Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
„Guildo für Deutschland – Deutschland für Guildo“

Die Nation entschließt sich, einen eigentlich unwürdigen, aber erfolgreichen Sänger zum passenden Repräsentanten der Nation umzudefinieren und gibt ihn damit zur nationalen Eingemeindung frei. Diese funktioniert – auch und gerade bei Leuten, die eigentlich nur ihre ‚Spaßkultur‘ pflegen …

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

„Guildo für Deutschland – Deutschland für Guildo“

  1. Einer will sich einen Jux machen. Er verhohnepipelt die deutsche Schlagerwelt, indem er sich zum Vertreter des schlechten Geschmacks – „orthopädische Strümpfe“, Bauch, Schweiß und Gewänder – stilisiert, als solcher deren alte Hits zelebriert, sich einen extra niveaulosen Schlager schreiben läßt und sich damit beim Grand Prix d’Eurovision anmeldet.
  2. Ein harmloser Spaß? Nicht für die Bildzeitung, die sofort die Frage aufwirft: Darf so einer für Deutschland singen? Ein Anschlag auf die Nation? Drunter geht da gar nichts. Deutschland hat nämlich 1. ein Recht darauf, würdig vertreten zu werden und das 2. dermaßen immer und überall, daß es dieses Recht gegenüber jeder Unterabteilung des auf seinem Boden stattfindenden Getümmels geltend macht. Von deutschem High tech, deutscher Wurst bis eben auch zum deutschen Schlager muß sich jedes Gewerbe die Frage gefallen lassen, ob es für die nationale Selbstdarstellung taugt.

    Das bleibt auch dem Sänger nicht erspart. Seine paar Scherze leben zwar ganz davon, daß die berufsmäßigen Geschmacksverwalter eine nationale Problemlage ausgerufen haben: Die Qualität des deutschen Schlagers; international kommen „wir“ damit nicht an, folglich wird an dessen mangelnden „Niveau“ gelitten. Dennoch werden die Scherze gnadenlos mit der Niveaufrage konfrontiert, mit der sie kokettieren. Das ist ein Witz. Über den lacht aber wieder mal kein Schwein.

  3. Es gibt nämlich ein Problem: Die mittlerweile nicht wenigen Anhänger „des Meisters“ – die Profis der Jugend-Musikszene haben sich auch einen Jux gemacht und ihre Anhänger zur Guildo-Horn-Fan-Gemeinde organisiert –, verstehen den Ernst der Lage nicht. Sie bestehen auf ihrem Recht auf „Spaßkultur“, mit der man sich und seiner Umwelt beweist, daß man echt irre gut drauf ist, und telefonieren Guildo an die deutsche Spitze und damit nach Birmingham.

    Was tun? Die Nation hat es mit einen unwürdigen Repräsentanten zu tun, der mit seiner Tour offenkundig Erfolg hat und Deutschland beim europäischen Schlagerwettbewerb vertreten wird. Entweder die Nation hadert in Gestalt ihrer Kulturbeauftragten in den Feuilletons mit ihrem Schicksal, gibt sich womöglich die Blöße, für humorlos gehalten zu werden, oder sie nimmt die Sache energisch in die Hand und definiert ihn zu einem passenden Repräsentanten um. Die Nation entscheidet sich für Letzteres.

  4. Mit diesem Beschluß ist der Sänger zur nationalen Vereinnahmung freigegeben, als „Kultfigur“ ausgewiesen. Zu der wird er aufbereitet, indem an ihm nun jeder entdecken will, was er Wertvolles für die Nation leistet. Was an ihm für verehrungswürdig gehalten wird, wird dabei ganz dem freiheitlichen guten Geschmack überlassen. Als Ausweis des sprichwörtlichen deutschen Frohsinns zeigt er den einen, wie sympathisch diese Nation doch ist. Andere, minderjährige Pummel, bekennen im deutschen Fernsehen, daß Guildo sie wirklich liebt und sie sich ganz echt bei ihm zu Hause fühlen. Ausgewachsene Psychologen nehmen das zum Anlaß zu erläutern, inwiefern Guildo Horn das Grundbedürfnis von Menschen, sich zu Hause zu fühlen, intuitiv erfaßt und richtig bedient. Die Mentoren der deutschen Schlagerzunft danken Guildo (leicht angegiftet oder ehrlich verkniffen), daß es ihm gelungen ist, – endlich! – Jugend und Schlager wieder zusammenzuführen, die Nation, d.h. ihre edelsten Teile, wieder mit sich selbst zu versöhnen. Das geht 3 Wochen so zu, und siehe da:
  5. Die Nation versteht sich als große Guildo-Horn-Fan-Gemeinde. Am Tag der Entscheidung feiert sie eine riesige deutsche Familienfete: Sonne und Guildo! Ganz Deutschland grillt und piept (Bild, 9.5.) Die Hartgesottenen fahren nach Holland und in die Schweiz, um von dort den Heimvorteil der Türken zu überlisten, die aus unserem Deutschland heraus einfach für ihren singenden Üzgür telefonieren dürfen. Der Rest der Gemeinde wundert sich, daß die südlichen und östlichen Länder die neue deutsche Spaßkultur nicht verstehen (Live-Kommentar) und bierernst an ihren Traditionen wie Polka und Transsexualität hängen; und alle zusammen ärgern sich über die Engländer, die den fuckin’ German nach uns vertrautem Muster in die nationalistische Pfanne hauen: Jedes Land kriegt den Sänger, den es verdient – nein, so lassen wir uns mit unseren hohen Maßstäben gelungener Repräsentation nicht konfrontieren. Wenn wir Deutschen einmal brüllkomisch auftreten wollen, dann hat das gefälligst respektiert zu werden:
    „Weniger Verständnis haben die israelischen Fans, die mit wehenden Fahnen vorbeikommen und einfach nicht begreifen wollen, daß den Deutschen ein siebter Platz wichtiger ist als ein israelischer Sieg. Sekundenlang wirkt es so, als könnte doch Nationalismus eine Rolle spielen. Aber die Deutschen lachen und singen.“ („Gong. Klar. Kritisch. Kompetent.“ Nr. 20)

    Wir, wir verstehen Spaß! Und wenn die anderen den nicht verstehen, dann bringen wir das denen schon noch bei.

  6. Der nationale Geist läßt keinen noch so abseitigen Gegenstand, kein Vergnügen, keine Mode aus. Kein Unsinn, der nicht beansprucht, überprüft, verworfen oder eingemeindet würde. Und diese Eingemeindung funktioniert – auch und gerade bei Leuten, die ihre „Spaßkultur“ pflegen: die meinen glatt, sie hätten die Nation hinter sich gebracht. Das zeigt, wie wenig die mit Späßen demonstrierte Distanz taugt: Sie mündet in totale Distanzlosigkeit. Weil es der modernen Menschheit um ihre formvollendete Haltung zu tun ist, um die Inszenierung, wie souverän, d.h. verächtlich man im Grunde über allem steht, kommt es ihr auf die Sache, über der sie steht, auf die Gründe, die für oder gegen sie sprechen, gleich gar nicht an. Für dieses Bedürfnis ist der deutsche Schlager der passende Stoff, weil das Urteil über dessen „Niveau“ schon fix und fertig zu haben ist, und man sich dem nur noch anzuschließen braucht. Trifft diese Haltung auf Anerkennung – die der Öffentlichkeit und schließlich sogar noch die der ganzen Nation –, verdient auf einmal der verarschte Gegenstand Begeisterung. Er stiftet dann ein klasse Gemeinschaftsgefühl und umgekehrt stiftet der Nationalismus Vergnügen. Und der deutsche Schlager darf mit etlichen Fans aus der Jugendszene eine Renaissance erleben.