Rechte Reformpolitik für den Standort Deutschland

Gemäß des (selbst-)kritischen Krisenbefundes der Politik, sie habe ein Leben „über unsere Verhältnisse“ zugelassen, werden die sozialen und politischen Verhältnisse zur Krisenbewältigung umfassend umgekrempelt.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Rechte Reformpolitik für den Standort Deutschland

Die Bonner Politiker sind mit dem Zustand der Nation sehr unzufrieden. Für die Verwirklichung der nationalen Ansprüche gibt die Gesellschaft ihnen nicht genug her. Die Wirkungen der Wirtschaftskrise auf die Staatskasse – die Einnahmen sinken, die Ausgaben steigen – halten sie für unerträglich. Ihre Diagnose lautet nicht, daß zur Zeit eine schlechte Konjunkturphase ist, aus der man schon wieder rauskommen wird. Die gegenwärtige Krise macht für sie deutlich, daß wir in Deutschland schon seit längerem „über unsere Verhältnisse gelebt haben“. Selbstkritisch werfen sich die Bonner Regierenden vor, als politische Führer zu lasch gewesen zu sein. Sie hätten den Bürgern gestattet, bloß auf den eigenen Vorteil auszusein, anstatt pflichtbewußt ihren Dienst für’s Gemeinwesen zu leisten. Ein Umdenken bei Bürgern wie den politisch Verantwortlichen tue also not, und ein Umbau bisheriger staatlicher Strukturen sei fällig.[1]

Steuerpolitik

Ein Defizit im Staatshaushalt ist an sich nichts Ungewöhnliches. Es handelt sich schon um historisch sehr seltene Ausnahmefälle, wo kapitalistische Staaten einen ausgeglichenen Haushalt oder sogar einen Einnahmenüberschuß haben. Im Normalfall muß Kredit das Haushaltsdefizit abdecken; und die Neuverschuldung wird mit jedem neuen Haushalt ausgedehnt. Die deutschen Finanzpolitiker erklären nun aber seit einiger Zeit genau dies zu einem Problem, das ihnen schwer zu schaffen macht; und zwar deshalb, weil das Defizit im Staatssäckel immer schneller wächst, während das Wirtschaftswachstum der Nation stagniert, wenn nicht gar zurückgeht. Kaum hat Waigel sein „Föderales Konsolidierungsprogramm“ durchgebracht, prognostiziert er ein weiteres zig-Milliardendefizit, und in aller Öffentlichkeit warnen die Finanzpolitiker inzwischen sich selbst vor einer „unsoliden Finanzpolitik“, die die Stabilität der DM gefährden könnte.

Der Grund dafür ist einfach: Der Staat hat ehrgeizige Vorhaben – insbesondere die Übernahme der DDR erweist sich als sehr kostenträchtig –, andererseits schmälert die Krise erheblich seine Einnahmen. Ständig bleibt das Steueraufkommen unterhalb der prognostizierten Höhe, weil die Einkünfte der Bürger zurückgehen. Bei den Unternehmen laufen die Geschäfte nicht, wie sie sollen. Das Lohnaufkommen ist rückläufig, weil die Tariferhöhungen minimal sind und die Anzahl der Lohnbezieher wegen massenhafter Entlassungen kontinuierlich abnimmt. Wo weniger verdient wird, wird auch weniger Geld ausgegeben. So sinken überall die Geldbeträge, von denen der Staat sich per Steuern seinen prozentualen Anteil holt.

Das will der Finanzminister nicht einfach weiter hinnehmen: Die sinkenden Einnahmen, müssen durch die bessere Ausbeutung der bisherigen Steuerquellen und die Erschließung neuer zumindest kompensiert werden.

Dabei ist ihm klar, daß weitere Steuererhöhungen die Finanzkraft seiner Bürger schmälern und sich damit negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirken. Seine Lieblingsbürger haben darauf die Regierenden ja erst kürzlich mit ungewöhnlicher Schärfe aufmerksam gemacht:

„Die Staatsquote, die inzwischen fast 52% betrage, drohe bis 1996 auf 54% anzusteigen. ‚Hier beginnt qualitativ der Übergang von der Marktwirtschaft zur Staatswirtschaft‘, der Staat müsse endlich Wendepunkte markieren, wie er … die Steuer- und Abgabenquote zurückführen wolle.“ (Tyll Necker, FAZ 29.6.93)

Deswegen ist der Finanzminister auch selber von seinen Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen gar nicht begeistert; er hält sie aber für unumgänglich. In der gegenwärtigen Lage hat für ihn die Stabilität des Nationalkredits oberste Priorität. Nicht, daß er seine kostspieligen Staatsvorhaben den nicht mehr automatisch steigenden Einnahmen anpaßt. Er paßt das Einnahmenwesen dem steigenden Finanzbedarf und seiner ausgiebigen Schuldenmacherei an. Darum sieht er an der Steuerfront keine Alternative zu seinen Plänen.

Kampf dem Steuerbetrug

Als erstes beschließen die Bonner Politiker: Die Quellen müssen mehr hergeben, und schon entdecken sie im bisherigen Steuergebaren lauter Mißbrauch. Deswegen sollten die steuerlichen Regelungen nicht mehr so lax gehandhabt und die vielen Schlupflöcher, die sie ließen, gestopft werden. Als Scharfmacher betätigt sich dabei die SPD:

„Ingrid Matthäus-Maier forderte, den Steuerhinterziehern endlich das Handwerk zu legen. Allein durch Steuerhinterziehungen gingen dem Staat 130 Mrd. DM verloren. Die Steuerausfälle aus dem Zigarettenschmuggel bezifferte sie auf fast 1 Mrd. DM. Einsparungen über 525 Mill. DM könnten durch steuerliche Einschränkungen bei der Abrechnung von Bewirtungsspesen erzielt werden. Weitere 300 Mill. DM wären möglich, wenn Unternehmen und Selbständige ihre Autos nicht mehr unbeschränkt steuerlich absetzen könnten.“ (HB 1.6.93)

Dabei läuft sie bei Waigel offene Türen ein. Längst steht die Bekämpfung der Steuerhinterziehung und des Mißbrauchs der Steuergesetze auf seiner Prioritätenliste ganz oben, und der Presse gegenüber hat er wiederholt energische Maßnahmen angekündigt.

Nun ist dieses Mittel, die Steuereinnahmen des Staates zu verbessern, an sich so neu nicht; schließlich gibt es Steuer- und Zollfahndung, Betriebs- und Lohnsteuerprüfung nicht erst seit 1993. Auffällig – und so auch inszeniert und beabsichtigt – sind freilich Aktionen, wie sie z.B. Mitte Juni von Presse, Funk und Fernsehen bekannt gemacht wurden:

„1700 Mitarbeiter verschiedener Behörden veranstalteten eine Großrazzia im ganzen Bundesgebiet. Dabei durchsuchten sie insgesamt 1520 Betriebe, Baustellen, Betriebe des Hotel- und Gaststättengewerbes, Landwirtschaftsbetriebe, Unternehmen, bei denen der Verdacht auf Beschäftigung von Schwarzarbeitern bestand. Dabei entdeckten sie 439 Fälle von gravierenden Unregelmäßigkeiten.“

Diese Demonstration wie auch der Vorwurf an die Bürger – gerade auch die Unternehmer, sie seien Steuerbescheißer und Subventionsbetrüger, zielen auf ein neues Klima in der Republik: Der Staat erklärt sich zum von seinen Bürgern permanent Betrogenen und hält entsprechende Konsequenzen für nötig.

Darum wird – trotz des ansonsten rigoros durchgesetzten Programms, im öffentlichen Dienst Personal abzubauen – der Zoll- und der Steuerfahndung ein stattlicher personeller Ausbau versprochen. Dabei wird nicht groß nachgerechnet, ob Aufwand und Ertrag in einem Verhältnis stehen, es geht nämlich ums Prinzip.

Des weiteren führt der Beschluß zur Mißbrauchsbekämpfung im Steuerwesen zur verschärften Anwendung, dann aber auch zur Nachbesserung der Steuergesetze. Als erster Schritt in diese Richtung werden folgende Maßnahmen öffentlich angekündigt: Bekämpfung der Schwarzarbeit, Verhinderung der Umgehung der Erbschaftssteuer, Unterbindung der Verlagerung von privaten Lebensführungskosten auf Werbekosten oder Betriebsausgaben, Nichtanerkennung von Verträgen zwischen Angehörigen, die nur zur Inanspruchnahme steuerlicher Vorteile geschlossen werden…

Jedem Bürger muß klar sein, daß ihm der Fiskus einige bisher geduldete Tricks, Steuern zu sparen, nicht mehr durchgehen läßt.

Natürlich weiß der Finanzminister sehr gut, daß über diese Maßnahmen seine Haushaltslöcher nicht wirklich zu stopfen sind. Deswegen entfaltet er eine Menge Einfallsreichtum in Sachen Steuererhöhungen. Dabei modifiziert er einige bisher bei der Steuereintreibung geltende staatliche Gesichtspunkte:

Steuererhebung nach Standortgesichtspunkten

Als erstes fällt Waigel die Anhebung diverser Konsumsteuern ein: Mehrwertsteuererhöhung zum 1.1.93, Versicherungssteuer zum 1.7.93 und zum 1.1.94, Mineralölsteuer zum 1.1.94 (16 Pfg pro Liter) etc. Dabei ist dem Staat durchaus klar, daß er damit die Kaufkraft der Massen erheblich einschränkt, was die Konjunktur nicht gerade belebt. Darauf kann und will er aber angesichts seines Finanzbedarfs keine Rücksicht nehmen.

Als nächstes entdeckt er die Ersparnisse seiner Bürger: Ihm ist nicht entgangen, daß einige von ihnen es in den „Wohlstandsjahren“ zu recht ansehnlichen Summen auf der Bank gebracht haben. Bisher war es nicht unbedingt üblich, daraus entstandene Zinseinkünfte dem Finanzamt als zu versteuerndes Einkommen unter die Nase zu reiben. Die Bürger profitierten damit von dem vom Staat aufgestellten Grundsatz, die Bankkonten seiner Bürger als deren Privatsphäre und als freie Geschäftsmittel der Banken zu respektieren.

Daß ihm Einkünfte verschwiegen werden, will der Staat sich nun keinesfalls mehr bieten lassen. Er führt die „Zinsabschlagsteuer“ ein und schöpft gleich an der Quelle ab: Grundsätzlich sind die Banken verpflichtet, 30% der Zinsen unmittelbar an den Fiskus abzuführen; eine Kontrolle der ordnungsgemäßen Abwicklung behält er sich vor. Nachdem größere Geldanleger es nun vorziehen, ihre Gelder auf ausländischen Konten – wie z.B. in Luxemburg – in Sicherheit zu bringen, und der Ertrag dieser Steuer weit geringer ausgefallen ist, als Waigel es sich erhofft hatte, übt der deutsche Finanzminister Druck auf seine europäischen Kollegen hinsichtlich einer gemeinsamen europäischen Lösung aus.

Von der Zinsabschlagsteuer werden allerdings die zurückgelegten Notgroschen verschont, sie sind per Freibetrag von der Besteuerung ausgenommen, wenn ein Freistellungsantrag gestellt wird. Quasi als Entschädigung dafür hat der Finanzminister die Arbeitnehmer-Sparzulage nach dem „936-DM-Gesetz“ in den alten Bundesländern gestrichen. Wenn er sich schon nicht an den kleineren Ersparnissen bedient, will er sie zumindest nicht länger „subventionieren“.

Dabei stört es die amtierenden Finanzpolitiker nicht, daß sie damit die Ideologie außer Kraft setzen, die mit dieser Sparfördermaßnahme verbunden war. Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand galt als Symbol für den sozialen Charakter der Marktwirtschaft, als Beleg dafür, daß Reichtumsumverteilung zugunsten der Arbeitnehmer – wo dies nur möglich ist – auf ihrem Programm stehe. Solche Vorstellungen befinden Waigel & Co als überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Darum muß auch der praktische Nutzen des Staates – er konnte sicher sein, daß die Lohnarbeiter mit ihren Ersparnissen nicht bei jedem „Schicksalsschlag“ gleich zum Sozialfall werden – wegen höherer staatlicher Interessen zurückstehen. Im übrigen ist der Staat sich sicher, daß der Sparwille seiner Massen nun nicht völlig erlahmt. Wie bitter sie ein paar Rücklagen für „schwierige Zeiten“ in Zukunft nötig haben, macht er ihnen nämlich mit sämtlichen sozialen Regelungen, die er beschließt, und den täglichen Warnungen vor der Unsicherheit künftiger Renten handfest klar. (Dazu später)

Der Staat läßt seine Bürger also spüren, daß er auf ihr Geld als seine Finanzquelle angewiesen ist und derzeit viel mehr braucht, als er sich bislang geholt hat. Weil dieses Vorgehen konjunkturpolitisch höchst problematisch ist, insofern das Wirtschaftswachstum dadurch gebremst wird, wo es doch eigentlich angekurbelt werden müßte, ergänzt Waigel diese Maßnahmen durch steuerliche Entlastungen der Wirtschaft. Der Einkommenssteuerspitzensatz für gewerbliche Einkünfte wird von 53% auf 47%, der Körperschaftssteuersatz auf 45% gesenkt. Rexrodt ergänzt:

„1996 müsse die Steuerreform mit einer weiteren Senkung der Steuersätze und dem Abbau von Gewerbekapital- und betrieblicher Vermögenssteuer fortgesetzt werden.“ (Rexrodt, HB 1.7.93)

Die Regierung macht auf diese Weise ihren Standpunkt deutlich: Abkassiert wird bei allen privaten Einkommen. Das gilt für die kleinen genauso wie für die großen Geldverdiener. Das „Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz“ sieht z.B. unter anderem vor:

„Eine Reihe von Steuersparmodellen bei Anteilsveräußerungen und Umwandlungen sollen beseitigt werden… Veräußerungsgewinne von Investmentfonds sollen künftig besteuert werden.“ (SZ 16.6.93)

Die gewerblich angelegten Gelder und die Gewinne der Unternehmen, die wieder investiert werden, sollen dagegen steuerlich entlastet werden. Nicht umsonst nennt der Finanzminister das Gesetz, das dies regelt, „Standortsicherungsgesetz“. Investieren soll in Deutschland attraktiver gemacht werden, darum verzichtet der Staat glatt auf ein paar Prozente bei der Gewinnbesteuerung, wo er doch sonst hinter einem wachsenden Staatsanteil an jeder verdienten Mark her ist.

Die SPD nimmt die Steuersenkung für Unternehmen zum Anlaß, der Regierung vorzuwerfen: „Die Koalition greift dem kleinen Mann in die Tasche, während sie die Reichen steuerlich entlastet“. Sie spricht von „sozialer Schieflage“ und von „Verteilung von unten nach oben“. Dabei geht sie gleichfalls von der Notwendigkeit von Steuererhöhungen aus, glaubt also selber nicht an ihr eigenes Gerede, die konsequentere Bekämpfung des Steuermißbrauchs mache Erhöhungen überflüssig. Zweitens will sie den „kleinen Mann“ auch steuerlich gar nicht entlasten, verspricht ihm höchstens, die Besserverdienenden auch mehr zu belasten. Drittens hat sie gar nichts gegen die Förderung des Wirtschaftswachstums und will erst recht nichts auf dessen Kosten den Bürgern zustecken. Aber sie ist nicht an der Macht; also macht sie das alles nicht; und so kann sie sich ganz billig mit ihrem Wählerpotential darüber einig werden, wie „unsozial und herzlos“ die Regierung denkt. So können sich die geschröpften einfachen Leute immerhin noch bei der SPD gut aufgehoben fühlen, sittlich gestärkt durch den Zuspruch, sie seien mal wieder ungerecht behandelt worden. Wie es zur Rolle einer demokratischen Opposition nun einmal gehört, schürt diese Partei die Unzufriedenheit gegenüber den laufenden Staatsmaßnahmen, um sie als schlechte Meinung über die derzeitige Regierung für sich zu funktionalisieren.

Die Vorwürfe der Opposition kontert die Regierung offensiv: Sie seien lediglich dazu geeignet, „Sozialneid“ zu schüren. Die „Umverteilungsdebatten“ müßten endlich vom Tisch; hätten sie in der Vergangenheit doch nur eines bewirkt: daß Kapitalanleger, die Deutschland so dringend benötigt, wegen der hohen Abgaben an den Staat abgeschreckt wurden. Ihrer Meinung nach muß der Bürger endlich einsehen, daß die Berücksichtigung von Kapitalinteressen nichts mit „Parteilichkeit“ für eine besondere Interessengruppe in dieser Gesellschaft zu tun hat. Dem Gewinnemachen zu dienen, ist vornehmste Pflicht der Politik auch und gerade dann, wenn sie wieder einmal private Einkommen in die Staatskasse „umverteilt“; dazu sollten sich die Politiker auch durchaus bekennen. – Die Christen und Liberalen an der Macht agitieren derzeit, als wollten sie alte marxistische Wahrheiten selbstbewußt zu ihrer ideologischen Offensive machen. Bisher war es Staatskritik, wenn einer behauptete, der Zweck des demokratischen Staates sei nichts anderes als die Beförderung der kapitalistischen Verwertung. Offensichtlich sehen es die regierenden Herrschaften inzwischen als einen unverzeihlichen Fehler an, daß sie sich bis dato so schamhaft um das Bekenntnis zu diesem Prinzip herumgedrückt haben.

Staatliche Leistungen

Ein weiterer Fehler der bundesdeutschen Politik war – nach Ansicht von Kohl & Co –, es zugelassen zu haben, daß die Bürger den Staat, dem sie ihre Steuern gezahlt haben, ganz selbstverständlich als Leistungsspender für sich angesehen haben. So kann das nicht weitergehen: Die Bürger sind Finanzquelle des Staates, aber doch nicht umgekehrt der Staat Melkkuh für Bürger. Was Kommunisten immer schon wußten, daß es sich beim Steuerzahlen nicht um ein Tauschgeschäft handelt, wird heutzutage von den Regierenden wiederum als Devise ausgegeben, nach der sich Bürger und Staat mehr richten sollten.

„Der Staat habe in der Vergangenheit zu viele Aufgaben übernommen“, kritisiert zum Beispiel Stoiber die bisherige staatliche Verwaltungspraxis und fordert „eine generelle Reduzierung der Staatsaufgaben“. Als Konsequenz kündigt er an, er werde die bayerische Verwaltung zu einem „modernen Dienstleistungsunternehmen für Bürger und Wirtschaft umfunktionieren“. Das Bild vom Dienstleistungsunternehmen Staat steht zunächst einmal für den politischen Entschluß, dem Bürger nichts mehr „umsonst“ zukommen zu lassen. Wenn er Leistungen vom Staat erhält, muß er dafür noch einmal extra zahlen. Er braucht sich nicht einzubilden, mit den diversen Steuern, die ihm abgezogen werden, habe er genug zur Finanzierung der staatlichen Verwaltung beigetragen. Die Steuerzahlungen sind Geldleistungen an den Staat, auf die der einen „hoheitlichen Anspruch“ hat. Damit sind sie weg und verplant, Ansprüche des Bürgers erwachsen daraus nicht.

Leistungen nach dem „Rentabilitätsprinzip“

In sämtlichen Bereichen der staatlichen Verwaltung wird zur Zeit neu gerechnet und umstrukturiert. Unternehmensberater durchmustern die Behörden, stellen Einnahmen/Ausgaben-Kalkulationen an, empfehlen Streichung von Personal und Leistungen, entwerfen Gebührenmodelle etc. Auf der Ebene der Kommunen ist die Reform schon recht gut vorangekommen:

Da werden Bibliotheken, Theater, Sportstätten, Freizeitheime, Krankenhäuser, Schulen, Bildungseinrichtungen etc. dicht gemacht, weil sie zuviel Zuschüsse erfordern. Lernmittelfreiheit und Schulspeisung werden gestrichen, höchstens noch gewährt, wenn die Eltern ihre Bedürftigkeit nachweisen. Was bisher zum Standard kommunaler Dienstleistungen gehörte, wird so – im Sinne der neuen Sparsamkeit – kurzerhand zu „Überversorgung“ umdefiniert.

Auf der anderen Seite werden sämtliche Tarife hochgesetzt: Von den Kindergartentarifen über die Eintrittsgelder für kulturelle Einrichtungen und Sportstätten, die Verkehrstarife und die Parkgebühren, die Abfallbeseitigungstarife bis hin zu den Gebühren für die Ausstellung von Ausweispapieren. „Kostendeckend“ soll die Verwaltung möglichst arbeiten; was aber nicht unbedingt heißt, daß damit eine Grenze nach oben gesetzt ist.

Der Kostensenkung soll auch die Einführung von Modellen der „Budgetierung und Plafondierung“ oder der „dezentralen Ressourcenverwaltung“ dienen: In einigen Stadtverwaltungen bekommen die einzelnen Ämter fixe Budgets, mit denen sie auskommen müssen, gleichzeitig aber auch bis zu einem gewissen Maße frei wirtschaften sollen. Das führt u.a. dazu, daß vor allem Personal abgebaut wird, damit wenigstens die Sachkosten aufgebracht werden können, oder auch dazu, daß Dienstleistungen gestrichen werden, die der Abteilung besonders kostenträchtig erscheinen, egal wie nützlich bzw. notwendig sie für den einzelnen Bürger oder die Gemeinde sind. Das Ganze nennt sich dann: Einführung des „Rentabilitätsprinzips“ in die Verwaltung, als wäre der Staat ein Unternehmen, das Dienstleistungen gewinnbringend verkaufen müßte. In Wirklichkeit unterwirft der staatliche Rechnungsprüfer seine Dienste, die er aus seinem Haushalt finanziert, nur einer neuen Kostenrechnung und dringt auf ihre Verbilligung für die Staatskasse. Das bedeutet: Das bisher gültige Verwaltungsprinzip einer flächendeckenden gleichmäßigen Versorgung mit staatlichen Diensten soll künftig nicht mehr unbedingt gelten, wenn streng „kostendeckend“ gearbeitet werden muß.

Für den Bürger springt bei dieser Reform des Verwaltungswesens zweierlei heraus: Erstens werden die Leistungen des Staates weniger und schlechter. Zweitens wird er geschröpft, wo es nur geht. Erklärt werden ihm diese Konsequenzen einerseits ganz brutal direkt: Hier handele es sich um eine längst überfällige Korrektur. Was der Staat bisher gemacht habe, wäre ja geradezu ein „sozialistisches Versorgungs- und Bevormundungswesen“ gewesen. Andererseits tut der Ökologiegedanke ausgezeichnete Dienste: Die Umweltsau Bürger kann nur durch empfindliche finanzielle Belastungen zur Vernunft gebracht werden. Bis zum Erbrechen wird das Argument bei der Abfallbeseitigung und in Bezug auf die Autobahngebühren strapaziert. Wobei inzwischen schon der dümmste Zeitungskommentator zwischen Vorwand und Absicht unterscheiden kann.

Ein weiterer Schlager bei der Reform der staatlichen Verwaltung ist die Privatisierung. Auf der Ideologie, die Privatwirtschaft sei effizienter als jede öffentliche Verwaltung, wird gnadenlos herumgeritten. Dabei sprechen für die Privatisierung in dieser Sphäre aus der heutigen Sicht des Staates genau zwei Argumente. Erstens: Der Staat spart sich unmittelbar Kosten, weil für Investitionen und laufende Kosten nun Privatkapital aufzukommen hat. Zweitens befreit er sich damit von diversen Verpflichtungen als staatliche Verwaltung, die er sich dank früherer anderslautender Kalkulationen aufgehalst hatte. Das gilt nicht zuletzt in Bezug auf das Personal, die vielen Beamten und den sonstigen öffentlichen Dienst.

Die angestrebte Ersparnis ist freilich mit erheblichen Übergangskosten verbunden: Übernahme von Altschulden – besonders gelungen der Beschluß, die der Bahn vom Benzinverbraucher zahlen zu lassen! –, billige Verhökerung vorhandener Sachmittel und Bezahlung des bisherigen Personals gemäß dessen erworbenen Rechtspositionen.

Auf den Bürger kommen auf jeden Fall höhere Kosten zu. Schließlich verteuern sich die Dienstleistungen, weil für die privaten Unternehmen Kosten und Gewinn hereinkommen müssen – auch wenn das einiges an Investitionen kostet wie z.B. das geplante „road-pricing“, das automatische Abkassieren pro gefahrenem Autobahnkilometer.

Selbst da, wo der Staat durch die Privatisierung erst mal gar nichts spart, im Gegenteil Schulden anhäuft, hält er daran fest, daß nur so und genau so die unbedingt nötigen Entlastungseffekte zustandekommen. Er sieht das sehr grundsätzlich. Er will von dem alten Verwaltungsprinzip herunter, nach dem der Staat bestimmte Funktionen für seine Gesellschaft garantiert und die Finanzierung per Haushalt sicherstellt. Heute hat der Standpunkt allerhöchste Priorität: Das Defizit im Haushalt muß gesenkt werden. Daß die bisher vom Staat besorgten Leistungen der nationalen Ökonomie durchaus zuträglich gewesen sind, mag zwar sein, rechtfertigt aber nicht deren Fortführung. Der Staat sieht die Sache so: Wenn etwas wirklich notwendig ist, wird sich auch schon das private Interesse bereitfinden, dafür zu zahlen. Wenn nicht, dann hat es eben Pech gehabt – bzw. wird es schon nicht so dringlich gewesen sein.

Für ihr jetziges Vorgehen haben die Reformpolitiker auch eine schöne moralische Rechtfertigung: Dadurch, daß der Staat so viele Dienstleistungen übernommen hat, habe er erstens einer „Versorgungs- und Verschleuderungsmentalität“ Vorschub geleistet; zweitens in vielen Bereichen der privaten Wirtschaft mögliche Geschäftsgelegenheiten weggenommen; also drittens Wirtschaftswachstum verhindert.

„Deregulierung“

„Hinzu komme eine übersteigerte Regelungsdichte bei den Vorschriften, ‚die in gewisser Weise zu einer juristisch-administrativen Selbstlähmung der Gesellschaft und des Staates geführt hat‘. Stoiber betonte, er wolle mit einer ‚Lean Administration‘ dafür sorgen, daß Bayern als attraktiver Industriestandort auch in Zukunft erhalten bleibt. ‚Wir brauchen eine generelle Reduzierung der Staatsaufgaben und flexiblere Regelungen.‘“ (Stoiber, HB 2.8.93)

Stoibers Warnung, die Bundesrepublik werde „an ihrer paranoiden Sorgfältigkeit ersticken“, für jedes Detail des öffentlichen Lebens werde nach Verwaltungsordnungen geschrien, ist längst parteiübergreifender Konsens. Dabei ist der Titel dieser Reformmaßnahmen „Deregulierung“ etwas irreführend: die Regierenden halten sich künftig nämlich nicht dabei zurück, Verordnungen zu erlassen. Sie geben ihnen nur einen völlig anderen Inhalt, weil sie neue Maßstäbe gelten lassen wollen.

Töpfer legt z.B. eine Gesetzesnovelle vor, die die Genehmigungsverfahren für gentechnische Anlagen und Arbeiten erleichtert: Bei Sicherheitsstufe I wird die Genehmigung durch bloße Anmeldung ersetzt. Bei Sicherheitsstufe II soll es nur noch bei denjenigen Anlagen Anhörungsverfahren geben, die wegen erhöhter Gefahr nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz genehmigungspflichtig sind. Die Beteiligung der Öffentlichkeit an Genehmigungsverfahren soll wesentlich eingeschränkt werden.

Um den Bau neuer Kernkraftwerke zu erleichtern, will er neue Sicherheits-Anforderungen ins Atomgesetz schreiben. Außerdem soll der Atomwirtschaft ein Rechtsanspruch auf Genehmigung ihrer Kraftwerke eingeräumt werden. Durch die Streichung des – nach bisherigem Recht gegebenen – „Versagensermessens“ können die Genehmigungsbehörden der Länder die Errichtung von Atomkraftwerken, Wiederaufarbeitungsanlagen oder Brennelementfabriken selbst nicht mehr ablehnen, wenn die Antragsteller alle nukleartechnischen Genehmigungsvoraussetzungen erfüllen. Bisher mußte Bonn die Länder per Weisung zwingen, die Genehmigung zu erteilen, demnächst können die Antragsteller das per Gericht selbst erzwingen.

SPD-Matthiesen (NRW) will eine drastische Beschleunigung der Zulassungs- und Genehmigungsverfahren für Abfallentsorgungsanlagen per Änderung des Bundesimmissionsschutzgesetzes sowie des Abfallrechts erreichen…

Der Grund für all diese Initiativen ist sehr einfach: Die Politik will auch hier „Investitionshemmnisse“ beseitigen. Sie befindet, die Pflege des deutschen Standorts vertrage sich nicht mit derartigen Auflagen fürs Kapital.

„Die Bundesregierung sieht die Gentechnik als eine der Schlüsseltechnologien von morgen an. Nach Prognosen sollen in der EG durch diese Zukunftsindustrie bis zum Jahr 2000 zwei Mio Arbeitsplätze geschaffen werden.“ (Seehofer, SZ 26.5.93)
„Es brauche die Option, etwa um die Mitte des nächsten Jahrzehnts Kernkraftwerke in größerem Umfang zu bauen. Damit kein ‚Fadenriß‘ bei der Fortentwicklung der Kernkraftwerkstechnik entsteht.“ (Töpfer, HB 2.7.93)

Angesichts des politischen Ziels, Deutschland zu einem attraktiven Standort für Zukunftstechnologien und modernste Technologie zu machen, baut die Politik also bisherige Standards, die wegen des Schutzes von Volksgesundheit und Umwelt bestanden haben, ab. Für den Staat gibt es zwar durchaus gute Gründe dafür, dem Kapital Schranken in der rücksichtslosen Anwendung seiner technischen Möglichkeiten zu setzen: Die Auswirkungen der Genmanipulationen auf die Volksgesundheit sind weder vorhersehbar noch deswegen von vornherein beherrschbar; ein atomarer GAU würde immerhin einen Großteil des schönen Standort Deutschland auf unabsehbare Zeit unbenutzbar machen; die hohe Bevölkerungsdichte läßt Giftemissionen auch in relativ niedrigen Dosen schon zu beträchtlichen Schädigungen an der Volksgesundheit werden. Aber diese Argumente haben jetzt zurückzustehen. Mag zwar sein, daß in einem riesigen Land wie den USA die Verseuchung ganzer Landstriche durch Gifte oder Radioaktivität viel eher zu verkraften ist als in der kleinen Bundesrepublik; mag sein, daß Länder in der Dritten Welt mit der Gesundheit ihrer Bevölkerung deswegen so lässig umgehen, weil sie sie ohnehin nicht als Arbeitskräfte benötigen; die Bundesrepublik will es sich aber nicht mehr leisten, dem Kapital schärfere Umweltauflagen zu machen, als es die konkurrierenden Nationen tun. Und deswegen kann auf die genannten Besonderheiten des deutschen Standorts keine Rücksicht genommen werden, alles andere wäre „paranoide Sorgfältigkeit“.

Dieser neue Standpunkt wird den Bürgern dadurch verständlich gemacht, daß die Regierenden sich selbst bezichtigen, die bisherigen Auflagen verdankten sich falschen Zugeständnissen an alternative Ideologien ökologischer Fanatiker. Neuer „Realismus“ ist angebracht, weswegen ein Gesundheitsminister für die Akzeptanz der gefährlichen Techniken bei der Bevölkerung dadurch wirbt, daß er ihr offen erzählt, das, was die Endverbraucher für sicherer hielten, sei auch nicht harmlos:

„Bei einem Tier und einem Lebensmittel müßte man gegenüberstellen, was wir traditionell an Stoffen einsetzen und was bei der Gentechnik stattfindet. Da würden manche Menschen ihre Beurteilung korrigieren.“ (Seehofer, FR 8.5.93)

Das haben die Lebensmittel-Skandale in den letzten Jahren und die permanente Aufdeckung immer neuer Umweltsauereien schließlich erreicht, daß sich die Menschheit daran gewöhnt hat und entsprechend abgebrüht ist. Daran kann die Politik prima anknüpfen: Wenn sowieso alles verseucht ist, dann kann man ja gleich jedes Risiko zulassen; zumal wenn sich dadurch einträglichere Geschäfte machen lassen, die uns die Konkurrenz nicht wegschnappen darf.

Zwischenfazit:

Der deutsche Staat sieht sich in einer Geldnot, die sich auch durch mehr Verschuldung nicht beheben läßt, sondern nur größer wird. Das macht ihn im Umgang mit dem Geld, das seine Bürger verdienen, radikal: Wo das verdiente Geld bloß seinen Verdiener ernährt, also bloß verbraucht wird, langt er zu, denn bloß verbrauchen kann er es besser und mit besserem Recht als sein bequemes Volk. Wo das verdiente Geld der Geldvermehrung dient, muß noch mehr hin und auf Biegen und Brechen ein gedeihliches Umfeld geschaffen werden.

Mit diesem Radikalismus wendet sich der deutsche Staat den Bedingungen zu, unter denen hierzulande das Geld vermehrt und gleichzeitig zum Verfressen ans arbeitende Volk weggezahlt wird. Daß er hier große Aufgaben entdeckt, versteht sich von der Sachlage her von selbst: Die Lohnkosten müssen gesenkt, der Grad der Ausbeutung der Lohnarbeiter erhöht werden.

Tarifrecht

„Mit immer kürzerer Lebensarbeitszeit und kürzerer Wochenarbeitszeit und immer mehr Urlaub gerät die Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr. Wir müssen überall fragen, ob wir uns noch Schlachten um Besitzstände und Ansprüche leisten können, obwohl die Wirklichkeit längst über sie hinweggegangen ist.
Wer immer die Interessen einer Gruppe vertritt – das ist legitim, und ich bin weit davon entfernt, mich jener Heuchelei hinzugeben, über Interessengruppen herzuziehen –, muß wissen, daß die Prioritäten neu bestimmt werden müssen, daß wir Gewohnheiten ändern müssen, daß Ansprüche zurückgesteckt werden müssen. Das bedeutet überhaupt nicht, daß wir dabei im Lande an Lebensqualität verlieren. Jeder weiß doch, daß die Lebensqualität nicht allein davon abhängt, ob die Arbeitswoche 35, 36 oder 40 Stunden hat.“ (Kohl, Bulletin)

Der Kanzler bekennt sich ausdrücklich zu dem Programm, gravierende Änderungen beim Lohn und den Arbeitsbedingungen vorzunehmen. Für ihn haben die Tarifpartner in den letzten Jahren sehr mißliche Entscheidungen getroffen, die jetzt korrigiert werden müssen. Er will deren Autonomie deswegen nicht gleich abschaffen, aber daß man ihrem Interessenkampf die Gestaltung der Arbeitswelt nicht überlassen kann, ist ihm auch klar. Die Gewerkschaften müssen viel mehr Einsicht in die Notwendigkeiten zeigen, die der Staat für die jetzige Situation vorgibt. – Der Vorwurf ist freilich ungerecht; denn die Gewerkschaften machen sowieso nichts anderes. Kohl ist es aber offensichtlich schon zuviel, wenn sie dabei ständig betonen, daß sie in diesen Fragen als selbstverantwortliche Arbeitnehmervertretung mitmachen und darum gefragt sein wollen. Für ihn und seine Mannschaft sind endgültig die Zeiten vorbei, wo sich die Politik die „lockere Tour“ leisten wollte, den Tarifpartnern dabei zuzuschauen, wie sie die Lohnfrage regeln.

Der Kanzler gibt auch gleich seinen Standpunkt zum Besten, was er von Ansprüchen in Sachen Lohn hält: gar nichts. Mehr Arbeiten – findet er – mindert die Lebensqualität nicht, und weniger Lohn erst recht nicht. Ein Verlust von Lebensqualität liegt nur dann vor, wenn die deutsche Nation nicht so gegenüber ihren Konkurrenten vorankommt, wie es sich die Politiker vorgenommen haben.

Neue Arbeitszeitregelung

Die Regierung beschließt ein Gesetz zur „Vereinheitlichung und Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts“, das – nach Blüm – schon deswegen kommen muß, weil die alte Arbeitszeitverordnung noch aus dem Jahr 1938 stammt:

„Es bleibt beim Grundsatz des Acht-Stunden-Tages. Der Gestaltungsraum für eine andere Verteilung der Arbeitszeit wird jedoch erweitert. Die tägliche Arbeitszeit kann auf bis zu zehn Stunden verlängert werden, wenn diese Verlängerung innerhalb eines Ausgleichszeitraums von sechs Monaten (bisher zwei Wochen) auf durchschnittlich acht Stunden ausgeglichen wird…
Die Anpassung der Grundnormen an die Notwendigkeiten des Arbeitslebens in einem gesundheitlich vertretbaren Rahmen soll durch die Tarifvertragsparteien erfolgen, sie können diese Möglichkeit an die Betriebspartner delegieren…
Das Verbot der Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen wird grundsätzlich beibehalten, als Ausnahmen werden jedoch 16 Tatbestände festgehalten (u.a.):
… wenn technische Erfordernisse eine ununterbrochene Produktion erfordern…
Erstmals werden Ausnahmen zur Sicherung der Beschäftigung vorgesehen durch Rechtsverordnung aus Gründen des Gemeinwohls oder durch Genehmigung der Aufsichtsbehörde, wenn nachweisbar die Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland wegen längerer Betriebszeiten oder anderer Arbeitsbedingungen im Ausland unzumutbar beeinträchtigt ist und durch Genehmigung von Sonn- und Feiertagsarbeit die Beschäftigung gesichert werden kann.“ (HB 14.7.93)

Die Regierung fährt damit die Früchte der Tarifpolitik der letzten Jahre ein. Die ausgehandelten Arbeitszeitverkürzungen dienten nämlich der Einführung einer flexibleren Gestaltung der Arbeitszeit. Was somit längst als Notwendigkeit akzeptiert ist, daß sich die Arbeitskräfte mit der Ableistung ihres Dienstes ganz an dem Bedarf des Kapitals zu orientieren haben, nimmt der Gesetzgeber zur Grundlage, noch eins draufzusatteln. In diesen Fragen soll das Kapital noch größere Freiheiten bekommen. Dabei ist das freie Wochenende längst kein Tabu mehr: Vom Samstag ist in Regierungskreisen nur noch als einem Arbeitstag die Rede, der wieder „in das Gesamtsystem einbezogen“ werden muß; dabei werde „die Gesamtfreizeit doch gar nicht gekürzt“ (Kohl). Als Argument dafür reicht, daß längere Maschinenlaufzeiten die Kosten senken und damit die Unternehmen schlagkräftiger gegen die Konkurrenz machen. Dem Interesse müssen sich die Arbeiter selbstverständlich unterordnen. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, was „Freizeit“ eigentlich meint: die Zeit, in der das Kapital sie aus dem Anspruch entläßt, über sie verfügen zu wollen. – Von dem Standpunkt aus werden dann auch Vorschläge bedenkenswert, daß Bauarbeiter im Winter jede Menge Freizeit haben, weswegen sie im Sommer sehr viel weniger als bisher üblich bräuchten; somit würde sich auch das leidige Thema „Schlechtwettergeld“ erledigen: Die Bauarbeiter arbeiten mehr und kriegen dafür nichts.

Wenn die Regierung zur Arbeitszeitregelung ein Gesetz beschließt, dann will sie die Tarifpartner, also die Gewerkschaft, die in dieser Frage – nach ihrem Geschmack – nicht radikal genug mitgezogen hat, vor vollendete Tatsachen stellen. Die Tarifparteien bekommen einen neuen gesetzlichen Rahmen vorgegeben. Der Staat ändert die Vorgaben, mit denen er den Umkreis gewerkschaftlicher Verhandlungsfreiheit definiert, und legt sie damit auf die neuen strengeren Ziele des Staates bei der „Arbeitszeitgestaltung“ fest. Deren Umsetzung gemäß den branchen- und betriebsspezifischen Bedürfnissen dürfen die Tarifpartner dann „autonom“ vornehmen. Blüm hat sich den Scherz nicht verkniffen, sein Vorgehen als das Gegenteil von dem vorzustellen, was es ist: Es sei getragen vom Respekt vor der Tarifautonomie. Das ist nämlich seine Tour, sämtliche Neuregelungen nicht als Umkrempelung des Bisherigen zu verkaufen, sondern als vom Geist der Kontinuität getragene geringfügige Anpassung alter Bestimmungen an die neue Situation.

Vom Standpunkt, das Tarifrecht von überkommenem sozialem Ballast zu befreien, gehören auch Schutzbestimmungen gestrichen, die Hitler in seinem Mutterschaftskult für notwendig erachtet hat:

„Das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen wird aufgehoben… Die Beschäftigungsverbote und -beschränkungen für Frauen werden außer im Bergbau unter Tage aufgehoben.“ (ebenda)

So geht Gleichberechtigung: keine Diskriminierung der Frauen durch mehr Arbeitsschutz.

Für die Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft kann aber neben der intensiveren auch die extensivere Nutzung der Arbeitskräfte nicht schaden. Wurde in den Tarifrunden die Flexibilisierung der Arbeitszeit durch Verkürzung der Arbeitszeit erkauft, so fordert die Regierung nun diesen Preis zurück. Dreimal die Woche liest man:

„Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt sprach sich erneut für eine Verlängerung der Arbeitszeit auf 40 Stunden bei gleichem Lohn in einigen Branchen aus, um der Bedrohung aus Japan zu begegnen.“ (SZ 16.8.93)

Für Beamte ist die Verlängerung der Arbeitszeit so gut wie beschlossen, die Politik möchte aber auch den öffentlichen Druck auf die Gewerkschaften erhöhen, damit sie einer Rücknahme der Arbeitszeitverkürzungen der letzten Jahre – dem ganzen Stolz ihrer Tarifpolitik – zustimmen. Die Gewerkschaft versucht sich dagegen mit bezeichnenden Argumenten zu wehren:

„Die Rückkehr zur 40 Std-Woche würde 800 000 Arbeitsplätze gefährden. Der Verlust so vieler Arbeitsplätze koste den Staat bis zu 40 Mrd. Mark (Sozialleistungen und Steuerausfall) jährlich.“ (Zwickel, IGM, SZ 26.6.93)

Nicht das Interesse der Arbeitnehmer, weniger Arbeit nehmen zu müssen, ist das Argument ihrer Vertreter, sondern eine volkswirtschaftliche Rechnung. Damit läuft die Gewerkschaft freilich bei den Regierenden voll auf:

„Er verstehe nicht, warum über eine Stunde mehr oder weniger Arbeit gestritten werde, wenn die Zukunft Deutschlands auf dem Spiel stehe.“ (Kohl, SZ 19.6.93)

Ihnen kann man nicht mit „sozialen Kosten“ etc. kommen, derer entledigen sie sich schon auf ihre Art. Sie haben sich die Verbesserung der Attraktivität des Standorts Deutschland vorgenommen. Und das heißt, dem Kapital helfen, Kosten zu sparen, wo es nur geht. Die Unternehmen in Deutschland sollen auf dem Weltmarkt ihrer ausländischen Konkurrenz überlegen sein, dafür will ihnen die Politik optimale Verwertungsbedingungen verschaffen. Es mag ja sein, daß die deutsche Wirtschaft mit den bisherigen Ausbeutungsbedingungen weltweit erfolgreich war, aber verschärfte Konkurrenz erfordert vermehrte „Anstrengungen“. Und diejenigen, die diese Anstrengungen zu bringen haben, sollten sich – nach Ansicht der Bonner Herrschaften – einmal ein Beispiel daran nehmen, was die Lohnarbeiter in Japan, Korea und Polen als Lebensqualität akzeptieren.

Tarifverhandlungen unter Gesetzesvorbehalt

Die Einmischung der Politik in Tariffragen findet aber nicht nur bei der Regelung der Arbeitszeit statt. Spätestens seit der letzten Tarifrunde ist klar: Der Staat verläßt sich nicht darauf, daß die Tarifpartner allein die für Deutschland nötigen Regelungen finden. Tarifauseinandersetzungen unterliegen öffentlicher Anweisung. Die Art und Weise der Einführung von Öffnungs- und Härteklauseln in den Tarifvertrag der Metaller in Ostdeutschland hat dies hinreichend deutlich gemacht. Die Tarifauseinandersetzung wurde begleitet von Politikerkommentaren der Art: Wenn die Tarifparteien nicht in der Lage seien, solche Regelungen zu vereinbaren, müsse eben der Gesetzgeber tätig werden.[2]

In Form der Treuhand hat der Staat sich in den Verhandlungen als Scharfmacher auf Arbeitgeberseite hervorgetan. Nach erreichtem Abschluß werden die Treuhand-Manager in den Betrieben per Brief aufgerufen, „alles zu unterlassen, was die Anwendung der Härteklausel behindern könnte“. Als Erpressungsmittel werden die zugesagten Gelder für die vereinbarten Ersatzarbeitsplätze nach dem 249 h AFG zurückgehalten, weil die Gewerkschaft sich weigert, einer größeren Anzahl von Betrieben die Härteklausel zuzugestehen.

Für die nächste Tarifrunde haben die Bonner Politiker eine Nullrunde vorgesehen und wollen mit gutem Beispiel bei den Beamten schon einmal vorangehen.

Die in allen Sozialkundebüchern breitgetretene Ideologie, das Tarifwesen wäre ein Raum, aus dem der Staat sich heraushält und dessen Ausgestaltung er den Tarifparteien selbst überläßt, widerlegt der Staat nicht nur praktisch, er sieht es als seine Aufgabe an, auch öffentlich mit diesem Irrtum aufzuräumen. Deutschland braucht für seinen Erfolg eine härtere Indienstnahme der Lohnarbeiter. Trotz all der nationalen Gesinnung, mit der die Gewerkschaft stets für das „wirtschaftlich Notwendige“ eintrat, mißtrauen die C’ler und die Liberalen diesem Verein. Sie verdächtigen ihn, noch viel zu sehr Interessenvertretung zu sein, als daß er die jetzt anstehenden Änderungen in Sachen Lohn vollzieht. Darum schaffen sie per Gesetz einfach Fakten. Mit der Einführung der Karenztage setzen sie die tariflichen Vereinbarungen über Lohnfortzahlung im Krankheitsfall außer Kraft, mit der Streichung des Schlechtwettergeldes entziehen sie wesentlichen tariflichen Regelungen im Baugewerbe die Basis.

Die damit verbundene Brüskierung der Gewerkschaft ist durchaus beabsichtigt. Konsultiert wird sie schon lange nicht mehr, jeder Vorstoß der SPD in Richtung „Konzertierte Aktion“ läuft ins Leere. Stattdessen bringen die Macher in Bonn, wo es nur geht, die Betriebsräte ins Spiel, die sich in gewerkschaftliche Aufgaben einmischen sollen. Vorstöße gab es und gibt es z.B. bei der Feststellung der Härtefallklausel oder bei der Umsetzung des neuen Arbeitszeitgesetzes. Blüm & Co gehen nämlich davon aus, daß sie sich auf die konstruktive Mitarbeit der Betriebsräte noch mehr verlassen können als auf die der Gewerkschaftsfunktionäre und daß man mit ihnen auf bequemere Weise Regelungen im Sinne der „betriebswirtschaftlichen Erfordernisse“ finden kann. Ihre Erfahrung lehrt: Gewerkschaftler haben oftmals Ambitionen, Tarifpolitik zu machen, und versuchen, ihren konstruktiven volkswirtschaftlichen (Alternativ-)Vorschlägen Geltung zu verschaffen, Betriebsräte stellen sich dagegen gleich auf den Standpunkt, das oberste Interesse der Beschäftigten müsse nun mal der Erfolg ihres Betriebes gegen die Konkurrenz sein.

Der Gewerkschaft fallen die Angriffe auf ihre Position durchaus auf. Nicht zufällig erwog sie in der letzten Zeit gleich mehrmals, ob sie vorm Bundesverfassungsgericht Klage gegen die Angriffe auf die Tarifautonomie erheben soll. Sie hat es dann aber schon deshalb nicht gemacht, weil sie nicht in den Verdacht kommen will, den „ökonomischen Erfordernissen der heutigen Zeit“ im Wege zu stehen. Stattdessen präsentiert sie sich durch und durch konstruktiv: Ihr Programm „Tarifpolitik 2000“ liest sich wie eine einzige Bitte um Anerkennung ihres Ideenreichtums in Sachen modernes Management und Bettelei um Mitbestimmung bei den betriebswirtschaftlichen Entscheidungen:

„Die IGM hat angeboten, als Beitrag zur Überwindung der Wirtschaftskrise ihre Tarifpolitik völlig neu auszurichten. Die Forderung nach hohen Lohnzuwächsen solle in den kommenden Jahren zugunsten der Durchsetzung von stärkerer betrieblicher Beteiligung, mehr Mitbestimmung und neuen Arbeits- und Leistungsbedingungen aufgegeben werden… Nicht mit Lohndumping und Arbeitszeitverlängerung, sondern mit besseren Tarifverträgen müßten Arbeitsqualität und Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden. Zwickel betonte, künftige Rahmentarifverträge sollten besser an die betrieblichen Regelungen angepaßt werden können als bisher. Dies setze ebenfalls mehr Mitbestimmung und mehr Einfluß der Arbeitnehmer auf ihre Arbeitsbedingungen voraus… Bisher habe man auch eine verantwortungsbewußte Tarifpolitik, Vertragstreue und Flächentarifverträge zu den deutschen Standortvorteilen gerechnet. Sie aufs Spiel zu setzen bedeute, die Fundamente des wirtschaftlichen Erfolgs zu untergraben.“ (HB 23.6.93)

Die Gewerkschaft täuscht sich, wenn sie meint, sie könne mit dem Verweis auf ihren bisherigen Beitrag zum Wirtschaftserfolg der Nation die Regierenden davon abbringen, sie bevormunden zu wollen. Die haben das Tarifwesen längst einer Revision unterzogen, und sie stellen die Gewerkschaft schlicht vor die Alternative: Entweder sie exekutiert das, was die politisch Verantwortlichen von ihr wollen, oder der Staat regelt die Sache selbst per Gesetz.

Dies gilt z.B. auch für den Bereich ABM-Entgelttarife. Hier sehen die Bonner Regierenden nicht mehr ein, warum weiterhin für diese Ersatzarbeitsplätze die Tarife der regulären Arbeitsplätze gelten sollen, das belaste doch nur unnötig die Staatskasse:

„Rexrodt forderte die Tarifparteien auf, als Beitrag zur Überwindung der Rezession spezielle niedrige Entgelttarife für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) zu schaffen. Gelinge das nicht, müßten wieder „Gemeinschaftsarbeiten“ eingeführt werden… Die Zahlungen sollten 80% des tariflichen oder ortsüblichen Arbeitsentgelts für gleichwertige Arbeiten nicht überschreiten.“ (FAZ 17.6.93)

Der Bundeswirtschaftsminister fordert also, daß sämtliche AB-Maßnahmen auf die Konditionen nach dem § 249 h AFG umgestellt werden; die Gewerkschaften haben sich ja bereits auf derartige Ersatzarbeitsplätze im Osten im Bereich Chemie und Metall während der letzten Tarifrunde mit den Arbeitgebern und dem Staat verständigt. Damit war der erste Schritt in Richtung Einführung von Entgelttarifen unterhalb der Normaltarife für öffentlich geförderte Arbeitsverhältnisse getan. Dieses Institut soll nun verallgemeinert werden. Die SPD plädiert schon seit langem dafür, nennt die Sache nur etwas vornehmer:

„Zweiter Arbeitsmarkt“

„Anke Fuchs (SPD) befürwortete einen ‚eigenen Lohnmarkt‘ für Beschäftigungsverhältnisse außerhalb der normalen Tarifverträge. Über die Einzelheiten der Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen, die an einem solchen Lohnmarkt entstünden, sollen sich die Tarifpartner verständigen. Die Höhe der Bezahlung müsse nicht an den Ecklöhnen gemessen werden.“ (HB 28.7.93)

Während Rexrodt mit der Drohung kommt, wenn die Gewerkschaft nicht diesen Sondertarifen zustimmt, würden gesetzlich „Gemeinschaftsarbeiten“ mit 80% Tarif-Vergütung für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger eingeführt, die an die Stelle der bisherigen AB-Maßnahmen träten, betont die SPD die Freiwilligkeit, mit der die Tarifpartner solche Lohnvereinbarungen beschließen müßten. Der Sache nach will sie natürlich wieder mal gar nichts anderes als die Regierung, verkauft ihre Vorschläge aber – ganz SPD-mäßig – als Parteinahme für die Tarifautonomie und vor allem als getragen vom Geiste sozialer Verantwortung:

„Die Spaltung der Gesellschaft in eine immer geringere Zahl von Menschen, die auf hochproduktiven Arbeitsplätzen hohe Einkommen erzielen können, und in eine immer zunehmende Zahl von nicht mehr verwendbaren ‚Sozialfällen‘ würde dadurch aufgehoben – im Prinzip könnte es (weniger produktive, aber sozial nützliche) Arbeit für alle geben.“ (Scharpf, Wirtschaftsberater der SPD, in FR 4.8.93)

„Soziale Verantwortung“ ist natürlich nicht zu verwechseln mit der Sorge um ein anständiges Einkommen; viel mehr als das Geld von der Stütze soll es nicht geben, dafür aber Arbeit. Die braucht der Sozialfall bekanntlich vordringlich, weil sie – und nicht etwa ein anständiges Einkommen – ihn wieder zum vollwertigen Mitglied dieser Gesellschaft macht.

Was die Sozialdemokraten sich unter dem Zweiten Arbeitsmarkt vorstellen, vom Staat organisierte Billig-Arbeitsplätze, die nicht nach Profitkriterien, sondern nach dem der „sozialen Nützlichkeit“ eingerichtet werden, hat den Arbeitsdienst offensichtlich zum Vorbild. Doch der – befinden die Regierenden – paßt gar nicht in die heutige Landschaft.

Hitler brauchte für sein nationales Vorhaben, die militärisch durchgesetzte Expansion Deutschlands, Gebrauchswerte wie Autobahnen und Rüstungsgüter. Gleichzeitig fand er ein ganzes Heer von zum Nichtstun verurteilten Volksgenossen vor. Deshalb überließ er die nationale Produktion nicht einfach den Gewinnkalkulationen des Kapitals, sondern unterstellte sie der staatlichen Aufsicht. Weil er die volle Nutzung der Ressource Arbeitskraft für die Erhöhung der nationalen Schlagkraft für nötig befand, organisierte der NS-Staat die Arbeit selbst und sah es als seine soziale Verpflichtung an, dafür die Massen durchzufüttern.

Auf so eine polemische Korrektur der Marktwirtschaft verfällt die Bundesrepublik nicht. Sie ist mit der freien Marktwirtschaft zur führenden Wirtschaftsmacht in Europa geworden und will weiterhin die erzeugten Abhängigkeiten der anderen Nationen zur Erweiterung ihres politischen Einflusses in der Welt nutzen. Für sie ist die gute Deutsche Mark der „Gebrauchswert“, dem sie alles unterwirft. Sie setzt darauf, daß wachsende Erträge der Privatwirtschaft ihren Nationalkredit stärken und dessen Stärke wiederum dem deutschen Staat die ökonomische Möglichkeit bietet, seine weltweiten Ansprüche durchzusetzen.

In steigenden Arbeitslosenzahlen sehen Kohl & Co darum auch keinen Schaden der Nation, sondern einen Umstand, der in Ordnung geht, weil er sich den Erfolgskalkulationen des Kapitals verdankt. Die Unternehmen rationalisieren und senken die Lohnstückkosten, um sich gegen die Konkurrenz besser behaupten zu können, also ist der Weg aus der Krise ohne Massenentlassungen nun mal nicht zu haben.

Wenn der Staat überhaupt einen Bedarf an „sozial nützlichen“ Arbeiten sieht, dann vielleicht im Bereich einiger Sanierungsmaßnahmen – insbesondere im Osten. Die werden dort auch mittels Anwendung des § 249 h AFG als Gemeinschaftswerk von Staat und Wirtschaft organisiert. Dabei ergeben sich freilich bereits Bedenken, daß diese Arbeiten damit der normalen Konkurrenz privater Geschäftemacher entzogen sind, also „möglicherweise den Markt behindern“.

Andererseits können derartig organisierte „Gemeinschaftsarbeiten“ den Kommunen oder Ländern Kosten ersparen, weil sie Arbeitskräfte unter Tarif anwenden. Darum ist die Stellung der Regierenden zu diesem zweiten Arbeitsmarkt durchaus ambivalent.

Ein Ergebnis zeitigt die Debatte und die Praktizierung des Zweiten Arbeitsmarkt bereits jetzt: Ein Beschäftigungsprogramm größeren Stils ist von den amtierenden Verantwortungsträgern nicht beabsichtigt; wohl aber ein Lohnsenkungsprogramm, das den „ersten Arbeitsmarkt“ erfassen soll. Kommunen gehen hin und entlassen einen Teil ihres Personals, um sie als ABM-Kräfte zu billigeren Tarifen wieder einzustellen. Neben dieser unmittelbaren Wirkung des Zweiten Arbeitsmarkts auf die Einkommen der Beschäftigten gibt es die mittelbare auf die Tarifpartner; die resultiert daraus, daß die Ideologie, die hohen Löhne seien der Grund für den Mangel an Arbeitsplätzen, nun allgemein durchgesetzt und anerkannt ist. Diesem Umstand werden die Gewerschaften bei künftigen Lohnfestsetzungen Rechnung tragen müssen, daran führt kein Weg vorbei.

Die Regierung verdächtigt mittlerweile öffentlich die Tarifpartner, die nötigen Billiglöhne zu verhindern, um sich anschließend zu fragen, warum sie diesem Skandal bisher tatenlos zugesehen habe:

„Wir haben ein Kartell auf dem Arbeitsmarkt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Das legt fest, wieviel jemand verdienen muß. Und wenn es keinen Unternehmer gibt, der für diesen Lohn Leute einstellt, akzeptieren wir, daß sie in Rente gehen oder arbeitslos werden.“ (Staatssekretär Eekhoff vom Wirtschaftsministerium, Der Spiegel 31/93)

So abstrus diese Verschwörungstheorie ist, daß die Tarifpartner auf Kosten des Sozialstaates Hochlohnpolitik betreiben, so deutlich wird an solchen Ausfällen die Unleidlichkeit des Staates gegenüber den gesellschaftlichen Institutionen. Wenn er nicht auf seine Kosten kommt, verdächtigt er sie sofort, die Rechte zu mißbrauchen, die er ihnen gewährt.

So wenig die Bundesregierung ein Problem damit hat, daß zur Zeit immer mehr potentielle Arbeitskraft brach gelegt wird, so sehr stören sie die Kosten, die damit auf den Sozialstaat zukommen. Hier braucht es neue Konzepte.

Sozialpolitik

Die bisherige Arbeitslosenverwaltung zeichnete sich dadurch aus, daß sie prinzipiell von der Erwartung ausging, ein Großteil der Ausgestellten werde wieder eine neue Anstellung finden. Mit Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sollten die Entlassenen wieder als attraktiveres Arbeitskräfteangebot dem Arbeitsmarkt zugeführt werden. Die Leute selber wurden zur erneuten Arbeitsaufnahme gedrängt: Die Bezüge waren deutlich niedriger als der frühere Lohn; Zumutbarkeitsregelungen und die Androhung von Sperrung der Zahlung bei unbegründeter Stellenablehnung taten ein übriges. AB-Maßnahmen sollten den Arbeitgebern ein Anreiz sein, neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Mit dem Anschluß der DDR kam eine ungeheure Anzahl zusätzlicher Arbeitsloser auf die Nation zu. Die Regierung ging aber zunächst davon aus, daß in der ehemaligen Zone auf die Dauer ausreichend neue auf Weltmarktniveau produzierende Betriebe entstehen würden. Darum ließ sie die Nürnberger Bundesanstalt dort massenhaft Kurzarbeit, Umschulungs- und AB-Maßnahmen finanzieren. Diese Erwartung ging bekanntlich nicht in Erfüllung. Die Arbeitslosenzahlen in den neuen Bundesländern steigen weiter, und die Wirtschaftsweisen prognostizieren keinerlei Besserung – weder im Osten noch im Westen Deutschlands.

Die Politik hat registriert, daß damit der bisherige Bezug der Arbeitslosenverwaltung zum Arbeitsmarkt nicht mehr existiert. Die Arbeitslosen sind keine Arbeitskräfte-Reserve für die Wirtschaft, die demnächst in Anspruch genommen würde. Daraus ziehen die regierenden Sozialpolitiker nur einen Schluß: Dann brauchen sie auch nicht mehr so zu tun, als wenn es diesen Bezug noch gäbe. Die Bundesanstalt für Arbeit verwaltet nur noch ausgemustertes, unbrauchbares Menschenmaterial. Dann können aber auch die AB-Maßnahmen drastisch reduziert, die Unterstützung für Qualifizierungsmaßnahmen im Osten gestrichen, die Eingliederungshilfe für Spätaussiedler auf ein Minimum beschränkt werden etc. Dann sind die Leistungen der Arbeitslosenversicherung tendenziell auf die bloße Auszahlung der Arbeitslosengelder zu reduzieren. Sozialexperten in Bonn schlagen bereits vor: Für Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sollen sich die Leute gefälligst privat versichern; bezüglich der Arbeitslosenversicherung handele es sich nämlich um „versicherungsfremde Maßnahmen“. Selbst die Arbeitsvermittlung sollte nicht mehr unbedingt Sache der Arbeitsämter sein; als Experiment wird die Arbeitsvermittlung in privater Hand bereits zugelassen.

Angesichts der reduzierten Funktion der Arbeitslosen wird den Regierenden umso deutlicher, daß deren Verwaltung und Versorgung für den Staat nichts als Last ist. Von der will er sich zumindest ein Stück weit befreien, kleidet das aber in eine Bemühung um Gerechtigkeit ein: Wer nicht arbeitet, dürfe nicht mehr Geld bekommen als der, der arbeitet.

Das Abstandsgebot

„Zwischen den Einkommen von Erwerbstätigen und Arbeitslosen müsse ein deutlicher Abstand sein, damit noch ein Anreiz zum Arbeiten bestehe. Gegenüber Niedriglöhnen müsse dieser Abstand bei zwanzig bis dreißig Prozent liegen.“ (Rexrodt, SZ 3.6.93)

Als ob die Leute wegen des reichlichen Arbeitslosengeldes nicht arbeiten würden; als ob eine durch noch niedrigere Bezüge verstärkte Arbeitsbereitschaft den Arbeitsplatz hervorzaubern würde. Wenn Rexrodt der fehlende Abstand stört, warum sorgt die Regierung nicht für bessere Bezahlung in den niedrigen Lohngruppen? Natürlich ist das Abstandsgebot nur der Vorwand für die Absicht, Ausgaben zu reduzieren. Der Staat kann nämlich gerade heutzutage, wo immer mehr Leute definitiv überflüssig gemacht werden, dem Spruch: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“ viel abgewinnen:

„Die Sätze des Arbeitslosengeldes werden degressiv gestaltet. Am Anfang beträgt das Arbeitslosengeld wie bisher 68% für Arbeitslose mit Kindern und 63% für Arbeitslose ohne Kinder. Diese Sätze werden vierteljährlich um einen Prozentpunkt gesenkt, bis das Arbeitsgeld nach einjähriger Bezugsdauer 64% oder 59% des vorherigen Nettoarbeitsverdienstes beträgt.“ (FAZ 12.8.93)

Wer will Waigel da noch „soziale Härte“ vorwerfen, wo er sich mit seinem Sparpaket doch alle Mühe gibt, den Betroffenen die Gewöhnung an die Armut zu erleichtern? Genauso ungerecht ist es, ihm – wie es Gewerkschaftskreise getan haben – die Verletzung des Grundrechts auf Eigentum vorzuwerfen, weil er erworbene Ansprüche einfach wegnehme. Diese Leute sind offensichtlich auf die früher gängige Sozialkundeideologie hereingefallen, die „Risikenvorsorge“ sei in unserem Sozialstaat nach dem „Versicherungsprinzip“ organisiert. Praktisch hat der Staat das immer schon anders gehandhabt: Die Einnahmeseite war ganz getrennt von der Ausgabenseite. Die Gelder, die er abkassierte, betrachtete er als seine Finanzmittel, über die er hoheitlich verfügte. Die Versicherungsleistungen kalkulierte er danach, wieviel er sich leisten wollte. Solange nicht allzuviel Leistungsempfänger anfielen, fiel das nicht weiter auf; und die Ideologie vom Versicherungsprinzip tat ihre Dienste.

Nachdem sich die Lage gründlich geändert hat, verdirbt besagte Vorstellung nur die Moral der Leute. Die Zwangsversicherten sollen nämlich nicht meinen, sie hätten einen Anspruch auf „Gegenleistung“. Vielmehr sollen sie einsehen, daß sie als Leistungsempfänger Kostgänger des Staates sind, die der Gesellschaft auf der Tasche liegen. Sie haben also dankbar zu sein, wenn sie überhaupt etwas kriegen.

Für die Langzeitarbeitslosen wird der soziale Abstieg beschleunigt:

„Die Arbeitslosenhilfe, die Bedürftigkeit voraussetzt, wird um 3% beschnitten. Arbeitslosenhilfe wird nur noch bis zu höchstens zwei Jahren gewährt. Den Anspruch auf Arbeitslosenhilfe verlieren jene, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben haben.“ (ebenda)

Wer keine Aussicht auf Anstellung hat, muß von der Sozialhilfe leben, also mit dem Existenzminimum, das der Staat festsetzt, auskommen. Dabei muß natürlich auch hier das Abstandsgebot gelten: Sozialhilfe muß auf jeden Fall deutlich unter dem durchschnittlichen Arbeitslosengeld liegen, weil in deren Genuß ja Leute kommen, die noch nie einen nennenswerten Beitrag an der Arbeitsfront geleistet haben oder deren Beitrag schon lange zurückliegt.

„In den Gesetzentwürfen ist vorgesehen, die Sozialhilfe vom 1. Juli 1994 bis zum 30. Juni 1995 auf dem bestehenden Niveau einzufrieren. Danach sollen die Sätze um 3%, maximal jedoch entsprechend der Nettolohnentwicklung, angehoben werden.“ (SZ 10.8.93)

Wenn Wohlfahrtsverbände gegen diese Regelungen einwenden, man könne schon bisher von den Sätzen der Sozialhilfe kaum leben, rührt das den Staat überhaupt nicht. Für ihn sind die Zeiten vorbei, wo sich der Sozialstaat rühmte, bei ihm gebe es keine wirkliche Armut. Auch wenn das nie gestimmt hat, immerhin ließ der Staat diesen Maßstab gelten. Heute hat er einen ganz anderen: Der Sozialstaat ist eine Last, ein Luxus; eigentlich muß man sich wundern, daß sich der Staat ihn überhaupt noch leistet:

„Schlagworte wie ‚Sozialabbau und Armutsfalle‘ hülfen nicht weiter. Rund 36,5% des Haushalts von fast 480 Mrd. Mark gebe der Bund für die soziale Sicherung aus.“ (Waigel, FAZ 12.8.93)

Ganz schön viel Geld! – und keinesfalls ein Hinweis auf die Masse an Armen, die die kapitalistische Gesellschaft produziert. Da kommt ja schon fast der Verdacht auf, daß das gesunde Verhältnis, wo die Bürger durch ihre Arbeit einen Reichtum erwirtschaften, von dem der Staat sich seine Mittel abzwackt, auf dem Kopf steht: Die Leute lassen sich’s gutgehen auf Kosten des Staates!

„Dem Bürger müsse bewußt gemacht werden, daß die in den letzten Jahren entstandene ‚Vollkaskomentalität‘ nur dazu führe, durch ständig neue Sicherungssysteme in eine zunehmende Abhängigkeit und auch Unmündigkeit gedrängt zu werden. Deshalb müßten Eigenverantwortlichkeit und Eigenvorsorge wesentlich verstärkt werden.“ (Kinkel, HB 9.8.93)
„Im Prinzip gebe der Staat zuviel finanzielle Mittel im Bereich der Sozialhilfe aus. ‚Der Druck, selber zu arbeiten, muß verstärkt werden.‘“ (Stoiber, HB 2.8.93)

Angesichts dessen, daß immer weniger Menschen sich per eigener Arbeit ihr Leben sichern können, immer mehr also auf Sozialleistungen angewiesen sind, erklärt der Staat, daß so der Sozialstaat nicht funktionieren kann. Er besteht darauf, daß jeder einzelne für seinen Lebensunterhalt „selbst zuständig“ ist, sprich von den staatlich verwalteten Lohnteilen erheblich weniger zu erwarten hat. So wird auch der Begriff „Solidargemeinschaft“ umgewertet. Stand er früher einmal dafür, daß die Arbeitenden für die einstehen, die nicht arbeiten können, ist heute das Gebot der Solidarität, den anderen nicht zur Last zu fallen:

„Eigenverantwortung“

Der Staat macht also gerade denen, die Opfer der Marktwirtschaft sind, den Vorwurf, schmarotzen zu wollen. Kohl und Blüm lassen keine Gelegenheit aus, die Lüge in die Welt zu setzen, Sozialhilfeempfänger seien Leute, die vor die Wahl gestellt, für niedrigen Lohn zu arbeiten oder ohne Arbeit von der Stütze zu leben, sich für den „bequemen“ Weg des Nichtstuns entschieden hätten. Damit stellen sie klar: Für sie ist der Bezug von Sozialhilfe im Prinzip Mißbrauch.

Daraus ergeben sich zunächst einmal weitere Zumutungen. Die Leute haben jede Arbeit zu akzeptieren, egal wie schlecht die Bedingungen sind oder wie mies die Bezahlung ist. Neu geregelt ist: Wer Sozialhilfe bezieht, obwohl er Arbeit finden könnte, dem soll (bisher „Kann-Vorschrift“) die Sozialhilfe gekürzt werden. Die „Hilfe zur Arbeit“ (§ 20 BSHG) soll sich in Zukunft auch auf Stellen erstrecken, die von normalen Arbeitskräften wahrgenommen werden (Wegfall des „Zusätzlichkeits-Kriteriums“), damit die Arbeitsbereitschaft in größerem Stil getestet werden kann. Der Sozialdezernent von Hannover erzählt in dem Zusammenhang der Zeitung stolz seinen Einfall: Er plane, die Gewährung von Sozialhilfe davon abhängig zu machen, daß der Klient den Nachweis führe, sich sechs mal pro Monat um Arbeit bemüht zu haben. Gelinge ihm das nicht, bekomme er erst mal kein Geld mehr. Er rechne damit, daß diese Auflage einen Teil der Klientel abschrecke, überhaupt einen Antrag auf Sozialhilfe zu stellen.

Das Prinzip „Eigenverantwortung“ dient den Sozialpolitikern aber nicht nur zur Legitimation der Kürzung des Lebensunterhalts bei sozialer Bedürftigkeit, es ist universal verwendbar. So nennt sich etwa das Sondergutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: „Krankenversicherung im Jahr 2000 – Solidarität und Eigenverantwortung bei sich ändernden gesundheits- und sozialpolitischen Rahmenbedingungen.“ Und Rexrodt entwickelt aus ihm folgende Maßnahmen:

„– eine Reform des Beitragssystems mit grundlegender Verankerung des Prinzips der Regel- und Wahlleistungen und damit eine stärkere Selbstbeteiligung der Versicherten;
– die Durchforstung und deutliche Verkleinerung des Leistungskatalogs der Krankenversicherer; dabei geht es um die Ausgliederung von Leistungen, die der einzelne in eigener Verantwortung tragen kann;
– die generelle Einführung der Kostenerstattung anstelle des Sachleistungsprinzips.“ (Rexrodt-Papier, 29.6.1993)

Der Wirtschaftsminister möchte so der „steigenden Präferenz für Gesundheitsleistungen“ entgegenwirken. Die Bürger haben – seiner Ansicht nach – die Sorge des Staates um die Volksgesundheit falsch verstanden und seien der Auffassung, sie hätten einen Anspruch auf sämtliche medizinisch möglichen Linderungen ihres Verschleißes und ihrer Gesundheitsschäden. Natürlich ist auch das eine maßlose Übertreibung, eher sucht das Gros der Menschheit den Arzt erst dann auf, wenn es nicht mehr anders geht, aber es erhellt den Standpunkt der heutigen Gesundheitspolitik. Nachdem die Bevölkerung dem Staat ohnehin zunehmend mehr als Last erscheint, kommt es ihm auf die Gesundheit seines Volkskörpers auch nicht mehr so an. Er erfindet den Begriff

„Grundversorgung“

und erklärt damit eine Reihe bisher üblicher und als notwendig erachteter Leistungen im Gesundheitsbereich zum Luxus. Ist diese Unterscheidung erst einmal gemacht, eröffnet sich die Freiheit der Sortierung, welche Leistung in welche Kategorie einzuordnen ist. Ob Brille, Zahnprothese oder Schmerztabletten, immerzu stellt sich die Frage: Braucht der Mensch das unbedingt? Wenn die Seehofers beschließen: nicht, dann kann niemand die Krankenkasse mehr dafür strapazieren. Wenn der Bürger es sich leisten kann, kann er sich die Dinge ja aus eigener Tasche kaufen oder eine Privatversicherung abschließen, die solche Leistungen noch vorsieht. Umgekehrt heißt das nicht, daß die Leistungen, die die Kasse noch trägt, kostenlos sind. Eine möglichst hohe Selbstbeteiligung schärft den Sinn fürs absolut Notwendige. Und als doppelte Sicherung soll eingebaut werden, daß der Patient keine Sachleistungen mehr erhält, sondern nur noch Kosten erstattet bekommt. Schon die bereits eingeführten ersten Regelungen dieses Programms haben neben der Kostensenkung bei den Krankenkassen das Ergebnis gezeigt, daß sich Ärzteschaft und Patienten mühelos auf den rigoroseren Umgang mit der Krankheit und den Gebrechen einstellen.

Gesundheitspolitiker hat das in ihrem Einfallsreichtum beflügelt. U.a. ist der Vorschlag der „Teilkrankschreibung“ wieder aufgekommen, wonach bei Krankheit die funktionsfähigen Körperteile weiterhin zur Arbeit benutzt werden müssen. Da mochten die Arbeitgeber nicht zurückstehen:

„Handwerkschef Späth schlug eine Einkommenskürzung um 20% bei Krankheit vor. So könnten die Lohnnebenkosten dauerhaft gesenkt …werden. Wer wegen Krankheit nicht arbeitet, könne nicht das gleiche Geld bekommen wie ein Arbeitender. ‚Unser Lohnfortzahlungsprinzip verführt geradezu zum Nichtarbeiten.‘“ (SZ 22.7.93)

Der Mann führt vor, wie – bei Anwendung der neuen Maßstäbe – die sozialstaatlichen Leistungen immer fragwürdiger werden. Wenn das Prinzip gelten soll, nur wer arbeitet, soll ein Auskommen haben, dann sind die „Sicherungen gegen die Lebensrisiken“ – wie die Sozialkundler das Leistungssystem früher nannten – eine einzige Verführung zum Nichtarbeiten. Späths Ideal ist es offensichtlich, das Sozialversicherungssystem gründlich zu revidieren. Dieser Standpunkt, der der Politik ja nur abgeschaut ist, kommt aber nicht als revolutionäre Veränderung, als grundsätzlicher Angriff auf sämtliche etablierten sozialstaatlichen Prinzipien daher. Nein, mag es der Sache nach so etwas sein, genau das wird dementiert. Dafür hat man den Begriff

„Umbau des Sozialstaates“

geprägt:

„Der Umbau des Sozialstaates hat nicht das Ziel, das ‚soziale Netz zu zerschneiden‘, sondern sei im Gegenteil darauf gerichtet, dieses auch in Zukunft tragfähig zu halten.“ (Kinkel, HB 9.8.93)

Das Dementi haben diese Leute schon nötig, weil allzu offenkundig ist, daß nichts mehr vom bisherigen Sozialversicherungswesen bleibt, wie es war. Auch sämtliche ideologischen Titel für die Prinzipien des Sozialstaats haben die rechten Reformer nicht nur aus dem Verkehr gezogen, sondern bekämpfen ihren alten Inhalt als falsches (Anspruchs-)Denken. In ihren neuen Sprachregelungen zum Solidarprinzip und zur Eigenverantwortung machen sie theoretisch, mit ihren neuen Regelungen praktisch klar, daß sie sich neu zu der bisherigen Sozialstaatsfunktion stellen: Bisher galt es, den Umstand zu kompensieren, daß der Lohn nicht als Lebensmittel für das ganze Leben eines Lohnarbeiters taugt.[3]

Einen Teil des „v“ (die Geldsumme, die in dieser Gesellschaft an Lohn gezahlt wird) hat der Staat darum gleich an der Quelle abkassiert und zwangsverwaltet. Einen Teil der Gelder verausgabte er dann als Leistungen in Situationen, in denen kein Lohn anfiel. So wurden aus „v“ doch noch die Geldmittel, die nötig waren, um die Funktionsfähigkeit der ganzen Klasse – dazu gehören die Alten, Kranken, die Reservearmee und die Pauper – sicherzustellen. An dem Verfahren hat der Staat inzwischen in mehrerer Hinsicht Kritik: Erstens langen die eingesammelten Gelder nach staatlicher Kassenlogik nicht, das bisherige Leistungsniveau zu garantieren, weil immer mehr Sozialfälle anfallen. Zweitens hat er selber einen hohen Finanzbedarf, weswegen er das von ihm verwaltete Geld nicht unbedingt im Sozialbereich verplempern will. „Staatliche Zuschüsse“ aus seinem Haushalt kommen schon gar nicht in Frage. Drittens würde eine Beitragserhöhung die Unternehmen in ihrer Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt zu sehr belasten. Viertens ist die Funktionsfähigkeit der gesamten Bevölkerung als brauchbares Arbeitermaterial gar nicht mehr so dringend erforderlich, ein Großteil wird ohnehin nicht benutzt. Das sind die Kriterien für den Umbau. Der neue Sozialstaat sieht dann folgendermaßen aus: Der Staat entschließt sich erstens, einen Teil seiner Bevölkerung als unbrauchbar abzuschreiben. Er sortiert zwar niemanden aus, aber klar ist, daß unter den neu verordneten Existenzbedingungen für die Sozialfälle auf die Dauer der Prozentsatz der Leute, die vergammeln, steigt. Zweitens heizt er den Aussortierungsprozeß dadurch an, daß er bereits das normale Über-die-Runden-kommen bei immer höheren Preisen und immer weniger Lohn zu einer Sache macht, die viel Selbstdisziplin erfordert. Drittens leistet sich der Staat nur noch ein Minimum an Sozialleistungen, so daß die „Wechselfälle“ des Lebens nur der übersteht, der es geschafft hat, sich beizeiten finanzielle Reserven anzulegen. Viertens überläßt er die Betreuung der Armut weitgehend privater Mildtätigkeit, in erster Linie natürlich der lieben Familie.

SPD und linke Menschenfreunde kommen der Regierung gerne mit dem Vorwurf: Sie betreibe den Abbau des Sozialstaats. Diese Kritik erfüllt den Tatbestand der Beschönigung – bei der SPD zusätzlich den der Heuchelei, weil sie die wesentlichen Regelungen mitträgt, in dem einen oder anderen Punkt sogar Vorreiter ist. Bei dem „Abbau“-Gerede wird so getan, als hätte der Sozialstaat bisherigen Typs reine Mildtätigkeit im Auge gehabt. Dabei war er ein sehr funktionelles Armutsverwaltungssystem, mit dem der Staat die Benutzbarkeit seiner Lohnarbeiterklasse sicherstellte. Und genau diese Funktionalitätserwägungen haben sich geändert. Deswegen krempeln die heutigen Reformer das alte System gründlich um. Was dabei dann für Maßstäbe gelten, wollen die Abbau-Jammerer auch wieder gar nicht wissen, geschweige denn kritisieren. Lieber machen sie Willkür, Hartherzigkeit oder Klüngelei der Reichen aus. Gegen Konkurrenzfähigkeit deutschen Kapitals, nationalen Wirtschaftserfolg, harte DM und weltweite deutsche Verantwortung haben sie ja ohnehin nichts.

Als Vorbild für den Umbau des Sozialstaates wird von den maßgeblichen Sozialpolitikern das Projekt

Pflegeversicherung

bezeichnet. Und in der Tat weisen die diesbezüglichen Regelungen sehr deutlich auf die neu geltenden Maßstäbe im Sozialbereich hin.

Das fängt schon an bei der Entdeckung der „Versorgungslücke“: Blüm erzählte monatelang im Fernsehen mit treuherzigem Blick, unsere gut situierte Gesellschaft hätte die Pflegebedürftigen ganz vergessen. Deren soziale Absicherung bedürfe dringend einer neuen Versicherung. Dabei wurden entsprechende Leistungen bisher von Krankenkasse und Sozialhilfe finanziert. Blüms ganze Absicht ging bloß dahin, diese Kassen entsprechend zu entlasten.

Mit dem Projekt einer neuen Versicherung – behauptete er weiter – ergebe sich ein Finanzierungsproblem, nämlich für die Wirtschaft. Das so zu sehen, war auch wieder eine politische Entscheidung. Schließlich ist die Finanzierung sämtlicher Sozialversicherungen bisher eine klare Sache gewesen: Lohnabhängige und Kapitalisten zahlen hälftig die Beiträge ein. Deren Höhe berechnet sich nach den zu erwartenden Kosten für zu gewährende Leistungen. Der Staat steht gegebenenfalls für Fehlkalkulationen vorübergehend mit seiner Steuerkasse ein. Ein Problem ergibt sich jedoch dann, wenn man einerseits den Beweis führen will: „An unserem Sozialsystem wird nichts grundsätzlich geändert, Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden solidarisch in die Pflicht genommen“, andererseits aber einen Horror vor Steigerung der Lohnnebenkosten hat, zusätzliche Lasten für die Arbeitgeberseite also für völlig untragbar hält. Die geniale Lösung heißt: Die Beiträge werden hälftig entrichtet, aber für die zusätzlichen Kosten müssen die Arbeitgeber selbstverständlich auf Kosten der Arbeitnehmer entlastet werden.

Was dann an Entlastung der Arbeitgeber von Kosten ins Gespräch gebracht wurde, hatte mit der Pflegeversicherung gar nichts zu tun. Die Pflegeversicherung gilt nur als Aufhänger, neue Vorschläge zur Senkung der Lohnkosten ins Gespräch zu bringen.

„Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber hat zur Finanzierung der Pflegeversicherung eine Kombinationslösung aus Absenkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und einem ‚Mehrarbeitsmodell‘ ins Gespräch gebracht. Nach Ansicht Stoibers könnte jeder Arbeitnehmer acht Stunden pro Jahr zusätzlich für die Pflegeversicherung arbeiten, teilte die Staatskanzlei mit. Statt der Mehrarbeit könnte wahlweise ein Urlaubstag für die Pflegeversicherung eingebracht werden.“ (SZ 21.7.93)

Den Einfall, Feiertage zu streichen, lehnte er ab: Damit würde man sich nur wieder um die Notwendigkeit eines gründlichen Umbaus des Sozialstaates herumdrücken. Kein Zweifel: Sollte der Vorschlag eines anderen C’lers – Finanzierung per Erbschaftssteuererhöhung – durchkommen, Stoiber wäre nach wie vor für Einführung von Karenztagen und Verlängerung der Jahresarbeitszeit.

Neugestaltet wird auch die Leistungsseite:

„Die Leistungen richten sich nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit. Vorgesehen sind drei Pflegeklassen. Bei häuslicher Pflege kann zwischen einem Pflegegeld oder Sachleistungen einer sozialen Einrichtung gewählt werden. Bei Sachleistungen werden die Aufwendungen zwischen 750 Mark und 2100 Mark monatlich gestaffelt, das Pflegegeld zwischen 400 und 1200 Mark monatlich. Die Kosten einer Urlaubsvertretung für die häusliche Pflegeperson werden einmal jährlich bis zu 2100 Mark gedeckt. Bei stationärer Pflege trägt die Versicherung die pflegebedingten Kosten bis zu 2100 Mark, für Unterkunft und Verpflegung haben die Pflegebedürftigen oder deren Angehörigen selbst zu sorgen. Personen, die die häusliche Pflege übernehmen, werden sozial gesichert, u.a. haben die Pflegekassen Beiträge zur Rentenversicherung zu entrichten.“ (FAZ 24.6.93)

Blüm hat hier in sehr radikaler Weise das „Deckelungsprinzip“ angewandt, das in sämtlichen Sozialbereichen auf dem Vormarsch ist: Die staatlichen Geldleistungen werden nicht mehr danach berechnet, was die benötigten Dienste kosten, sondern was der veranschlagte Posten im Sozialetat hergibt. Die vom Staat bereitgestellte Geldsumme wird also anteilig auf die zu erwartenden Kostenerstattungsanträge aufgeteilt. Aus dem daraus errechneten Satz werden die gesetzlichen Ansprüche dann festgelegt. Das führt im Falle der Pflegeversicherung zu folgender Situation:

„…daß zum Teil beträchtliche Lücken klaffen, weil ein Pflegeplatz im Heim im Durchschnitt 4000 Mark kostet, ambulante Hilfe rund um die Uhr 13 000 bis 18 000 Mark. Den Schwerstpflegebedürftigen, die zu Hause leben, wird die Versicherung knapp drei Stunden Versorgung bezahlen können, die übrige Summe müssen die Betroffenen selbst aufbringen oder Sozialhilfe beantragen.“ (SZ 5.8.93)

Ob die Kommunen nach der Einführung der Pflegeversicherung die Differenz dann noch zahlen, ist gar nicht sicher. Fest steht auf jeden Fall, daß die Versorgung der Pflegebedürftigen, die nicht täglich, sondern nur ein paar Mal die Woche fremde Hilfe benötigen, der Posten sein wird, den die Kommunen als ersten streichen:

„Die Sozialhilfe folgt dem Wortlaut des Pflegegesetzes: Bei sporadischer, nicht täglicher Pflege kann sie die Kosten übernehmen. Sie muß aber nicht.“ (ebenda)

Die „Jahrhundert-Reform“ wälzt also einen Großteil der Kosten auf die Betroffenen und ihre Angehörigen ab. Letztere bekommen, wenn sie sich ganz in den Dienst der Pflege stellen, zwar kein Geld für ihre Arbeit, dafür aber eine mickrige Rente in Aussicht gestellt. Der Staat läßt sich nämlich nicht lumpen!

Die Reformpolitik im Bereich des Sozialstaats macht deutlich, was es heißt, wenn der Staat sein Verhältnis zur Gesellschaft konsequent unter den Gesichtspunkt der Haushaltssanierung und Standortpflege stellt.

Wenn er seine Mannschaft danach begutachtet, was sie ihm jeweils für sein derzeitiges Anliegen Nr. 1 „Stärkung der DM“ bringt, erweisen sich all diejenigen, die Sozialleistungen benötigen, als lästige Kostenverursacher. Wenn er sie deswegen sich selbst überläßt, rechnet er zugleich damit, daß nicht unbedingt alle diesen verschärften Anforderungen an ihre moralische Gefestigtheit gewachsen sind. Also richtet sich die oberste Gewalt darauf ein, daß von ihr größere Anstrengungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung erbracht werden müssen.

Mit der Leistung derjenigen, die noch ihren Platz im aktiven Wirtschaftsleben haben, ist der Staat freilich auch nicht ganz zufrieden. Gemessen an seinen Ansprüchen bringen sie zuwenig Wirtschaftswachstum zustande. Das führt zu dem Verdacht, sie betrachteten den Staat als ein Unternehmen, das zu ihrem privaten Nutzen da sei, und nicht als die Instanz, für die sie nützlich sein sollen. Um diesen Mißstand abzustellen, braucht der Staat schon wieder mehr Kontrolle über seine Bürger.

Das veranlaßt die Führer der Nation zu ein paar prinzipiellen sowohl theoretischen als auch praktischen Klarstellungen in Sachen:

Rechtsstaat

Zu Zeiten, als die Sozialliberalen am Ruder waren, propagierte der Staat von sich das Bild einer hilfreichen Einrichtung für den mündigen Bürger, die den Streit zwischen den divergierenden Interessen mit ausgleichender Gerechtigkeit schlichtet und so die Privatautonomie sichert. Natürlich brauchte er dafür souveräne Gewalt, aber selbst deren hoheitlicher Charakter sollte zugunsten der Hilfestellung für Problemfälle zurücktreten. Im Strafrecht beispielsweise hatte darum der Gedanke der Resozialisierung Konjunktur.

So ideologisch diese Selbstdarstellung auch war, erhellend ist der Vergleich mit der Version, die von der jetzigen Regierung ausgegeben wird:

„Die CDU will einem von ihr ausgemachten verzerrten Freiheitsverständnis in der Gesellschaft eigene Leitbilder entgegensetzen. Sie will für eine Gesellschaft des Gemeinsinns, der Freiheit und der Verantwortung eintreten. Göhner (Vorsitzender der Grundsatzprogramm-Kommission) kritisierte einen Rückzug ins Private und damit auch Egoistische… Dieses einseitige Freiheitsverständnis wolle die Partei korrigieren.“ (SZ 22.12.92)
„… die CDU werde die wehrhafte Demokratie neu buchstabieren, bevor es zu spät ist.“ (Hintze vor CDU-Grundsatzforum)
„Innenminister Kanther sagte, die Union müsse ‚Sicherheit und Ordnung zu unserem Markenartikel machen‘.“ (SZ 20.8.93)

Programmatisch bekennen sich die rechten Reformer dazu, den Staat wieder mehr als die Instanz herauszukehren, die von den Bürgern Dienst und Unterordnung verlangt. Die Untertanen sollen nicht einfach ihre Interessen verfolgen dürfen – das würde ja dem Egoismus Vorschub leisten. Der Staat möchte bei all ihren Betätigungen bitte schön auch seinen Nutzen gesichert sehen. Seine gegenwärtige Lage bestärkt ihn in dem Urteil: Die Gnade der Gewährung privater Freiheit wird auf seiten der Bürger gar nicht als Verpflichtung ihm gegenüber verstanden; „Privatautonomie“ gerät darum, statt zur Garantie, zu einer Gefahr des nationalen Erfolgs. Mehr Kontrolle ist also angebracht, mehr Bekämpfung des Mißbrauchs der Gesetze, mehr Wehrhaftigkeit gegenüber denen, die der Nation schaden. Daß es sich bei dem Verhältnis Staat/Bürger um ein Gewaltverhältnis handelt, sollten Politiker nicht mehr schamhaft vertuschen, sondern dazu stehen.

Die praktischen Konsequenzen dieses Standpunkts werden z.B. an der Bekämpfung der „organisierten Kriminalität“ deutlich. Das Thema ist längst zum Dauerbrenner geworden, mit dem Politik und Medien die Bevölkerung unterhalten. Dabei geht es zunächst einmal darum, daß

der „große Lauschangriff“

bundesweit eingeführt werden soll – in den meisten Ländern ist er in den letzten Jahren bereits gesetzlich verankert worden. Den Sicherheitsbehörden soll damit erlaubt werden, Leute auch in ihren Wohnungen abhören zu dürfen. Daß das bisher nicht praktiziert wurde, ist zwar nicht glaubwürdig, aber mit dieser neuen Gesetzesregelung können die auf diese Weise sichergestellten Beweismittel nun auch verwandt werden und haben vor Gericht Bestand. Die Politik weiß, daß sie damit hochoffiziell ein bisher geltendes Grundrecht, die Unverletzlichkeit der Wohnung, außer Kraft setzt. Wie wenig dieses „subjektive Recht“ den Staat in seiner polizeilichen Arbeit behindert hat, erzählt einem sogar die Süddeutsche Zeitung:

„Wohnungen werden durchsucht, ohne daß irgendwelche Statistiken darüber geführt werden; die Polizei erspart es sich in den meisten Fällen überhaupt, eine richterliche Genehmigung einzuholen – sie durchsucht wegen angeblicher Gefahr im Verzuge. Ähnliche Mißachtung des Grundrechts zeigt sich bei den Telephonabhörungen…“ (SZ 22.8.93)

Die bisherige Praxis reicht dem Staat aber nicht. Und zwar nicht deshalb, weil ihm zuviele organisierte Verbrecher durch die Lappen gehen, sondern weil er prinzipiell nicht einsieht, warum es diesen Schutz der Privatsphäre noch braucht: Wer nichts zu verbergen hat, kann sich auch getrost überwachen lassen. Wer was zu verbergen hat, der mißbraucht sowieso das ihm gewährte Grundrecht. Vom heutigen Anspruchsdenken des Staates aus erscheint das Grundrecht geradezu als eine Zumutung für den Staat, behindert es ihn doch in seiner polizeilichen Aufgabe:

„Seiters: Es dürfe keine Sicherheitsdefizite geben. Die Sicherheit der Bürger sei mit allen Mitteln zu gewährleisten… Zachert (BKA) hat davon gesprochen, daß man die Wohnung als einen Täterfreiraum aufbrechen müsse.“ (SZ 3.4.93)

Ein juristischer Kopf alter Schule wie der SZ-Kommentator Prantl stutzte Anfang des Jahres angesichts solcher Entschlossenheit ein wenig:

„Mit allen (!) Mitteln? Wenn das wirklich so ist, dann gibt es noch viele andere Mittel, die auch sehr zweckmäßig und sehr nützlich sein könnten. Schauen wir doch nur in die Strafprozeßordnung: Die ganze StPO ist eine Sammlung von Unzweckmäßigkeiten und Unnützlichkeiten… Wem z.B. nutzt das Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten? Wem nutzt das Zeugnisverweigerungsrecht des Angehörigen? Immer ist es der Beschuldigte, der Verdächtige, der potentielle Straftäter, der davon profitiert. Und immer ist es die Effektivität der Strafrechtspflege, die unter solchen Rechten leidet…“ (SZ 3.4.93)

Inzwischen mußte er zur Kenntnis nehmen, daß man mit dem „Geist der StPO“ die regierenden Rechtsstaatsreformer nicht überzeugen und stoppen kann. Für sie ist es keine „Perversion der Rechtsstaatlichkeit“, sondern eine Bemühung um ihre „zeitgemäße Ausgestaltung“, wenn sie sämtliche Rechte von Beschuldigten und Verdächtigten nur daraufhin begutachten, ob sie den Sicherheitsbehörden die Arbeit erschweren. Und der gute Pressemann muß resigniert im Sommer 1993 feststellen, daß die schönen StPO-Bestimmungen nach und nach immer mehr durchlöchert und revidiert werden.

Als Grund für seine Neuregelungen nennt der Staat die Gefährlichkeit und technische Raffinesse der „organisierten Kriminalität“, die ihn zwinge, Waffengleichheit mit den Verbrechern herzustellen. Die einschlägigen Änderungen stellt er darum auch unter den Titel: „Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität“, kurz OrgKG. Man muß nicht Kommunist sein, um zu wissen, daß das „eine Tarnkappe“ (Prantl) ist. Wenn der Staat sich erst einmal per Gesetz sämtliche Freiheiten in der Überwachung seiner Bürger genehmigt hat, setzt er diese Mittel auch überall da ein, wo er es für notwendig erachtet. Es ist ja schließlich nicht so, als wäre sein Kontrollbedürfnis nicht immens gewachsen. Wenn er an allen Ecken und Enden Mißbrauch entdeckt – bei Steuern, Sozialleistungen, Subventionen etc., dann werden seine Sicherheitsbehörden schon hinreichend Anwendungsmöglichkeiten dieser neuen Freiheiten finden.

Immerhin hat der Innenminister bereits vorsorglich die gesetzliche Ermöglichung der datenmäßigen Zusammenarbeit sämtlicher Behörden auf die Liste seiner Agenda gesetzt. Bei seinen neueren Überlegungen zu Gesetzesänderungen ist auch die Trennung der Arbeiten von Polizei und Geheimdiensten kein sinnvoller Wert mehr. Was stört es ihn, daß dies einmal als Scheidelinie zwischen Demokratie und Diktatur galt?

In der Öffentlichkeit taucht nicht selten das böse Wort vom „Polizeistaat“ auf, der uns angesichts des Eifers der Law & Order-Politiker drohe. Denen selbst scheint das gar nicht so unlieb zu sein, weil sie die Klarstellung für längst überfällig halten, es könne doch nichts Falsches daran sein, wenn der Staat sich mit allen verfügbaren Mitteln gegen Unrecht wehrt. Also dürfe man gegen die mit dem Begriff inkriminierte Sache auch nichts haben. Zumal die Kanthers ja auch zu Konzessionen, wie etwa der richterlichen Mitwirkung bei Lauschangriffen, bereit sind. Die Rechtsstaatlichkeit bleibe also auch bei den neuesten Ermächtigungen des Sicherheitsapparats gewahrt. Da kann sich doch kein rechtschaffener Bürger mehr beschweren.

Über die Einführung des „großen Lauschangriffs“ gibt es seit Monaten einen Parteienstreit. Da für die notwendige Grundgesetzänderung die SPD erforderlich ist, sah diese eine Gelegenheit, sich als Hüter der Rechtsstaatsprinzipien aufbauen. Da sie umgekehrt aber nicht als Bremser in Sachen „Innere Sicherheit“ erscheinen wollte, trat sie als Antreiber auf, was die

Geldwäsche

betrifft. Dabei versteigt sie sich zu dem Vorwurf an die Regierung, mit ihrer Laxheit gegenüber den Kriminellen mache sie sich schon fast zu deren Komplizen:

„Der SPD-Vorsitzende Scharping hat der Bundesregierung vorgeworfen, sie schütze das organisierte Verbrechen, weil sie die Bekämpfung der Geldwäsche vernachlässige.“ (FAZ 23.8.93)

Diesem Menschen nimmt man doch gerne ab, daß er einen Gegenpol zu den Scharfmachern Kohl und Kanther bilden möchte!

Ihre Mehrheit im Bundesrat nutzt die SPD zu dem Vorstoß:

„Die Länder fordern, alle Personen registrieren zu lassen, die Beiträge von mehr als 15000 Mark am Bankschalter einzahlen. Die Koalition hatte sich auf einen Schwellenbetrag von 25000 Mark geeinigt. Außerdem soll das ‚Anwaltsprivileg‘ aus dem Gesetz gestrichen werden.“ (SZ 20.8.93)

Da merkt man wieder den „Stallgeruch“ der SPD als alte Arbeiterpartei: Weil für die kleinen Leute schon 10 000 Mark auf einem Haufen außer Reichweite sind, sollte man den Schwellenbetrag nicht allzu hoch ansetzen!

Statt auf den „gläsernen Bürger“ kaprizieren sich die Sozialdemokraten also auf das „gläserne Bankkonto“. Sie möchten noch radikaler den Sicherheitsbehörden die Möglichkeit eröffnen, bei Banken und betroffenen Bürgern Erkundigungen darüber einzuholen, wie sie ihr Geld verdienen. Für solche Vorschläge hat der neue Innenminister natürlich ein offenes Ohr und nimmt sie in sein Programm auf.

Dabei geht es den Politikern um etwas Grundsätzliches. Sie wollen das Geldverdienen nicht mehr als Privatangelegenheit der Bürger betrachten, die den Staat erst dann interessiert, wenn er Steuern eintreibt. Jeder, der Geschäfte macht, ist – wenn der Staat ein Bedürfnis danach hat – darüber auskunftspflichtig, wo er seine finanziellen Mittel her und wie er sie vermehrt hat. Der Staat möchte möglichst perfekt kontrollieren können, ob die Geschäftemacher sich auch strikt an seine Vorschriften halten und sich nicht auf krummen Wegen bereichern. Geldverdienen – beinahe so etwas wie öffentlicher Dienst! Dafür nimmt er sogar in Kauf, daß die Möglichkeit solch peinlicher Kontrollen die Attraktivität des Geldanlageplatzes Deutschland nicht gerade steigert. Die Aufsicht über das Geschäftsgebaren scheint ihm viel zu wichtig, und außerdem ist es so billig zu haben: Er muß nur sämtliche Bankangestellten zu seinen Hilfssheriffs und Schnüfflern vor Ort machen und die Banken mit Strafe bedrohen, falls sie krumme Dinger decken. Heilige Kühe wie das „Bankgeheimnis“ und das „Anwaltsprivileg“ passen – in der bisherigen Form zumindest – nicht mehr in die heutige Zeit.

Von ihrem Saubermannsstandpunkt aus interpretieren die Bonner Machthaber die Zustände im Lande und um Deutschland herum als einzige Bedrohung geregelter Verhältnisse: Im Innern nehmen Schwindel, Betrug und Verbrechen sprunghaft zu, wird die Polizei der Kriminalität längst nicht mehr Herr. Aus dem Ausland strömt die Mafia nach Deutschland, wegen des Chaos im zerfallenen Ostblock drängen immer dubiosere Geschäftemacher und Autoschieber über die Grenzen. Daraus ergibt sich ein maßloses Sicherheitsbedürfnis für Deutschland, „zum Schutze der Menschen in unserer Gesellschaft“.

Der Parteienstreit um das beste Sicherheitskonzept entschärft keines der zitierten Gesetzesprojekte. Im Gegenteil: Nach ein paar Wochen haben CDU und SPD sich darauf geeinigt, daß die Durchleuchtung der Privatsphäre die des Portemonnaies nicht ausschließt, sondern wunderbar ergänzt.

Auch in der Frage der „Beweislastumkehr“ ist man sich inzwischen handelseinig:

„Auf einer CDU/CSU-Fachtagung zur Inneren Sicherheit verlangte der Innenminister, beim Verdacht auf Profit aus Mafia-Geschäften die Beweislast umzukehren. Die SPD hatte schon seit längerem gefordert, daß Verdächtige im Zweifel die legale Herkunft ihres Geldes nachweisen müssen.“ (SZ 20.8.93)

Gelingt der Beweis nicht, behält es der Fiskus. Gestandenen Rechtsdogmatikern stehen auch hier wieder die Haare zu Berge, hieß es doch bisher: Nur totalitäre Staaten handeln nach dem Prinzip „In dubio contra reum“.

Der nächste Einfall lag wieder bei der CDU: Es müsse auch gegen Personen ohne „konkreten Verdacht“ ermittelt werden können. Damit ist dann die Bespitzelung jeden Bürgers erlaubt; unsere Stasi ist rechtlich besser ausgestattet, als es das gleichnamige Vorbild dieses polizeilichen Fanatismus je war.

Für die personelle Stärke des Polizeiapparats macht sich die FDP stark. Sie propagiert dessen massiven Ausbau als „liberale Alternative“ zu den Konzepten der „Großen Koalition in Sicherheitsfragen“, wohlwissend, daß sie damit nur für deren logische Ergänzung eintritt. Wenn mehr überwacht werden soll, braucht es auch mehr Personal. Die CDUler fordern darüber hinaus, auch die Bürger für die Unterstützung des staatlichen Sicherheitsapparats einzuspannen. Kohl & Co lassen keine Gelegenheit aus, sich über die „Zuschauermentalität“ der Bürger zu beschweren.

Der zunehmenden Verwahrlosung der Jugend und ihrer Anfälligkeit für die Propaganda rechtsradikaler politischer Konkurrenz will der Staat erneut mit

Strafrechtsverschärfungen

begegnen:[4]

„Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr sei ‚generell verwendbarer für die Justiz zu definieren‘.“ (Kanther, SZ 20.8.93)
„Der Strafrahmen für Gewaltdelikte solle erhöht werden. Geis (innenpolitischer Sprecher der CDU) schlug vor, Jugendliche schon von 18 Jahren an – und nicht wie bisher ab 21 Jahre – strafrechtlich wie Erwachsene zu behandeln… Nach schweren Straftaten sollten Jugendliche in geschlossenen Vollzug genommen werden; neben dem Erziehungsgedanken müsse der ‚Schutz der Allgemeinheit‘ mehr Gewicht erhalten.“ (CDU, SZ 22.8.93)

Eine bloße Nuancen-Verschiebung ist auch das nicht, da kann Herr Geis sich noch so viel Mühe geben, diesen Anschein zu erwecken. Das Erziehungsmittel ist für die rechten Reformer die Repression. Der bisherige staatliche Umgang mit Straffälligen war nicht genug vom Law & Order-Gedanken geprägt: Wer sich gegenüber dem Staat etwas herausnimmt, ist nämlich kein „Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse“, das „eine nochmalige Chance“ bekommen muß. Heute hat der Standpunkt zu gelten: Jeder Bürger muß sich zusammenreißen; und – das gestehen die Regierenden durchaus zu – der Dienst an der Nation ist nicht unbedingt leicht. Wenn der anständige Mensch aber schon nichts geschenkt bekommt, kann der Staat den Kriminellen doch nicht mit Fürsorge kommen.

Das in Politik und Öffentlichkeit vorherrschende Verständnis vom Staat als „nützliche Gewalt“ hat sich also gewandelt: Wurde früher die Gewalt mit dem Nutzen gerechtfertigt, den die Bürger aus der staatlichen Ordnung beziehen, so legitimiert sie sich jetzt daraus, daß sie erforderlich ist, die Bürger dazu anzuhalten, ihren Dienst dem Staat gegenüber zu erbringen.

Demokratische Politiker, die die Beziehung Staat/Bürger so definieren, haben auch ein eigenes Verhältnis zur

Verfassung

Deutlich wurde dies an der Arbeit der Verfassungskommission, die das Provisorium Grundgesetz in eine echte Verfassung Deutschlands umschreiben sollte. Die Euphorie und der Tatendrang eines Ullmann und anderer Ex-DDRler, eine richtig schöne, bürgerfreundliche, superdemokratische Verfassung aufzuschreiben, wurde harsch gestoppt. Die maßgeblichen Politiker waren sich nämlich sofort einig: „Das Grundgesetz ist die beste aller deutschen Verfassungen“; darum kann man es eigentlich gar nicht verbessern. Der Vorsitzende Scholz (CDU) warnte in der Verfassungskommission seine Kollegen von Anfang an vor „bedenklichen Utopien“ über eine „Verfassung 2000“, und Schäuble sprach direkt aus, was unbedingt vermieden werden müsse: „die alten Irrtümer eher sozialistisch Gesinnter zu wiederholen“. Damit meinte er, in die Verfassung Verpflichtungen des Staates gegenüber seinen Bürgern hineinzuschreiben. Dabei hatten die Sozialdemokraten, als sie dran waren, so schön vorgeführt, daß auch die „subjektiven Rechte“ im Verfassungsrang nur für das Image eines volksnützlichen Staates standen. Gerade sie haben das Gerede von „Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit“ in Mode gebracht. Zur heutigen Staatsdoktrin paßt aber mehr die „neue Ehrlichkeit“: Der Staat sagt klipp und klar, daß er kein „Wohlfahrtsunternehmen“ ist.

Am Recht auf Asyl und dem Schutz der Privatsphäre wurde hinreichend deutlich, daß Grundrechte, wie sie im Grundgesetz stehen, für die Politik lästig werden können. Nicht, daß sie den Staat an irgendetwas wirklich hinderten, aber das Parteiengezerre um die Änderung paßt nicht gerade zum politischen Ideal der entschlossenen Führung.

Auf keinen Fall dürfen darum neue Staatszielbestimmungen – wie das „Recht auf Arbeit“, auf „Wohnung“ und „soziale Sicherheit“ – in die neue Verfassung aufgenommen werden,

„weil dadurch die Verfassung zu einem trügerischen Wunschzettel degeneriere und unstillbare Begehrlichkeiten geweckt würden.“ (Eylmann,CDU)

Der Mann ist offen raus! Er möchte nicht nur verhindern, daß die Verfassung zum Wunschzettel degeneriert, der die Leute verleiten könnte, vom Staat etwas zu verlangen. Er ist dagegen, daß man den Leuten etwas vormacht; solche Ziele verfolgt unser Staat nun mal nicht, darum sollen die Bürger sich ihre Begehrlichkeiten von vornherein abschminken.

Nach langem Hin und Her hat man sich schließlich in der Verfassungskommission zu der Verpflichtung des Staates zum Schutz der Umwelt herbeigelassen. Dabei macht die mit viel Mühe ausgetüftelte Formulierung klar, daß sich daraus keinerlei Ansprüche gegen den Staat ableiten lassen.

Der andere Wunsch der Verfassungsidealisten, mehr plebiszitäre Elemente in das neue Grundgesetz aufzunehmen, wurde nur mit fassungslosem Kopfschütteln beantwortet. So bleibt als wichtigste Frage, die die Verfassungskommission noch beschäftigt, die künftige Absicherung der Rechte der Bundesländer.

Hermann Höcherl (selig) prägte den Spruch: „Als Politiker könne man nicht immer das Grundgesetz unterm Arm tragen“. Adenauers und Ollenhauers Enkel sehen das noch etwas radikaler:

Sie schmeißen – ob per Grundgesetzänderung oder Urteil des Bundesverfassungsgerichts – aus dem Grundgesetz all das raus, was der Politik Schranken setzt. Da hindert sie weder die „Wesensgehaltgarantie“ eines Art 19 GG, wie die Asylreform zeigt, noch die bislang gültige und auch von der eigenen Mannschaft bisher vertretene Interpretation der Verfassungartikel – was Debatte und Praxis in der Frage der Militäreinsätze belegen.

Heutzutage bekennt sich die Politik klar dazu, daß die Verfassung nicht über der Politik steht – wie es Sozialkundebücher immer noch behaupten –, sondern ihr Mittel ist. Wo sie zum Bedarf der Nation nicht mehr paßt, ist sie den Direktiven des Kanzleramts anzupassen.

Die politische Kultur des Landes

bleibt von der Reformierung der deutschen Demokratie nach rechts gleichfalls nicht verschont. Dieser Begriff jüngeren Datums meint jenen geistigen Überbau, in dem die Sachverständigen für die politische Meinungs- und Willensbildung der Bürger schon immer die Technik pflegten, die Machenschaften, Sitten und Gebräuche des demokratischen Herrschaftsbetriebs ganz ohne Kritik einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Der intellektuelle Kunstgriff, der sie dazu instandsetzt, besteht dabei darin, die gewöhnliche Verrichtung der Staatsfunktionen aus der Perspektive eines höheren nationalen Sendungsauftrags, einer politischen Mission oder auch nur ideellen Leitprinzips – betreffend das Verhältnis Herrscher und Beherrschte – zu inspizieren, der bzw. dem die jeweiligen Inhaber der Regierungsgewalt verpflichtet sein wollen. Auf diesem Wege wird aus Politik ein verdienstvolles Ringen um die Lösung von „Problemen“, die sich ihrem angesonnenen Auftrag entgegenstellen und die, mit einem einprägsamen Titel getauft, dann im Zentrum aller politischen Bemühungen stehen. Die spannende Frage, ob den Regierenden auch wirklich gelingt, was sie sich vornehmen, ist der einzige Maßstab ihrer Beurteilung, den ein politisierter bürgerlicher Verstand dann noch kennt.

Wahr waren alle diese dem politischen Wirken angedichteten Leitprinzipien, also die Kernbestandteile der jeweils herrschenden demokratischen Kultur, noch nie, und ernsthaft mit ihnen verwechselt hat den demokratischen Herrschaftsalltag ja auch wirklich keiner. Gegolten haben sie gleichwohl, als Ideologien der Herrschaftsausübung eben, als Maßstäbe, denen diese im Grund verpflichtet sei und an denen sie sich – im Prinzip wenigstens – zu messen lassen habe. Und diese Geltung besaßen sie nicht zuletzt deshalb, weil es die Herrschenden selbst waren, die sich und ihre Taten gerne mit der Gloriole einer höheren, meist irgendwie humanistischen Zweckhaftigkeit versahen.

So trat die erste nennenswerte demokratische Reformbewegung des Nachkriegsstandorts Deutschland mit der Parole:

„Mehr Demokratie wagen!“

an, und jeder, der das wollte, konnte die von oben angeleierte Mobilisierung aller Ressourcen von der Bildung bis zur Bundeswehr mit der Bitte um Einmischung in die herrschaftlichen Belange – „Partizipation“ hieß dies mal – und die Ausübung der Staatsgewalt generell mit einer Entlassung in die „Freiheit“ verwechseln, die einem Bürger mit „Mündigkeit“ nur geziemt. So, mit einer grundsätzlichen Widmung ans wohlverstandene Eigeninteresse der Bürger, verkauften demokratische Machthaber ziemlich lange ihre Politik, und entsprechend beseelt war die demokratische Kultur auch von so schönen Idealzwecken wie „sozialer Ausgleich“, „Gerechtigkeit“ und anderen Werten mit dem Bürger im Mittelpunkt. Von „Freiheit“ natürlich auch, denn solange es den Feind der Demokratie, den realsozialistischen Osten gab, hob man sich mit dem Schein, demokratische Herrscher seien immer für die Verwirklichung der freiheitlichen Drangsale ihrer Bürger unterwegs, gleichermaßen bequem wie glänzend von den Unrechts- und Knechtschaftsregimes im Osten ab.

Auf die Reform der Demokratie heute passen solche Ideale nicht. Zwar wird auch heute von oben nichts anderes gewagt als noch ein bißchen mehr Demokratie – aber was da gewagt wird, läßt sich einfach nicht mehr mit den Titeln von gestern schönfärben: Wo reihenweise bislang bewährte, weil dem Erfolg der Nation durchaus nicht abträgliche staatlich organisierte Dienstleistungen und etliche „Errungenschaften“ des Sozialstaats der praktischen Kritik verfallen, eine für den „Standort Deutschland“ – angesichts seiner Nöte – untragbare Last zu sein, und abgeschafft werden; wo den Reformdemokraten bislang gebräuchliche rechtliche Verkehrsformen der Bürger untereinander wie in ihrem Verhältnis zur Obrigkeit wie eine Ansammlung von Freiräumen erscheinen, die zu verantwortungslosem Eigennutz und damit zu staatsschädlichen Umtrieben förmlich einladen: Da ist den Illusionen, mit denen sich einmal ganz gut die Mär vom fürsorgenden „Vater Staat“ aufwärmen ließ, ziemlich gründlich der Boden entzogen. Und im Lichte des neuen Reformideals besehen, daß zum Nutzen des Gemeinwesens die staatliche Kontrolle der lieben Bürger gar nicht umfassend und perfekt genug ausfallen kann, büßt die schöne Anschauung von der Demokratie als der Staatsform, in der mit und durch den Bürger und im Grundsatz immer für ihn – also herrschafts- und knechtschaftsmäßig betrachtet im Prinzip gar nicht so recht – regiert wird, erheblich an Strahlkraft ein.

Die politische Kultur nimmt darüber freilich überhaupt keinen Schaden, sie ändert sich nur ein wenig. Der öffentliche Geist der Demokratie bleibt sich und seinen Prinzipien einfach treu, und wenn die hohen demokratischen Werte von gestern auf die Reform der Demokratie von heute nicht mehr passen, dann entnimmt er eben dem neuen Herrschaftsideal die Ideologien, die auch wirklich zu ihm passen. Eine große Kunst ist das nicht: Wenn eine Nation ihr ganzes demokratisches Innenleben dem praktischen Anspruch unterzieht, dem reibungslosen Funktionieren aller ihrer herrschaftlichen Anliegen zuzuarbeiten, dann ist das Ideal gelungener Herrschaft gegen alle „Sonderinteressen“ der Stoff aller Ideologien, die in diese Nation passen. Und wenn die Frage nach dem Nutzen der ausgeübten Herrschaftsgewalt für die Untertanen gar nicht mehr das Kriterium ist, an dem sich diese messen läßt; wenn es nicht die Leistungen des Staates für seine Bürger sind, in denen die Gewalt ihre höchste Rechtfertigung hat, vielmehr ihre effektive Ausübung der ganze Nutzen schon ist, den man ihr verdanken soll, dann haben die Experten der politischen Kultur damit auch schon das Kriterium, mit dem sie sich ans Prüfen der Politik machen: Erfolgreiche Führung heißt in ergreifender Schlichtheit das neu in Kraft gesetzte Ideal von demokratischer Politik, dem es durch die Bestallung von entsprechend geeigneten

Führerpersönlichkeiten

gerecht zu werden gilt.

Freilich wird da nicht an einen Abklatsch jenes Gesandten der Vorsehung gedacht, der schon einmal seinem deutschen Volk in schwerer Stunde gesagt hat, wo es langgeht: Solchen Idealen des nationalistischen Geistes von Demokraten schlägt die Stunde, wenn sie die Rettung ihrer zerrütteten Staatsmacht für geboten halten und gegen die Feinde, die sie im Innern wie außen als die Schuldigen der als unerträglich empfundenen Schwäche des eigenen Staatswesens ausfindig gemacht haben, mobil machen. Und in dieser Lage befindet sich die deutsche Republik 1993 einfach nicht. Vielmehr drückt sich im Ruf nach „Führung“, der in ihr laut vermeldet wird, der letzte Zweifel hinsichtlich der Machenschaften ihres Staates aus, zu dem voll in ihrer politischen Kultur gereifte Demokraten noch imstande sind: Machen die amtierenden Regenten denn auch erfolgreich von ihrer Machtbefugnis Gebrauch? Oder stehen sie mangels Eignung einer effektiven Bewältigung der nationalen „Probleme“ bloß im Wege – und gehören entsprechend ausgewechselt? So bescheuert herrschaftstreu das ist, was sich da an Zweifel regt: Diese nationalistische Anspruchshaltung macht sich richtig pingelig und gehässig an den Eignungstest des amtierenden Führungspersonals und der Parteien, aus denen es sich rekrutiert – und das ausgerechnet, nicht die Zumutungen, die sie ihrem Volk bescheren, bringt demokratische Regierungen glatt durcheinander.

Skandale

machen die Runde in der Öffentlichkeit, in denen ganz ernsthaft nach der weiteren Tragbarkeit von Ministern im Amt gefragt wird. Als Quelle des angemeldeten Zweifels kommen dann politisch so ungemein brisante Sachen wie fragwürdige private Abrechnungen von Umzugskosten, Putzfrauen, Eigenheimen, Urlaubsreisen und Autofahrten zur Sprache. Einmal bekannt gemacht, stehen Verfehlungen dieser Art dann dafür, daß die Betreffenden Fehler bei ihrer Amtsführung gemacht haben müssen. Es gilt als gesichert, daß sie sich für die hohe Aufgabe der politischen Führung irgendwie als untauglich erwiesen haben, und der öffentliche Fanatismus der sauberen Amtsführung schiebt hartnäckig und solange Beweismaterial derselben Sorte nach, bis die Inkriminierten von den eigenen Wahlvereinen aus dem Verkehr gezogen werden. So inadäquat dieser moralische Eifer, der sich da an den Führerpersönlichkeiten zu schaffen macht, dabei der Sache gegenüber auch sein mag, um die es geht: Er verfügt über ein untrügliches Indiz dafür, daß er goldrichtig liegt und mit seiner üblen Nachrede schon die Richtigen trifft. Allesamt haben sie nämlich, ihr politisches Wirken betreffend, überhaupt keine glänzende Erfolgsbilanz herzuzeigen! Hätten sie eine solche – auch nur ansatzweise –, könnte man ja noch mit sich reden lassen. Aber so? Stellvertretend für alle diese öffentlichen Beschwerdeführer ein Fachmann, der sich laut über ein „Volk ohne Volksvertreter“ beklagt:

„Die Bundesrepublik ist ein einziger Tatort geworden: Politiker lügen oder bereichern sich auf Kosten der Allgemeinheit. Ministerpräsidenten und Minister, die noch vor kurzem als Inbegriff der Redlichkeit und des Erfolgs galten, müssen schmählich abtreten – sie haben ihren ganzen Stand diskreditiert. Der Fall Steinkühler macht nur mehr sichtbar, daß der Gemeinsinn auch in anderen Institutionen verlorengeht. Dabei wären die Verfehlungen einzelner noch zu verkraften, wenn man wenigstens ein wirksames Krisenmanagement erkennen könnte, ob bei der Asylfrage, der Arbeitslosigkeit, der Staatsverschuldung. Nach zukunftsweisenden Ideen wagt heute kaum einer zu fragen.“ (Di Lorenzo, Süddeutsche Zeitung 22./23. Mai 1993)

Es hat ja schon einmal einer ganz gründlich nach „den geistigen und moralischen Werten der Herren, die als Auserwählte der Nationen“ dienen, gefragt, und die Ergebnisse, zu denen er gelangte, waren ähnlich niederschmetternder Art wie die Befunde, die die demokratischen Expertisen in Sachen sauberes Herrschen zutage fördern. Es ist aber schon ein Unterschied, ob ein Hitler die Parlamentarier als „Schar geistiger Nullen“ und generell auf die „Bahn der allgemeinen Verlogenheit und Betrügerei“ geraten ansieht, oder ob Kammerjäger der demokratischen Öffentlichkeit sich zu solchen Pöbeleien versteigen. Während nämlich dem Gröfaz schon ziemlich präzise der Umsturz des parlamentarischen Systems insgesamt als Weg zur Behebung des furchtbaren Sittenverfalls der Volksvertreter vorschwebte, liegt den Sittenwächtern heute alles am demokratischen Herrschaftserfolg: Für ihn sind sie parteilich, ihn wollen sie durch ordentliche politische Führungsfiguren gewährleistet sehen und treten deshalb kämpferisch für die Reinigung und Veredelung des Herrschaftspersonals auf.

Dieser totalitäre Fanatismus des politischen Erfolgs, der die öffentlich-demokratische Meinung bestimmt, hat durchaus etliche Ministerrücktritte „erzwungen“. Er hat aber bei den Erfolgsfanatikern, die mit der Regierungsmacht ausgestattet sind, auch in positiver Hinsicht einiges bewirkt und dafür gesorgt, daß die Reihen der abgehalfterten Regierungsträger mit Typen aufgefüllt werden, die in Sachen Führung von ihrem Charakter her keine Wünsche mehr offenlassen: Schneidige Herrschaften wie Stoiber und Kanther sind die perfekt auf die Frage passende Antwort, ob das Land bei einem Streibl, der Amigos hat, oder bei einem Seiters, der seine Bürgerkriegsarmee zur Unzeit lobt, überhaupt noch gut regiert wird. Und sie sind auch die schlagenden Waffen im Kampf gegen jenes Phänomen, das sich in der politischen Kultur zusammen mit dem Vorwurf mangelnder Führungskraft der amtierenden Machthaber ausbreitete.

„Politikverdrossenheit“

hieß die Volkskrankheit, mit der eine Regierung ihre Wahlbürger dadurch infiziert haben soll, daß sie hinsichtlich der von ihr angestrebten Erfolge so manche Wünsche offengelassen, sich also als „handlungsunfähig“ erwiesen hat. Da diese Krankheit sich neben dem Unwesen der Skandalisierung von ganz vielen verdienten Politikern der ersten Garnitur auch in einem gefährlichen Zulauf bei „nicht etablierten“ Rechtsparteien manifestierte, wurde der Verdruß dann auch präziser und richtig „Parteiverdrossenheit“ genannt – und sehr ernst genommen. An ihm wie an der wenig respektvollen Rede von der „politischen Klasse“, die sie bilden sollen, merkten die etablierten regierenden Kreise nämlich schon, daß die bewährte Vertrauensgrundlage zwischen ihnen und ihrem Volk ein wenig gestört sein muß. Diese hatte sich bislang dahingehend geäußert, daß die fünf bekannten Parteien immer genügend Wahlstimmen zusammenbekamen, um miteinander eine Koalition zum Regieren zu schmieden, und genau dieser Bequemlichkeit drohten sie verlustig zu gehen. Umfragen bei den Wahlbürgern ergaben nämlich eine ansehnliche Bereitschaft, das „Vertrauen“ demnächst Republikanern und anderen Rechtsparteien zu schenken. Die erschienen für so ungefähr 10% des Volkes in Sachen Effektivität und „Handlungsfähigkeit“ irgendwie glaubwürdiger, und dagegen galt es vorzugehen. Der lästigen Pflicht, dem verbreiteten Volksbedürfnis nach ordentlicher Führung nachzukommen und sich wieder glaubwürdig zu machen, haben die etablierten Parteien gehorcht. Nach der Devise, daß das Herrschen auf demokratisch manchmal eben ein wenig Umstände erfordert – „Nur die Diktatur ist einfach“ (R. Süßmuth) –, haben sie ihrem Volk Politiker präsentiert, die bloß noch als personifizierte Ideale von Tatkraft, Geradlinigkeit und kompromißloser Härte herumlaufen. Die sich geschmeichelt vorkommen, wenn man ihnen nachsagt, außer Macht, Recht und Vaterland vielleicht noch Gott, aber sonst nichts im Sinn zu haben, und die Wert darauf legen, daß man ihnen das auch schon äußerlich ansieht. Und die natürlich dann auch die Taten folgen lassen, die gegen das Übel der „Politikverdrossenheit“ helfen und „den Rechten das Wasser abgraben“ (Kanther): Gewalt ist ohnehin das Mittel, mit dem Politiker ihre „Probleme“ lösen, und überzeugende Gewaltausübung stellt genau die Führungsqualitäten unter Beweis, nach denen die ganze Kultur der Nation verlangt. Die besseren Schönhubers meint man also aufgeboten zu haben, so daß das aufgekommene Bedürfnis nach schlagkräftigen Führern eigentlich prima erledigt wäre. Die restlichen Lücken an Glaubwürdigkeit schließen dann die Observationen des Verfassungsschutzes und immer wieder mal geäußerte Anträge zur Kriminalisierung der „nicht etablierten“ rechten Konkurrenz.

Opposition gegen die demokratische Reform nach rechts

gibt es nicht. Was es gibt und sich so nennt, ist die SPD, und die macht Oppositionspolitik durch die Demonstration, daß sie sehr „regierungsfähig“ und ohne ihre konstruktive Mitbeteiligung das rechte Reformwerk des Kanzlers einfach „nicht zu verantworten“ ist. Sozialdemokraten heute wollen keinesfalls mehr als das „kleinere Übel“ gewählt werden. Unter ihrer Führung, und das heißt: mit einem besseren Führer als dem gerade amtierenden wäre die Nation imstande, dasselbe Erneuerungswerk, das der ansteuert, weit besser, effektiver und erfolgreicher durchzuziehen: So lautet das Versprechen, mit dem Sozialdemokraten 1993 vom Bürger zur Herrschaftsausübung mandatiert werden wollen. Das schafft für eine Partei freilich einige Probleme, die traditionell ihre Wahlstimmen mit Idealen geködert hat, mit denen die Bürger durchaus die Vorstellung verbinden sollten, sie und ihr Fortkommen stünden irgendwie schon im Mittelpunkt des sozialdemokratischen Regierens. Diese Tradition mag verlogen sein wie sie will: Sie klebt als Malus an einer Partei, die heute Demokratie wie Deutschland buchstabiert und vom „Nutzen des Volkes“, den sie verantwortlich „mehren“ will, die Überzeugung hat, daß der mit dem des Staates identisch ist. Die Demonstration der eigenen „Regierungsfähigkeit“ fällt so für die SPD nach der einen Seite hin damit zusammen, daß sie das „Soziale“ in ihrem Namen von einigen unzeitgemäßen Mißverständnissen befreit und darüber aufklärt, wie heute der Gegensatz beschaffen ist, in dem es zum Nationalen steht: Es sind Genossen wie Lafontaine, von denen man die übelsten Stellungnahmen zum Thema „Bürger mißbrauchen den Staat und seine Einrichtungen“ vernimmt und die dem Kanzler das Versäumnis vorrechnen, dagegen gar nicht entschieden genug vorzugehen. Nach der anderen Seite hin läuft angesichts der ja feststehenden Aufgaben bei der demokratischen Reform, die die SPD verantwortlich tragen will, die „Glaubwürdigkeit“ dieser Partei unmittelbar auf die Frage hinaus, ob sie auch die erfolgversprechende Führungsfigur aufbieten kann, gegen die ein Kohl abstinkt. Und mit der Bewältigung dieser Frage hat die SPD das markanteste Zeichen ihrer Oppositionspolitik gesetzt.

Mit einem Vorsitzenden Engholm sah man sich für eine erfolgversprechende Herausforderung des Kanzlers nämlich nicht so recht gerüstet. Irgendwie fehlte dem das „Zündende“, das gute Führer so an sich haben und mit dem sie bei ihrer „Basis“ für die „Geschlossenheit“ sorgen, dank derer sie sich dann umgekehrt wieder zur Amtsübernahme berufen wissen. Also wurde dem bei Gelegenheit der „Kieler Affäre“ das Vertrauen entzogen, was ein politischer Kulturwächter bemerkt hat und was ihn zu einem hübschen Aufschrei über den abgrundtiefen Verlust von Anstand und Sitte hinriß: Überhaupt nicht aus Gründen der polit-moralischen Säuberung, für die er selbst sich so ins Zeug legt, sondern bloß wegen parteitaktischen Berechnungen hat Engholm abtreten müssen – unerhört sowas!

„Daß Engholm in der Kieler Affäre gelogen hat, ist das eine (…). Aber daß Engholm anders als die meisten Politiker mit einem solchen Fehltritt um seine politische Existenz gebracht werden konnte, hat mit Illoyalität in seiner schleswig-holsteinischen Umgebung und mit dem Machtkampf in der SPD zu tun. Der Gewinn an Aufklärung für das Ganze des Barschel-Skandals ist zwar begrüßenswert, aber was für die politische Kultur dadurch gewonnen sein mag, ist verzweifelt wenig im Vergleich zu dem, was durch das Schauspiel „Wie wird eine große Partei einen Boß los, den sie nicht mehr haben will?“, an politischer Kultur beschädigt worden ist.“ (Busche, Süddeutsche Zeitung 4. Mai 1993)

Die Wahl des Nachfolgers organisierte die Partei, indem sie die „Basis“ konsequent über drei personifizierte Varianten desselben Programms – 1. „Wir leiden an einem Führungsdefizit“ und 2. „Ich will Kanzler werden“ – abstimmen ließ. Dies war Basisdemokratie in Reinkultur: Gesucht und gefunden wurde da ein Befreiungsschlag gegen den SPD-internen Intrigantenhaufen der „Führungsriege“, denn eine Partei, deren Obere nicht wie eine Eins hinter ihrem Führer stehen, ist halt einfach führungslos. Also mußte ein ganz glaubhaftes Zeichen her, daß dem nicht so ist, und dafür hat sich die Partei hinter einer neuen Führungsperson formiert und bloß noch den Willen vor Augen gestellt, von dieser geführt zu werden. Nach anfänglicher Skepsis, ob so etwas denn gutgehe, und Stirnrunzeln über den Verbleib von „Inhalten“ und so hat sich gezeigt, daß die „Basis“ „mit überraschend deutlicher Mehrheit“ geschnallt hat, worauf es ankam. Seitdem ist das Experiment ein voller Erfolg, weil sich zeigt, daß die Partei ihrem neuen Vorsitzenden tatsächlich folgt, und zwar erst einmal vollkommen geschlossen – und weil der mehrheitlich gewählte Vorsitzende im übrigen auch tatsächlich alle Erfordernisse eines guten Führers erfüllt. Ein neutraler Beobachter hierzu:

„Der Wille zur Führung ist da. Wer ihn nicht kannte, lernt ihn nun allmählich kennen. R. Scharping hat seinen Führungsanspruch an der Spitze der SPD durchgesetzt – relativ geräuschlos, zielstrebig, machtbewußt.“ (Süddeutsche Zeitung, 22. Juni 1993)

Wenn man dann noch bedenkt, daß auch dieser Führer aus der Pfalz kommt, mag man an seinen Chancen gegen Kohl kaum mehr zweifeln.

So kürzt das Ideal der erfolgreichen Führung auch das Innenleben der Partei, die alternativ zu den Regierenden demnächst den Führer stellen will, auf das Elementare zusammen. Die bisher gepflegte Form und Hierarchie bei der Entscheidungsfindung – mit ganz viel „Diskussionen“, „Prüfungsprozessen“ und so – gilt ab sofort als mögliche Schwächung, weil als Relativierung des absoluten Führungsanspruchs, mit dem der Vorsitzende glänzen will, und entsprechend wird der Parteiapparat auf die Funktion umgestellt, den zu untermauern: Ausgerechnet die linke Reformpartei der Demokratie von gestern gibt die perfekteste Inszenierung davon, wie sich bei ihrer rechten Reform an der „Willensbildung des Volkes“ gewirkt gehört – Akklamation des gewählten Führers heißt das oberste Prinzip der Basisdemokratie!

Der „mündige Bürger“

wird im Zuge der Reformierung natürlich nicht abgeschafft. Er ist, wenn von ihm in der politischen Kultur vom Standpunkt des neuen deutschen Ideals schlagkräftiger politischer Herrschaft & Führung aus die Rede ist, nur nicht mehr so recht wiederzuerkennen.

Rückblickend betrachtet stellt sich nämlich heraus,

„daß in den letzten Jahrzehnten in Deutschland manches falsch gelaufen (ist). Es herrscht ein ungewöhnlich triviales Verständnis des Begriffes „Selbstverwirklichung“, der oft gleichgesetzt wird mit rücksichtslosem Egoismus“. (Kohl, Bulletin 9. Juli 1993)

„Selbstverwirklichung“ will der Kanzler ungefähr so umdefiniert wissen wie die Tugend der „Solidarität“, nach der er seinen schönen Pakt genannt hat. Von sozialen Gegensätzen, denen sich gewisse Notlagen verdanken und zu deren Linderung man mit denen hält, die sie gerade noch mehr als man selbst auszuhalten haben, war in dem nämlich überhaupt nicht mehr die Rede. Statt dessen wurde per Verweis auf die Lage der Nation im neuen Osten den Bürgern im Westen ein Titel serviert, dem sie zu entnehmen hatten, daß der Staat von ihnen gewisse „Opfer“ verlangen muß. Und das war kein Appell an Mildtätigkeit. Die aufgemachte Fiktion einer nationalen Notgemeinschaft und der Antrag, in der doch zusammenzuhalten, war überhaupt keine Probe auf die bürgerlichen Tugenden, sondern der vom Staat genannte Rechtfertigungsgrund dafür, per Gesetz die Bürger zur Konsolidierung der Staatsfinanzen zu zwingen.

Seitdem ist es in der Öffentlichkeit dieser Republik guter Brauch, gleich nur noch vom Standpunkt des staatlichen Rechts auf die Verarmung seiner Bürger über die sozialen Folgen bei diesen zu reden. Dies geht einesteils noch in der gewohnten Manier, daß man sich ein wenig betroffen gibt über die vom Staat ins Werk gesetzte Armut und laut die Frage aufwirft, ob man denn wirklich „die Armen noch weiter verarmen“ kann. Insofern man natürlich kann und der Staat es auch tut, war das dann schon Höhepunkt und zugleich auch Abschluß aller statthaften Bedenklichkeiten zu diesem Thema: Die müde Nachfrage, ob denn das Sparen am Volk wirklich unvermeidlich ist, holt sich am praktizierten Sparwillen des Staates die Bestätigung ab, daß es unvermeidlich ist, und damit geht es in Ordnung.

Es gibt aber auch schon Wortmeldungen, denen verlogene Bedenklichkeiten dieser Art vollkommen fremd sind. Die sehen à propos Armut in der sozialen Lage der Opfer den rechtfertigenden Grund des Täters und kriegen sich in ihrer patriotischen Gehässigkeit über das Pack dieser bequemen Kleinkrämer gar nicht mehr ein. Genau besehen haben nämlich die mündigen Bürger über 40 Jahre lang als ein einziges

„Heer aus Subventionsakrobaten und Krankfeier-Künstlern, reichen Sozialwohnungsbesetzern und Absahnern an der öffentlichen Fernsehfront“ (Riehl-Heyse, Süddeutsche Zeitung, 20./21. Februar 1993)

am Gemeinwesen schmarotzt. Sie waren hauptberuflich mit dem „gierigen Grapschen nach allem, was ein gut funktionierendes System seinen Endverbrauchern zu bieten hat“, befaßt. Staatliche Mittel und Leistungen haben die Bourgeois nicht mit Verweis darauf zurückgewiesen, daß sie diese ja gar nicht wert und Gelder, die der Staat brauchen kann, für sie doch viel zu schade sind, sondern glatt in Anspruch genommen. Als Staatsschädlinge sind sie also dick und fett geworden, weswegen es für Deutschland und die Moral seiner Bürger nur gut ist, daß nun die mageren Jahre begonnen haben. (Ebd.)

Und wenn das durch staatliche Nachsicht bislang so verwöhnte Volk das nicht nur nicht gerne einsieht, sondern glatt noch in eine „allgemeine Nörgelstimmung“ verfällt, ist auch das nur typisch für die schlimme Verfassung der Nation:

„Es ist die Unzufriedenheit der Gutsituierten angesichts ungewohnter Belastungen. Nicht, weil es ihnen schlecht geht, sondern weil es ihnen gut geht, reagieren die Deutschen verdrossen auf Einschränkungen.“ (Busche, Süddeutsche Zeitung, 13. April 1993)

Wem der Staat noch etwas wegnehmen kann, der beweist, daß er vorher zuviel gehabt hat; was ihm gar nicht zusteht, sondern der Allgemeinheit, weil er an der sich nur immer bedient hat – weswegen das deutsche Volk mit jedem Schritt seiner Verarmung doch nur erfährt, wie sehr „verwöhnt“ es bislang von seinem Staat wurde. Im Vergleich zur Sudellogik dieser angesichts der Lage des Staatshaushalts leicht durchgedrehten politischen Kulturbeamten hört sich die Begriffsauslegung von „Solidarität heute“ durch den Kanzler beinahe schon wieder demokratisch-zurückhaltend an. Der malt nur eben mal sein herrschaftliches Ideal des berechnungslosen Gefolgsmanns aus, der die Opfer, die ihm beschert werden, als Prüfung seiner vaterländischen Gesinnung nimmt und willig als Pflichten trägt – und plädiert

„nachdrücklich für Selbstverwirklichung durch Gemeinsinn, für Solidarität und Bereitschaft zur Verantwortung. (…) Wenn Treue zu Sachen und Personen, wenn Zuverlässigkeit, wenn Fleiß, wenn Menschlichkeit, Mitmenschlichkeit als Sekundärtugenden abgetan werden, und wenn diese wahren Tugenden nicht mehr die selbstverständliche Voraussetzung für unser Zusammenleben sind, dann frage ich sie: Wie kann dieses Land eigentlich Zukunft haben?“ (Kohl, Bulletin 9. Juli 1993)

Das haben sich freilich auch andere Parteigenossen gefragt, und einer der schönsten Beiträge zur politischen Kultur und zur neuen deutschen Mitmenschlichkeit ist die von Stoiber erfundene „Kultur des Hinsehens“:

„Gesucht wird der ideale Bürger, die vorbildliche Bürgerin, die vertrauenswürdige Person, die sich ehrenamtlich, d.h. für eine pauschale Aufwandsentschädigung von 12 Mark/Std., auf nicht ungefährlichen Straßen und Plätzen … um die öffentliche Sicherheit kümmert. Diese Person soll vor allem beobachten und noch mal beobachten und die Polizei verständigen, sobald ihr verdächtige Gestalten oder Vorkommnisse auffallen.“ (FAZ, 7. Juli 1993)

Vom „mündigen Bürger“ zum Bürger „Volksgenosse“, der als ehrenamtlicher Blockwart im Dienst an der inneren Sicherheit des Rechtstaats wirkt: Wenn das keine schöne demokratische Karriere ist!

[1] Der nachfolgende Aufsatz behandelt Fortschritte der bundesdeutschen Demokratie, die von linken Kritikern als „Faschisierung“ beargwöhnt werden; an den damit gemeinten Vorwurf hat sich eine aus moralischem Engagement gespeiste und entsprechend schlichte scholastische Debatte angeschlossen, ob das Etikett am Platz sei. Tatsächlich sind die Maximen, nach denen die demokratischen Parteien der Nation ihren Standort retten, sichern, groß und stark machen wollen, ein einziger umfangreicher Beweis, daß bürgerlichen Staatsmännern und -frauen vom Umsturzprogramm des Faschismus ganz von selbst um so mehr einleuchtet, je unzufriedener sie mit den Welterfolgen ihrer Nation werden. Es ist daher auch kein Trost, daß die nationalen Führer, die ihr Deutschland derzeit umkrempeln, gar nicht daran denken, den hierzulande stationierten Kapitalismus eher einem staatlichen Kriegsbedarf als den produktiven Sachzwängen des Weltmarkts zu unterwerfen und die Bequemlichkeiten der mehrparteiendemokratischen Führungskonkurrenz durch eine innere Mobilmachung des Volkes zu ersetzen. Solche Revolutionen aus dem Geist der nationalen Errettung – sie wären der Übergang zum Faschismus – passen (noch gar) nicht zu der Notlage Deutschlands, so wie diese derzeit maßgeblich definiert ist. Der Katalog von Reformen nach rechts, die die bundesdeutsche Politik ins Werk setzt, ist kein zufälliges Sammelsurium von Notstandsmaßnahmen, auch wenn er oft so aussieht, z.B. wenn er vom liberalen Wirtschaftsminister in 30 Spiegelstrichen präsentiert wird. Es werden da konsequent alle Aufgaben abgehakt, die die elementare Staatsräson des bürgerlichen Staates ausmachen. Deren Systematik, an der der vorliegende Artikel sich orientiert, ist in der Abhandlung über den bürgerlichen Staat dargelegt, die erstmals 1979 im Resultate-Verlag München als „Resultate Nr.3“ erschienen und über den GegenStandpunkt-Verlag noch zu beziehen ist. Die §§ 3 bis 10 dieses Buches werden in Deutschland derzeit mit neuem politischen Leben erfüllt; der nachfolgende Artikel sammelt, ordnet und kritisiert das einschlägige Material.

[2] vgl. „Tarifrunde 1993“, GegenStandpunkt 2-93, S.7

[3] Siehe hierzu „Klein v in Deutschland“, in GegenStandpunkt 2-92, S.85

[4] siehe dazu „Geistige Führung – Rechtstaatlicher Terrorismus“, GegenStandpunkt 1-93, S.138