Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Endlich erschienen:
Das Hauptwerk des Soziologen N. Luhmann
oder: „Wir können unseren Augen nicht trauen.“

Einige sachdienliche Hinweise zur soziologischen Vergeheimnissung der Welt und ihrem gesamtgesellschaftlichen Nutzen.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog

Endlich erschienen:
Das Hauptwerk des Soziologen N. Luhmann
oder: „Wir können unseren Augen nicht trauen.“

Niklas Luhmann, weltweit gelesen, wütend und heiß diskutiert, einer der an- und aufregendsten Soziologen der Gegenwart (SZ 6./7.12), beschenkt zu seinem 70. Geburtstag die Menschheit mit seinem vorläufigen summum opus: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Was wollen uns diese Worte sagen? Ist’s der genitivus possessivus? Definitivus? Explicativus? Womöglich nur ein Druckfehler? Alles falsch, wie uns der Rezensent der SZ versichert. Der Mann hat vielleicht gar nicht Soziologie studiert. Er bringt aber soviel guten Willen mit zu verstehen, wie Soziologie geht, daß wir ihm auch ohne Diplom vertrauen:

„Der Titel ist ein wenig rätselhaft. Würde man ihn ausführlich auslegen, dann hätte man schon die halbe Theorie verstanden (…), denn in diesem Titel wird Gesellschaft selbstbezüglich gedacht, sie wird bewußt in einen Zirkel hineingedreht: Einmal die Gesellschaft aus der Position der Gesellschaft betrachtet – da ist sie Objekt. Dann die Gesellschaft, die sich Gesellschaft selber herstellt – da ist sie Subjekt. Das changiert ständig, springt um von der einen Perspektive zu der anderen (…) Das Ganze bildet ein System, dessen Teile sich wechselseitig hervorbringen: Die Gesellschaft produziert Gesellschaft. Oder ein bißchen kühner und komplizierter: Die Gesellschaft produziert eine Gesellschaftstheorie, die ihrerseits erst die Gesellschaft sichtbar macht, die diese Theorie produziert hat. Wichtig ist die ständig mitlaufende Einsicht, daß die Theorie selber zu der Gesellschaft gehört, die sie zu verstehen versucht.“

So ist das also. Kein Druckfehler, sondern wir sind schon beim Titel mittendrin in der soziologischen Systemtheorie: Wir entschließen uns dazu, von der gesellschaftlichen Welt, in der wir leben, gedanklich einmal ganz tüchtig Abschied zu nehmen, freilich nur, um sie endlich einmal ganz gründlich kennenlernen zu können. Die Einrichtungen der Gesellschaft, die wir kennen, ignorieren wir also, vergessen alles, was wir von ihnen wissen, und sofort türmt sich vor unserem geistigen Auge ein riesiges Sammelsurium auf. In dem wollen wir dann allerdings Ordnung schaffen und uns genau auskennen, und so fragen wir fürs erste, was den ganzen Verhau, den wir uns erdacht haben, überhaupt zu so einem „Ganzen“ macht: Wie mag das kommen, daß in dem einerseits alles so verschieden, andererseits doch immer dasselbe, nämlich ein und derselbe Verhau ist? Sehr gut gefragt, denn augenblicklich stellt sich die Antwort ein: Es ist das „Ganze“ selber, das sich macht, weil alle „Teile“, die es hat, darauf hinauslaufen, ein Ganzes zu ergeben! Der Verhau hat schon seine Ordnung, und wir haben sie gefunden. „System“ sagen wir dann zu ihr, ersatzweise „Gesellschaft“, weil die meinen wir ja. Mit uns selbst verfahren wir ungefähr genauso. Wir vergessen einfach, daß bloß wir uns das alles ausgedacht haben, und schon wissen wir, wie „Gesellschaft“ und „Theorie“ zueinanderpassen: „Theorie“ ist genau der Teil vom Ganzen, in dem wir uns ausdenken, daß alle Teile immer ein Ganzes machen, und auch diese Einsicht lassen wir fortan immer „mitlaufen“.

Denn obwohl die Hauptsache im Grunde schon gelaufen ist, wird es jetzt erst richtig spannend:

„Eine der wichtigsten Sachen, die niemand unmittelbar sehen kann, die es aber offenbar gibt als eine uns irgendwie tangierende Größe, ist die Gesellschaft. (…) Wer ist dabei eigentlich wo? Wir hier, die Gesellschaft dort? Uns gegenüber? Um uns herum? In uns drin vielleicht? Wenn das so sein sollte: Wo denn da genau? Fragen über Fragen. Was ist Gesellschaft wirklich?“

Wo wir sind? Alles schon wieder vergessen? In der Soziologie sind wir natürlich, und die ist eine einzige Antwort auf die Frage, was „Gesellschaft“ „wirklich“ ist. Die kennt die wahre Hinterwelt hinter der, die jeder kennt, und diese nimmt sich für uns inzwischen – das ist sehr erfreulich – schon ziemlich vertraut aus:

„Gesellschaft – wir sind wieder bei Luhmann angekommen – ist ein System. Aber was ist ein System? Ein System ist ein Ganzes, das die Elemente, aus denen es besteht, selbst produziert. Man darf sich das jetzt nicht allzu anschaulich vorstellen.“

Letzteres ist ganz wichtig. Erst wenn wir bereit sind, abstrakt zu denken; erst wenn wir uns dazu entschließen, über die wirkliche Welt Gedanken zu fassen, zu denen man sich tatsächlich nichts Wirkliches mehr vorstellen kann, sind wir Soziologen und haben – als einzige! – wenigstens eine Ahnung davon, was für ein Rätsel „Gesellschaft“ überhaupt ist. Sicher ist die Durchführung des Vorhabens, in ein inhaltsloses Gegenbild zur wirklichen Welt eine Ordnung hineinzudenken, nicht einfach. Es ist auch so, daß man sehr rasch den Überblick über alles verliert, was man sich so zusammendenkt, wenn man nichts Bestimmtes mehr im Kopf hat:

„Luhmann sagt immer wieder, die Theorie diene der Reduzierung der Komplexität. Erst einmal aber macht sie in schwindelerregendem Ausmaß Komplexität sichtbar.“ Dann aber: „Wenn man dann nach einer Weile das theoretische Arsenal zu benutzen gelernt hat, um tatsächlich die wahrgenommene Komplexität verstehend zu reduzieren, dann stellt sich eine simple Erfahrung ein: Durch Reduktion von Komplexität wird man fähig, nicht etwa einfacher zu denken – sondern komplexer.“

So winkt hinter der ungewohnten Mühe unserer Abstraktionen als dicker Lohn die Erkenntnis, und wir werden in unserem Entschluß zur Vergeheimnissung der Welt dadurch belohnt, daß er uns irgendwann immer genau das Geheimnis vor Augen führt, als das wir die Welt dann richtig wahrnehmen können: Mit einiger Übung stellt sie sich tatsächlich als so „komplex“ dar, wie wir sie uns denken!

Das macht uns vielleicht ein wenig schwindeln. Doch wenn wir die Sache nüchtern betrachten, wird schnell alles furchtbar simpel. Wir wissen zwar nicht mehr, was wir in unserem „komplexen“ Denken noch auseinanderhalten sollten und überhaupt könnten. Dafür erinnern wir uns umso besser daran, wie das Auseinanderhalten von Verschiedenem ganz grundsätzlich geht, und das beherzigen wir dann stattdessen:

„Die Bauelemente von Luhmanns Theorie sind Unterscheidungen, Differenzen. Die Konsequenzen dieses „Theorie-Designs“, um in seiner Sprache zu reden, sind gewaltig (…): Mache einen Unterschied. Unterscheide in dem Unterschiedenen. Mach so weiter. Unterscheide die Unterscheidungen. Und mach weiter.“

Dann geht’s dahin. Wir dürfen nur nicht wieder zurückfallen und etwa meinen, unser Unterscheiden hätte irgendetwas mit irgendwelchen wirklichen Unterschieden zu tun. Solche Erinnerungen haben wir uns ja schon beim „System“, dem „Ganzen“, das sich aus seinen „Teilen“ macht, erfolgreich verkniffen. Das müssen wir jetzt auch wieder tun, denn genau genommen fangen wir jetzt, wenn wir „Unterscheidungen“ treffen, ja auch nur nochmal mit demselben von vorne an, was wir mit unserem „System“ schon fertig gedacht hatten. Wir denken uns jetzt nur nicht mehr allein, daß alles dasselbe und doch verschieden ist und umgekehrt, sondern wie. Daß alles ein Kommen und Gehen ist, zum Beispiel, ein Vorher und Nachher – das wären so brauchbare Vorschläge für unser Vorhaben, ganz ohne einen Inhalt eine „Einheit“ und einen „Unterschied“ zu denken. Und siehe da, paßt genau:

„Der Unterschied, an dem sich für die Soziologie (…) alles entscheidet, liegt in folgender Einsicht beschlossen: Das System Gesellschaft besteht aus zeitlichen Verläufen. Sehr grob gesagt: Gesellschaft besteht aus gegliederter, strukturierter Zeit.“

Stunden, Tage und Wochen verrinnen, „Gesellschaft“ aber nicht. Die bleibt ewig mit sich gleich, obwohl doch soviel in ihr passiert, so daß sich uns unmittelbar die umgekehrte Einsicht aufdrängt, wonach „Gesellschaft“ aus gar nichts anderem bestehen kann als aus dem, was in ihr alles an Zeit verrinnt.

Beinahe haben wir damit das Innere, das Allerheiligste des Luhmannschen Theorietempels erreicht, den kleinen Zerberus davor erledigen wir mit links. Denn zwar erhalten wir auf die Frage, ob „Zeit“ nun wirklich die letzte aller möglichen Abstraktionen war, wenn wir an unsere Gesellschaft denken, sofort die bündige Auskunft: Nein. Aber wir haben ja unseren Universalschlüssel zum Knacken leerer Abstraktionen: Auch „Zeit“ können wir uns noch als „System“ denken, das „Elemente“ hat, also als „Einheit“ von „Unterschieden“, und wenn wir diesem doch schon so oft und gut bewährten Gedanken ein letztes Mal einen neuen Namen geben, sind wir endlich am Ziel:

„Das Element, aus dem dieses sich zeitlich immer wieder neu reproduzierende System besteht, ist, näher bestimmt, Kommunikation. Gesellschaft besteht aus Kommunikation – aus nichts weiter. Kommunikation (…) ist die Einheit der Differenzen von Mitteilung, Information und Verstehen. Eine komplexe Einheit…“

Das war’s. So denkt ein großer Soziologe sich die Welt, in der wir leben. Das mag uns etwas befremden, zumal von uns selbst, den Mitgliedern dieser Gesellschaft, und von dem, was wir so tun und treiben beim Wählen, Geldverdienen und in der Freizeit, recht wenig, genau genommen: ganz und gar nicht die Rede war. Darf uns aber nicht befremden:

„Und der Mensch? Er ist nicht verschwunden. Er lebt in der Umwelt, lebt als Umwelt des Systems Gesellschaft. Und die Gesellschaft ist Umwelt für ihn. Beide Seiten existieren in unaufhörlichem Austausch. Man beginnt zu verstehen, was das zu bedeuten hat.“

Wir haben bereits schon so sehr viel verstanden. Wir haben ein erschütterndes Dokument vom Nutzen der Geistes- und Gesellschaftswissenschaft kennengelernt. Der besteht darin, in 1164 über die Gesellschaft, in der wir leben, vollgeschriebenen Seiten garantiert keinen einzigen wirklichen Zweck vorkommen zu lassen und ihr stattdessen eine Zweckhaftigkeit anzudichten, die sie garantiert nicht hat. In deren Licht besehen entpuppt sich die ganze Welt insofern als eine ungemein zweckmäßige Einrichtung, als man endlich weiß, worum sich in ihr alles dreht – eigentlich nämlich. Dieses Wissen ist zwar zu nichts wirklich nützlich. Es taugt weder zur Verbesserung noch zur Kritik von irgendetwas, das es im gesellschaftlichen Leben gibt. Es ist auch so, daß einer sehr schnell zum psychiatrischen Pflegefall würde, glaubte er im Ernst daran, daß er als Umwelt in der Umwelt lebt. Aber das tut er ja gar nicht. Im Regelfall glaubt einer, der einem Soziologen glaubt, eben nur, nunmehr in Besitz eines Gesichtspunkts zu sein, unter dem ihm alles, was es gibt, wenigstens verständlich wird. Von nichts etwas Bestimmtes, dafür aber ganz bestimmt zu wissen, daß letztlich alles zusammen zielstrebig auf ein und denselben Sinn hinausläuft: Das und sonst nichts ist der gesamtgesellschaftliche Nutzen, für den Niklas und Konsorten ihre Bücher schreiben. Das tun sie allerdings auf einem so hohen methodischen Niveau, daß selbst ihren verbissensten Exegeten die Luft ausgeht und sie am Ende nur noch Bahnhof verstehen. Daher ist anzunehmen, daß breitere Bevölkerungskreise zur Befriedigung ihres elementaren Wissensdurstes dann doch eher zur Bibel greifen werden. Macht der Soziologie aber gar nichts: Sie hat nämlich die Funktion klarzumachen, daß auch das eine Funktion hat.