Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Wahlparteitag in Leipzig
Die SPD befreit sich von ihrem sozialdemokratischen Image und demonstriert ‚modernen‘ Führerkult

Die SPD kürt ihren Kanzlerkandidaten in einer bombastisch inszenierten Parteienshow und präsentiert ihr neues Selbstverständnis.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Wahlparteitag in Leipzig
Die SPD befreit sich von ihrem sozialdemokratischen Image und demonstriert ‚modernen‘ Führerkult

Die SPD wählt sich in Leipzig ihren Kanzlerkandidaten und veranstaltet mit ihrem Wahlparteitag einen Bombast, der den hierzulande gewohnten Rahmen parteilicher Selbstdarstellungskunst ziemlich alt aussehen läßt. 2600 eingeladene Presseleute melden lauter Superlative:

„Die Inszenierung ist perfekt. Noch nie wurde im Nachkriegsdeutschland (vorher schon!) ein Parteitag so perfekt in Szene gesetzt. … Die Regie schickte Schröder auf den Parteitag wie einen, der schon gewonnen hat.“ (Die Welt) „Für das Medienspektakel wurde tief in die dramaturgische Trickkiste gegriffen.“ (NZZ) „Ein bis ins kleinste Detail ausgefeiltes Theaterstück“. (FR)

Ist jetzt die Show mißlungen, weil sie als solche durchschaut wird? Mitnichten. Ein Presseecho dieser Art betrachtet das Wahlkampfmanagement keineswegs als einzige Peinlichkeit. Die parteieigenen Dramaturgen befürchten nicht im Geringsten, daß der offenkundige Theatercharakter der von extra angeheuerten Reklamefritzen inszenierten und einstudierten Parteienshow die Glaubwürdigkeit ihrer Botschaft konterkarieren könnte. Im Gegenteil! Die betonte Professionalität der Darbietung soll gerade die konkurrenzlose Modernität dieser Partei herausstreichen. Ungeniert läßt man daher die Öffentlichkeit bis ins Detail an der Planung ihres Personenkults um Schröder Anteil nehmen. Schon Wochen vor der Aufführung des Spektakels wird das Publikum mit so spannenden Fragen unterhalten, wie der, ob neben den von einer stinkteuren Eventagentur geplanten Licht- und Musikeffekten beim geplanten triumphalen Einzug der Parteigrößen nicht auch noch wie in richtigen Shows viel Nebel durch die postmoderne Halle im Leipziger Messegelände wehen könnte (FR). Die Fernsehteams werden am Vortag des Events gleich mit zur Generalprobe geladen, um der staunenden Menschheit zur besten Sendezeit Schröder und Lafontaine spielende Statisten vorzuführen, wie sie von heroischen Klängen begleitet regiegemäß winkend und grüßend durch die noch leeren Stuhlreihen schreiten. Jede Widerlichkeit dieser Art ist der Partei gerade recht, um die Nation mit der Frage zu beschäftigen, ob der ganze Schwulst im Ernstfall tags darauf auch so gut klappen würde. Er hat:

„Vor einer Videoleinwand mit pathetischen Darstellungen der Leitthemen ‚Innovation‘ und ‚Gerechtigkeit‘ und unter den Klängen einer olympiareifen Hymne schritt Schröder zusammen mit Lafontaine gravitätisch in den riesigen Saal… Es herrschte knisternde Spannung im Saal.“ (NZZ)

Spannend ist natürlich nicht wirklich die Frage, ob die verschiedenen Lichtstimmungen im richtigen Takt mit der Hymne und den Schritten der Parteiprominenz an- und ausgeknipst werden. Spannend ist, ob die in Disziplinfragen schlecht beleumundete SPD sich geschlossen und mit der gewünschten Begeisterung in eine so gnadenlose Führershow einpassen läßt, die so gar keinen Erinnerungswert an alte SPD-Markenzeichen aufweist. Genüßlich kann sich die Presse denn auch darüber verbreiten, wie beklommen sich da so mancher zur Jubelkulisse degradierte (FR) Altsozi und Juso herumgedrückt hat. Aber, und auf diese Meldung kommt es an: Alle machen mit und huldigen ihrem neuen Mann.

„Klaglos schluckten altgediente Parteitags-Kämpen jede Kröte. … Die Delegierten folgten der Inszenierung, indem sie im richtigen Moment klatschten und Schröder mit 93,4% auch in aller Form zum Kanzlerkandidaten machten.“ (FAZ) „Niemand tanzte aus der Reihe.“ (FR) „Die SPD ist seit Jahrzehnten nicht mehr so diszipliniert, ernsthaft und selbstbewußt aufgetreten.“ (Spiegel)

So wird mit viel Glanz und Gloria der Stallgeruch der alten SPD-Baracke getilgt und ersetzt durch einen Führerkult, der unübersehbar darauf ausgelegt ist, den der Unionsparteien um ihren ‚historischen‘ Kanzler weit hinter sich zu lassen. Daß die bislang zum Renommee sozialdemokratischer Parteitage gehörige Diskussionskultur nicht einmal mehr zum Schein erlaubt ist, und einer Art Krönungsmesse (Die Welt) weichen mußte, demonstriert das neue sozialdemokratische Selbstverständnis: die Partei hat jetzt einen unumstritten Führer, das jubelnde Parteivolk ist dem bedingungslos zugetan und wird nach einem Wahlsieg seine Machtvollkommenheit als neuer Regierungschef nicht weiter stören. Der kann denn auch zufrieden feststellen, daß seine Genossen kein Programm mehr verfolgen außer dem, ihren neuen Führer zum Kanzler zu machen: Nie war das Programm einer Partei so nah an ihrem Kandidaten, nie war ein Kandidat so nah an seinem Programm. Und als ob das immer noch nicht genug ist, unterstreicht Schröder mit der Bemerkung Ich bin kein Parteisoldat noch mal, daß er wirklich und ausschließlich als purer Staatsmann und seine Partei als purer Kanzlerwahlverein unterwegs ist. Ich bin sicher: Wenn ihr mir jetzt euer Vertrauen schenkt, daß ihr mir dann auch die Freiheit geben werdet, die dieses Amt braucht.

Die ganze Aufmachung dieses Parteitags, die allenthalben verständnisvoll als Zugeständnis an die moderne Mediendemokratie gehandelt wird, ist alles andere als eine Stilfrage. Das großkotzig in Szene gesetzte Führerpathos ist genau das, womit sich die SPD künftig den Wählern empfehlen will. Nicht einmal der Schein von Interessenvertretung soll dem staatsmännisch-nationalen Nimbus ihres Kandidaten Abbruch tun. Hochoffiziell verabschiedet sich die Partei denn auch von ihrer hergebrachten, abhängig beschäftigten Klientel und legt sich einen neuen Adressaten zu, welcher bis dato nicht einmal dem Namen nach bekannt war: die neue Mitte. Der Maitre de plaisir muß seinen Genossen erst noch ausdeutschen, daß mit dieser neuen Ortsbestimmung der Partei das alte Links-Rechts-Raster begraben ist. Die SPD will jetzt schlicht und ergreifend die Partei all derer sein, die für die Nation was taugen und die rechte patriotische Gesinnung zeigen:

„Die neue Mitte, das sind die Leistungsträger in unserer Gesellschaft, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die engagierten Unternehmer und Manager, die innovativen Mittelständler und Freiberufler, kurz: alle, die an ihrem Platz in unserer Gesellschaft ihre Arbeit tun und wollen, daß es mit unserem Land vorwärts geht“ (Müntefering)

Den altgedienten sozialdemokratischen Ruf einer Anwaltschaft für eine menschenfreundliche Verwaltung der Arbeiterschaft betrachtet die Sozialdemokratie hiermit selbst als Widerspruch zu ihrem Anspruch auf die Macht im Staat. Der hat nämlich ganz andere Probleme und Schröder kennt sich da aus. Als angesehener Wirtschaftsmann (Spiegel) versteht er sich bestens auf die inzwischen landläufige Formel, das ureigenste Anliegen der deutschen ‚Exportnation‘, in der Weltmarktkonkurrenz an erster Stelle mitzumischen, als Sachzwang des Globalismus auszugeben, der jeder verantwortlichen Regierung die Senkung der Lohnkosten und das Streichen von Sozialleistungen diktiert. Da renommiert es sich natürlich schlecht mit der alten sozialdemokratischen Rede von einer ‚ausgleichenden Gerechtigkeit‘, die unschöne Resultate der freien Marktwirtschaft bei der Arbeiterschaft staatlicherseits korrigieren müßte. Das würde ja glatt unterstellen, daß es dafür einen Grund und somit einen politischen Handlungsbedarf gäbe. Was der arbeitende Teil der Bevölkerung heute braucht, ist einzig, daß die Geschäfte gut gehen. Das macht so manches sozialdemokratische Markenzeichen zum obsoleten Kalauer. Deswegen verlangt der neue Hoffnungsträger der Partei von dieser, mit einigen Vorstellungen über die Rolle des Staates aufzuräumen (FR) und so manche Vorstellungen einzumotten. Die Genossen sollen schlicht jeden Touch linker Programmatik begraben: Es gibt keine linke oder rechte Politik, es gibt nur gute oder schlechte Politik. Schröder stellt seine innovative Kraft unter Beweis, wenn er dem SPD-Parteitag die Denkweise der Unternehmer aufzwingt (Zeit) und es dem politischen Gegner unmöglich macht, mit ihm einen „Lagerwahlkampf“ zu führen.

Der Staat ist kein Verteilungsstaat, läßt Schröder seine Mannschaft wissen, als hätte er sich je als solcher betätigt. Also, folgert er weiter, kann es nur im gemeinsamen Interesse aller seiner Insassen liegen, wenn er von solchen „ideologischen“ Tendenzen befreit wird, um seiner wahren Aufgabe, die schöpferischen Kräfte des Volkes zu bündeln, gerecht zu werden. Wenn er des weiteren verspricht, jeden Schritt daraufhin zu prüfen, ob er vorhandene Arbeitsplätze sichere oder neue Arbeitsplätze schaffe, dann kann sich der Manager der Deutschland AG, wie er sich gerne nennen läßt, darauf verlassen, daß dies keiner als Befürwortung einer besonderen Rücksichtnahme auf Lohnabhängige mißversteht. Das wäre ‚unmodern‘ und würde bloß die schöpferischen Kräfte der deutschen Industrie strangulieren. Schröder apostrophiert mit solchen Merksätzen die Freisetzung des Geschäftemachens und verspricht, die ganze Palette des längst definierten staatlichen Handlungsbedarfs von der Entbürokratisierung des Staates bis zur Senkung der Lohnnebenkosten, von einer Bildungs- und Qualifizierungspolitik bis zu einer Steuerreform, die mittlere Einkommen und Existenzgründer entlastet, viel konsequenter herbeizuregieren, als dies sein Rivale getan hat. Dessen – nicht unbeachtliche – Leistungen in solchen Fragen kritisiert der neue SPD-Mann als Stillstand und verspricht, das investitionsfeindliche Klima der Regierung Kohl zu überwinden.

Dazu empfiehlt Schröder sich und die Seinen als die Kraft des Neuen. In diesem Parteitagsmotto kommt deutlich zum Ausdruck, daß erstens alles beim Alten bleiben soll, das aber zweitens mit viel neuer Kraft vorangebracht werden soll. Ausdrücklich macht Schröder darauf aufmerksam, daß er sich mit diesem Slogan nichts von der Sache her Neues vorgenommen hat: Wir werden nicht alles anders machen, aber wir werden es besser machen. Die demonstrative politische Unterschiedslosigkeit soll ihn gerade zur würdigen personellen Alternative zu Kohl machen. Dessen Zeit sei nämlich abgelaufen, während seine gerade anbricht. Auch diese Sinnestäuschung will der Parteitag mit seinem ganzen Tamtam suggerieren. Das Aufgebot der SPD-eigenen historischen Figur, Altbundeskanzler Schmidt, überhöht schließlich den Appell an das patriotische Verantwortungsbewußtsein der deutschen Wählerschaft, den Niedergang Deutschlands durch Schröder stoppen zu lassen, auch noch auf hanseatisch: Wir werden mit vier Jahren gar nicht auskommen, um das schwer havarierte deutsche Schiff wieder auf ebenen Kiel und auf einen klaren Kurs zu bekommen.

Alles in allem also eine vorwärtsweisende Präsentation des neuen deutschen Hoffnungsträgers und die bekommt natürlich von den demokratischen Hofberichterstattern gute Kritiken und von den national gesonnenen Wählermassen gute demoskopische Werte: Die Beliebtheitskurve des Umfrage-Rekordlers im ‚Politbarometer‘ steigt erneut. Allerdings: ein bißchen Naserümpfen über so viel amerikanisiertes Medienspektakel ist unüberhörbar. Anspielungen wie Hollywood an der Pleiße (Spiegel) oder Schröder oskarreif (SZ) mahnen ausgerechnet etwas mehr heimische Art beim deutschen Personenkult an.

Daß die Kandidatenpräsentation tatsächlich gut deutsch ist, meldet im Klartext nur Bild. Das verläßlich nationale – wahrlich ‚überparteiliche‘ – Blatt zeigt keinerlei Berührungsängste mit den neuen Formen des SPD-Führerkults und verzichtet auf jedes geschmäcklerische Ressentiment gegenüber Schröders Triumph auf dem Parteitag. Wer so viele Deutsche begeistern und die SPD zum Kanzlerwahlverein machen kann, den erklärt das Blatt schon vorab zum Sieger: Wer kann Schröder jetzt noch stoppen?