Strafgerichtshof
Die Vollstrecker der Weltgerechtigkeit und das Weltgericht – Praktische Klarstellungen zum Verhältnis zwischen Weltmacht und Völkerrecht

Am 1. Juli 2002 eröffnet der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag sein erstes Büro. Die neu geschaffene Behörde soll künftig bei „schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“, bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen des Angriffskrieges, der Straflosigkeit der Täter eine Ende setzen (Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ICC, Präambel). Ab sofort nimmt das Gericht Fälle zur Prüfung und künftigen Anklage entgegen. Richter und Ankläger sollen im nächsten Jahr offiziell ihre Arbeit aufnehmen. Ein alter Menschheitstraum wird wahr. Von nun an will die Welt gemeinsam über Tyrannen richten. (SZ,1.7.)

1.

Seinem Anspruch nach ist der Gerichtshof nicht weniger als die institutionalisierte Dauerbegutachtung aller Kriegshändel und innerstaatlichen Gewaltaktionen einer Regierung unter Strafrechtsgesichtspunkten. Eingerichtet wird eine Instanz, der die letzte Entscheidungsbefugnis darüber zukommen soll, was bei allen Gewalttaten, die Staaten in ihrem Innen- wie Außenverhältnis immer wieder einmal für notwendig erachten, rechtens und was Unrecht ist. Ob eine militärische Tötungsaktion eine notwendige Kriegshandlung oder ein durch „militärische Erfordernisse“ nicht mehr gedecktes Kriegsverbrechen war; ob ein Waffengang der Wahrnehmung „berechtigter nationaler wie supranationaler Interessen“ dient oder eine „Aggression“ und damit den „Bruch internationaler Sicherheit“ darstellt; ob „Angriffe auf die Zivilbevölkerung“ ein bedauerlicher Irrtum, ein unvermeidlicher Kollateralschaden oder „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und damit Manifestationen eines verbrecherischen Staatswillens sind – die Entscheidung darüber soll in die Definitionshoheit des Gerichtshofes fallen. Gemäß dem Katalog von „Verbrechenselementen“, die die Vertragspartner in seine Statuten geschrieben haben, überprüft er ihm zur Anzeige gebrachte Fälle auf Stichhaltigkeit und schreitet gegebenenfalls zur Anklage. Ist ein solcher „Straftatbestand“ bereits vor einem nationalen Gericht verhandelt und dort mit mit einem Freispruch beschieden worden, so behält es sich der Gerichtshof vor, die nationale Entscheidung nicht anzuerkennen, beansprucht also, eine für alle verbindliche Rechtsinstanz noch über der jeweiligen staatlichen Gerichtsbarkeit zu sein.

Zweck und Inhalt der ganzen Konstruktion ist somit eine gar nicht unerhebliche Einschränkung staatlicher Souveränität: Den nationalen Gewaltmonopolisten wird ihre Entscheidungshoheit über die Rechtmäßigkeit der in ihrem Auftrag und ihrem Namen vollbrachten Brutalitäten bestritten. Das nicht nur in den ideellen Sphären des moralischen Urteils, sondern mit der strafrechtlichen Ober-Zuständigkeit des neuen Instituts für das staatliche Personal, das die fraglichen Gewalttaten verübt hat. Und diese Zuständigkeit wird – nach Vertragslage – in der Weise praktisch wirksam, dass die Vertragsparteien sich selbst und einander das Recht zusprechen, fremde Staatsagenten bei Bedarf zu verklagen, was schon ein hohes Maß an Überwachung auswärtiger Staatstätigkeit voraussetzt, und sich wechselseitig dazu verpflichten, nicht bloß eigene, sondern auch die dingfest gemachten verdächtigen Funktionäre dritter Staaten an das Tribunal zu überstellen und die Überstellung eigener Bürger, die über eine staatliche Lizenz zum Töten verfügen, durch Dritte nach Den Haag zu dulden. Was es in der bisherigen Weltgeschichte des Völkerrechts nur als Siegerjustiz, also auf Grundlage der erfolgreichen kriegerischen Brechung eines souveränen Staatswillens gegeben hat, nämlich die Unterwerfung staatlicher Entscheidungsträger und Vollzugsbeamter unter den prozess- und strafrechtlichen Zugriff einer auswärtigen Rechtsinstanz, das soll jenseits von Krieg und Niederlage zur Dauereinrichtung werden.

2.

Bereits 74 Staaten haben die Statuten des Gerichtshofs bisher ratifiziert – nicht jedoch die USA. Die von der Clinton-Administration geleistete, vom amerikanischen Senat aber nicht ratifizierte Unterschrift unter das Vertragswerk ist im letzten Jahr zurückgezogen worden. Und dabei bleibt es nicht. Nur Stunden vor Inkrafttreten des Vertrages sorgt das Weiße Haus mit einem Veto im UNO-Sicherheitsrat gegen die Verlängerung der UNO-Mission in Bosnien-Herzegowina für einen Eklat: Vor einer Zustimmung zur Weiterführung des Bosnien-Mandats verlangen die USA erst einmal Immunität für ihre eigenen Bürger vor dem Völkertribunal. Werden amerikanische Soldaten und Zivilpersonen nicht generell von der Zuständigkeit des Gerichtshofes ausgenommen, dann würden die USA auch für weitere UN-Einsätze keine Soldaten mehr bereit stellen, ihre Finanzbeiträge einfrieren und womöglich gar keinen bewaffneten UN-Interventionen mehr ihren Segen erteilen.

Die amerikanische Position ist eindeutig: Ein Institut internationaler Völkerrechtsaufsicht, in dem sich prinzipiell jeder Staat zum Ankläger und Richter über Recht- und Unrechtmäßigkeit bei den Gewalthändeln eines jeden anderen aufschwingen kann, wäre eine Chance, ja geradezu eine Einladung für „Schurkenstaaten“ und solche, die es werden wollen, die Vereinigten Staaten weltöffentlich „an den Pranger zu stellen“. Denn weil kein anderer Staat im Kampf gegen das politisch Böse weltweit so engagiert ist wie die Supermacht, sei auch kein anderer so gefährdet, das Opfer eines „politischen Missbrauchs“ des Strafgerichtshofs zu werden.

„Während die Vereinigten Staaten dafür arbeiten, der Welt den Frieden zu bringen, können unsere Diplomaten und Soldaten vor Gericht gezerrt werden. Das ist sehr Besorgnis erregend.“ (Bush)

Versuche der Gerichtshof-Befürworter, den Amerikanern diese „Besorgnis“ auszureden – die Statuten des Gerichtshofes selbst sowie seine Rückbindung an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterbinde missbräuchliche Anklagen; der Gerichtshof schreite nur ein, wenn ein jeweiliges Land nicht willens oder in der Lage sei, etwaige Kriegsverbrechen selber zu bestrafen; es sei „höchst unwahrscheinlich“, dass US-Soldaten jemals vor dem ICC angeklagt würden – beruhigen das Weiße Haus überhaupt nicht. Theoretisch besteht eben doch die Möglichkeit, dass sich US-Soldaten und Beamte im Zuge der Verfolgung ihrer Weltordnungsmission in der Rolle des Angeklagten vor den Schranken des neu geschaffenen Weltgerichts wiederfinden; das genügt für ein entschlossenes Verdikt.

Denn erstens lässt sich der amerikanische Staat seine alleinige letztinstanzliche Hoheit über seine Bürger und erst recht über seine eigenen Agenten schon mal grundsätzlich und überhaupt nicht bestreiten; von keiner auswärtigen Macht und von einem zusammengewürfelten internationalen Gremium schon gleich nicht. Zweitens hieße das nämlich, und das gehört nun vollends in den Bereich des absolut Undenkbaren, dass die Weltmacht selbst mit ihren bewaffneten Großtaten auf die Anklagebank gezerrt würde. Das auch nur als Möglichkeit ins Auge zu fassen, ist nicht bloß die Größte Anzunehmende Unverschämtheit, die der „Nation unter Gott“ und sonst niemandem angetan werden kann; so etwas wäre drittens – aus amerikanischer Sicht; und wo sie Recht haben, haben sie Recht! – schlichtweg paradox. Amerika sieht sich, wo immer es mit seiner Militärmacht unterwegs ist, nicht nur im Recht, sondern als Sachwalter und Verteidiger des Rechts überhaupt, als Stifter eines Minimums – und je länger, je mehr eines gewisse Maximums – an Gesetzlichkeit zwischen den Staaten; wer diesen Kampf einer rechtlichen Begutachtung von noch höherer Warte unterwerfen will, verübt einen – nebenbei: blasphemischen – Anschlag auf die paar Momente von Recht und Sittlichkeit selber, für die außer Amerika niemand, und schon gar nicht wirksam, eintritt und einsteht. Und was Amerika da mit imperialistischer Selbstgewissheit für sich reklamiert, das bringt die Sache tatsächlich auf den Punkt. Denn wenn es in der idyllischen Völkerfamilie des 21. Jahrhunderts überhaupt so etwas wie einen „Rechtszustand“ gibt, nämlich rechtsförmig elaborierte Richtlinien und Regeln, an die souveräne Staaten sich halten müssen – also nicht bloß Verfahrensregeln zwischen formell gleichen, einander anerkennenden souveränen Gewalten auf Basis des goldenen Grundsatzes „Pacta sunt servanda“, sondern eine von den Betroffenen selbst als gültig anerkannte Beschränkung staatlicher Souveränität –, dann gibt es das nur wegen der Kontrolle, die die USA, mittlerweile durch keinen gleichrangigen Gegenspieler mehr behindert, statt dessen gestützt auf ein System von Militärbündnissen, über den Gewalthaushalt der Staatenwelt ausüben; es gibt so etwas nur als das zu einem allgemeinen Regelwerk ausgearbeitete Regime, dem Amerika mit dem angedrohten und bedarfsweise vollstreckten Terror seiner überlegenen Gewaltmittel die übrigen Nationen unterworfen resp. als Verbündete inkorporiert hat. Andersherum ausgedrückt: Die USA haben Kräfteverhältnisse in der Staatenwelt erstritten – oder arbeiten jedenfalls daran, energischer denn je mit ihrer neuen Strategie eines universellen Anti-Terror-Kriegs mit unabsehbar vielen Fortsetzungskapiteln –, die ihnen die Position einer globalen Siegermacht verleihen und in letzten Weltsicherheitsfragen ein gewisses Monopol auf Diktate verschaffen, die wie rechtliche Normen wirken, weil und soweit Verbündete ebenso wie weniger verbündete Souveräne um deren Respektierung nicht herumkommen; auf der Basis sind sie dabei, das herkömmliche Völkerrecht „weiter zu entwickeln“, nämlich ihre imperialistischen Ansprüche unter dem Titel des unbedingt zu schützenden Menschenrechts auf Demokratie, Marktwirtschaft und amerikafreundliches Verhalten zur weltweit geltenden Richtlinie für „gutes Regieren“ zu machen. Und nun sollte die Weltordnungsmacht bei Aktionen, mit denen sie eben diese internationale Rechtslage herstellt, sich selber, nämlich ihre eigenen Vollstreckungsbeamten der Beurteilung und dem Schiedsspruch einer übergeordneten Instanz unterwerfen? Der Urheber und Vorkämpfer der Weltgerechtigkeit soll sich selbst auf Legitimität prüfen lassen? Ein absurder Gedanke! Und wo der in die Tat umgesetzt werden soll, da kann nichts anderes vorliegen als ein versuchter Anschlag auf Amerikas Rang als globaler Sheriff, der mit seinem omnipräsenten Terror dem Rest der Staatenwelt halbwegs gute Sitten beibringt, und somit auf Recht und Gesetz im globalen „Wilden Westen“ überhaupt. So sieht es die Bush-Regierung – und wie gesagt: Wo sie Recht hat, hat sie Recht.

3.

Und so ähnlich ist es ja auch tatsächlich gemeint. Von den Europäern jedenfalls, die die Sache so angelegentlich vorantreiben, wird das im Welt-Strafgerichtshof institutionalisierte weltumspannende Beurteilungswesen als Chance begriffen, ein Mehr an Kompetenz bei der Zuteilung von Rechten und Verboten an den Rest der Staatenwelt zu erobern, ohne dafür jeweils die arg beschränkte Reichweite ihrer militärischen Macht auf die Probe stellen zu müssen. Und natürlich betreiben sie dieses Projekt mit dem Ziel, ein bisschen heranzurücken an die Weltordnungsbefugnis, die die USA sich mit ihrer konkurrenzlosen Militärmacht verschafft haben, ein kleines Äquivalent zu schaffen für deren Richtlinienkompetenz in Fragen des guten oder schlechten Regierens. Der mit gröbsten militärischen Abschreckungsmitteln operierenden Beaufsichtigung der Staatenwelt durch „Gottes eigenes Land“ versuchen sie eine auch mit ein paar Zugriffsmitteln ausgestattete Aufsicht über Personal und Machenschaften anderer Staaten zur Seite zu stellen und ein wenig auch entgegen zu setzen. „In Augenhöhe“ mit dem wirklichen Weltordner wollen sie im Kollektiv als Weltenrichter tätig werden, und Amerika soll sich als bloß gleichberechtigter Teilhaber da einordnen.

Dabei wissen die Euro-Mächte allerdings nur zu gut, dass dieses Richteramt nur so viel wert ist wie die dahinter stehende Macht, andere Staaten auf konstruktives Mitmachen und „gutes Regieren“ im Sinne europäischer Vorgaben festzunageln, und dass die nötigen Machtmittel von ganz anderer Art sein müssen als „Geist und Buchstaben“ eines Vertragswerks auf herkömmlicher völkerrechtlicher Grundlage. Und völlig klar ist ihnen auch – eben daran leiden sie ja so heftig –, dass die einschlägigen Mittel, über die sie verfügen, ohne die der USA nicht besonders weit reichen; schon allein deswegen, weil die Machtmittel der USA so enorm weit reichen. Die Liste der Staaten, gegen die sie ihren Anspruch auf höchste richterliche Entscheidungsgewalt gegebenenfalls durchsetzen könnten, ist kurz – selbst im Falle eines Milosevic wäre es mit dieser Durchsetzungsfähigkeit ohne die USA nicht weit her gewesen; und gegen die USA könnten sie nicht einmal Arafat, geschweige denn einen israelischen Rekruten verhaften. Mit ihrem diplomatischen Kampf um Zustimmung und Mitmachen der Amerikaner gestehen die Europäer das auch ein: Ihre Rechnung mit einem quasi autonomen Weltstrafgerichtshof kann nur so weit aufgehen, als Instrument zur Disziplinierung anderer Staaten kann das Ding nur so wirksam werden, wie die USA sich dafür hergeben und ihre Macht dahinter setzen – von wegen, „die Gerechtigkeit“ könnte sich ohne Grundlage in einem geklärten Gewaltverhältnis irgendeine internationale Geltung erobern. Mit ihrem Unternehmen, neben und getrennt von der amerikanischen Macht ein wirksames Weltstrafrecht einzuführen, finden sie sich für die Ernsthaftigkeit des letzteren doch wieder auf erstere angewiesen. Die Lebenslüge eines strikt supranationalen Weltgerichts, dem die „Supermacht“ gleichberechtigt zu- und als bloßer „Weltpolizist“ untergeordnet wäre, ist für Europas Führungsnationen von unwiderstehlichem Reiz und dann doch, eingestandenermaßen, nur haltbar, wenn und soweit Amerika sich dazu, also auf das Niveau der verbündeten Weltmacht-Konkurrenten in spe herab lässt.

4.

Die USA sollen mitmachen, damit Europa mit-richten kann; und genau den Gefallen tun sie den Weltstrafrechtlern nicht. Nicht nur, dass sie sich fernhalten: Eigentlich sollte man das ganze Projekt sterben lassen; und wenn seine Gründung schon nicht mehr zu verhindern ist, dann darf es für Amerikaner prinzipiell nicht zuständig sein. In diesem Sinne schaffen sie, zeitgleich mit dem Inkrafttreten des Vertragswerks über den ICC, klare rechtliche Verhältnisse; mit einem eigenen nationalen Gesetz, dem – davon gehen Amerikas Weltpolitiker aus, und das nicht zu Unrecht – praktisch allemal mehr weltweite Bedeutung zukommt als einem völkerrechtlichen Vertrag mit noch so vielen Kontrahenten.

„Ein neu verabschiedeter Homeland Security Act verbietet eine Zusammenarbeit von US-Behörden mit dem ICC, droht den heute 74 Nationen, die bisher seine Statuten ratifizierten, Sanktionen an und verpflichtet die US-Regierung, sich nur noch an UN-Friedensmissionen zu beteiligen, in denen Truppen der USA Immunität gewährt wird.“ (Die Welt, 2.7.)

Wozu die Weltmacht sich verpflichtet, das setzt sie auch gleich in die Tat um: Sie legt im Weltsicherheitsrat Einspruch ein gegen ein UN-Mandat zur Fortsetzung der Bosnien-Mission. Den Sinn der Sache, den sowieso jeder versteht, verdolmetscht Amerikas Presse den Europäern noch einmal kindgemäß so:

„No other nation, or group of nations, could conceivably replace the U.S. as the worlds policeman. But like it or not, that American role will be played on American terms. Europeans should ask themselves whether, right now, the ICC is worth more than continued American engagement in the world. The answer is easy.“ (Time Magazine, 4.7.)

Natürlich steht Amerikas „engagement in the world“ überhaupt nicht auf dem Spiel. Die Boykott-Drohung gegen die UNO, die doch bisher noch nie die Weltmacht auf Teilnahme an militärischen Weltordnungsmanövern anderer und im Interesse anderer Nationen verpflichtet, sondern noch allemal eine amerikanische Beschlusslage rechtsförmlich verallgemeinert und für die Einbindung anderer Nationen gesorgt hat, ist dennoch kein Witz. Die USA drohen in dieser Form mit der Aufkündigung des Scheins kollektiver Beschlussfassung, auf den die ohnehin zum Mitmachen genötigten Partner größten Wert gelegt, den aber auch die US-Diplomaten stets aufrechterhalten haben, gerade um ihren Forderungen an verbündete und andere Staaten den Anschein freier Zustimmung und so den Charakter eines anerkannten Rechtsstandpunkts zu verschaffen. Den ganzen UN-Zirkus und das gesamte Völkerrechtswesen stellen sie so einmal drastisch und mit Nachdruck vom Kopf auf die Füße und konfrontieren die lieben Verbündeten mit der Aussicht, nicht etwa allein gelassen, sondern ganz im Gegenteil in die Entscheidungen und Weltordnungsaktionen Washingtons nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in der bisherigen Form als formell gleichberechtigte und höflich konsultierte Mit-Entscheider, einbezogen zu werden.

Das sitzt. Laut, aber ohnmächtig protestieren die Europäer; regen sich über die Gesetzeslage auf, mit der der große Verbündete sich dazu ermächtigt, im Fall einer Verhaftung amerikanischer Angeklagter Truppen zur „Gefangenenbefreiung“ notfalls sogar in Den Haag einzusetzen; versuchen, den Partner mit der Heuchelei ins Unrecht zu setzen, ihr wunderbares Völkertribunal wäre doch nichts anderes als ein Beitrag zu jener weltweit verbindlichen Rechtsordnung, die Amerika selbst schon immer gefordert habe, und in genau der Form, in der es selber von den Nürnberger Prozessen bis zum Tribunal gegen Milosevic internationales Strafrecht exekutiert hätte. Doch es hilft nichts. Die Heuchelei Europas übersetzen die Amerikaner wie selbstverständlich in die zu Grunde liegende banale Wahrheit des wirklichen politischen Kräfteverhältnisses zurück: Ihre Gewalt ist Weltgesetz; supranationale Institutionen sind nur legitim, soweit sie dieses Machtverhältnis festschreiben und rechtsförmig absegnen, sich also als Instrumente der Weltmacht und ihrer Weltaufsicht bewähren. Und sie bestehen, wenn die Einrichtung des Tribunals schon nicht mehr zu verhindern ist, auf rechtsförmlich beschlossener und festgeschriebener Immunität ihres Personals gegen jegliche Anklage.

Das verlangen sie als erstes in und von der UNO – und bekommen es, nach den nötigsten und notdürftigsten Rückzugsgefechten der Europäer in Form von „diplomatischer Verstimmung“ über „Erpressungsversuche“ und eine schäbige Behandlung der Verbündeten „wie Satellitenstaaten“, in der rechtlichen Gestalt einer vorläufig auf ein Jahr befristeten Ausnahmeregelung für alle an UN-Einsätzen beteiligten Soldaten. Die beleidigten Partner registrieren das Ergebnis als „Sieg der USA über die Völkergemeinschaft“. Den Amerikanern freilich langt das noch lange nicht. Sie stören sich daran, dass der Status der strafrechtlichen Unanfechtbarkeit, den sie für sich und ihre Agenten beanspruchen, in Rechtsfloskeln gefasst ist, die sich zwar nicht mit der Intention, so halb und halb aber mit dem Wortlaut des ICC-Vertrags, nämlich mit dessen Bezugnahme auf die Prärogative des Weltsicherheitsrats vereinbaren lassen und die, statt Amerikas Dienst an zwischenstaatlicher Gesetzlichkeit zu würdigen, den UNO-Einsatzkräften aus allen Nationen Immunität vor der Verfolgung durch den ICC gewähren – und Amerikas Agenten auch bloß gewähren. Aus diesem Ärgernis macht die US-Regierung eine Gelegenheit und konfrontiert zweitens alle Staaten mit dem Ansinnen, in bilateralen Abkommen feierlich und rechtsförmlich zu bestätigen, dass ihre Staatsagenten grundsätzlich über der kollektiv vereinbarten Gerichtsbarkeit des ICC stehen; zur Belohnung sichert sie zu, auch ihrerseits alle Anklagen und Auslieferungsbegehren gegen Funktionäre des jeweiligen Vertragspartners zu ignorieren, die womöglich an sie herangetragen werden.

Dass sie sich darüber mit Israel sofort handelseinig wird und mit der um Aufnahme in die NATO nachsuchenden Regierung Rumäniens auch, versteht sich von selbst, ist für Amerikas Diplomaten aber auch noch nicht viel wert. Der wichtigste Adressat ihres Immunitäts-Begehrens sitzt in Berlin: Die deutsche Regierung, die sich für den Weltstrafgerichtshof als Instrument eines quasi-zivilen Euro-Imperialismus mit am heftigsten eingesetzt hat, ist gefordert, sich zwischen Konkurrenz und Unterordnung zu entscheiden.

Außenminister Fischer will das amerikanische Verlangen „prüfen“.