Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Lauter sozialdemokratische Wahlsiege
„Morgenröte für Europas Linke“

Die Wahlerfolge von Sozialdemokraten und ähnlichen „Linken“ in Europa bedeuten alles andere als eine arbeiterfreundliche Revision der bisherigen Politik.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Lauter sozialdemokratische Wahlsiege
„Morgenröte für Europas Linke“

Eine demokratische Zwischenbilanz bringt es an den Tag: Europa wird rot. Neulich die Wahl in Großbritannien, nun die in Frankreich, letztes Jahr bereits die italienische – mit Ausnahme der Deutschen und der Spanier haben die Wahlbürger der Europäischen Union allenthalben Sozialdemokraten, Sozialisten, ja sogar Kommunisten an die Macht gebracht.

Verdient haben sich „die Linken“ diesen schönen Erfolg dadurch, daß sie überhaupt keine Linken mehr sein wollen. Selbst noch dem schäbigen Part haben sie abgeschworen, die Amtsgeschäfte ihrer kapitalistischen Nationen mit vorrangiger Rücksicht auf die „sozialen Belange“ der Lohnabhängigen versehen zu wollen. Das ist den bürgerlichen Chronisten auch durchaus nicht entgangen. Aber weil eben sie es sind, die nun den Regierungsdienst versehen, und weil sie vom Wähler den Vorzug vor den zuvor amtierenden bekennenden Rechten erhalten haben, läßt weder die verbitterte konservative noch die triumphierende sozialistische Öffentlichkeit davon ab, von einer Machtergreifung der Linken zu sprechen.

Ein eurokommunistisches oder auch nur sozialdemokratisches „Gespenst“ sehen dennoch nur jene ganz hartgesottenen Reaktionäre in Europa umgehen, für die bereits mit Deutschlands Roman Herzog die linke Mitte anfängt. Nachdem einige Jahrzehnte lang die Rechten in Europa für Recht, Ordnung und den „Umbau des Sozialstaats“ gesorgt haben, sind die Parteien mit vergilbter antikapitalistischer Gründungsurkunde einmal mehr programmatisch zur Vernunft der marktwirtschaftlichen Staatsräson gekommen: New Labour sieht so aus, daß ein junger dynamischer Parteichef mit Methoden, die im andern Fall als stalinistisch verurteilt würden, seiner Partei alle Erinnerungen an eine sozialistische Programmatik austreibt und als glanzvoll gewählter Premierminister den Armen und den Arbeitslosen, die ihn an die Macht gewählt haben, mit der Erkenntnis kommt, ihr Elend sei genaugenommen ein Ergebnis des staatlichen Wohlfahrtssystems, weil das ihnen nämlich den Willen zur Arbeit genommen hat. Auf dem italienischen Stiefel verschreibt sich die nationale Linke dem unverfänglich-patriotischen Emblem des Olivenbaums und in dessen Zeichen der Sanierung der Staatsfinanzen zu Lasten der Ausgabeposten, auf die bislang immerzu viel zu große Volksmassen einen kleinen Rechtsanspruch hatten; ihren Reformeifer beweist sie außerdem mit der verfassungsrechtlichen Konstruktion eines starken Präsidentenamtes; und eine traditionsbewußte Abspaltung unter dem Namen Rifondazione Comunista trägt jeden Schritt zur weiteren Verarmung der geschätzten Massen mit, den die amtierende Regierung ins Programm nimmt – selbstverständlich nur, um die Machtergreifung der Rechten zu verhindern. Der Sozialismus in den Farben Frankreichs kommt, doppelt traditionsbewußt, mit dem Versprechen neuer Arbeitsplätze an die Macht, mit dem sich bereits zwei Jahre zuvor der gaullistische Präsident hat wählen lassen; weil freilich auch dem neuen Premier nicht alles sofort möglich sein wird, beweist er seine fortschrittliche Gesinnung einstweilen durch eine radikale Verjüngung und Feminisierung des Kabinetts und macht saubere Politik für Frankreich, indem er ansonsten durchaus ministrablen Parteigenossen, die sich gerade wegen Steuerhinterziehung verantworten müssen, keinen Regierungsposten gibt; derweil legen die mitregierenden Kommunisten den Grundstein zu einer erfolgreichen Volksfrontregierung mit einem Rückzug bei der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns, von dem ziemlich viele ihrer Volksgenossen leben müssen und nicht können. Und so weiter.

Von irgendeinem Verrat an irgendwelchen linken Prinzipien kann hierbei nicht die Rede sein. Europas Sozialisten haben schon immer gewußt, daß sie erst einmal sich für die Regierungsgewalt qualifizieren müssen, bevor sie daran denken können, mit der erworbenen Macht den Staat für irgendwelche sozialen Belange zu „qualifizieren“; und spätestens im Regierungsamt haben sie noch allemal schnell gemerkt und akzeptiert, daß mit ihrer Machtübernahme die sozialistische Umwidmung der Regierungsgewalt im Grunde schon vollendet ist, weil der Job zwar neues Personal verträgt, aber keine Umdefinition zuläßt. Ganz auf dieser Linie konzentrieren die Linken in den letzten Jahren ihren Einsatz für die „sozialen Rechte der abhängig Beschäftigten“ voll auf das Anliegen, in dem diese „Rechte“ mit dem elementaren bürgerlichen Staatsinteresse an möglichst viel kapitalistischem Geschäft im jeweils eigenen Land unterschiedslos zusammenfallen: Arbeitsplätze sollen her, mit denen die Firma, die sie schafft, zur Mehrung des kapitalistischen Reichtums in der Nation beiträgt und der Sozialpolitik versorgungsbedürftige Paupers erspart. Die tiefe Einsicht in die noch viel tiefere Abhängigkeit der abhängig Beschäftigten vom Geschäft ihrer Arbeitgeber hat Europas Linke noch nie zu Kritikern dieses Verhältnisses gemacht, sondern zu Anwälten seines Gelingens; nur logisch, daß die „soziale Frage“ sich für sie haargenau so wie für jeden Rechten in den nationalen Bedarf an erfolgreichen Kapitalisten auflöst. Den verwalten sie und beweisen dabei von Lissabon bis Helsinki, daß sämtliche Notwendigkeiten ebenso wie die vielen Extrawünsche, die die Marktwirtschaft in ihren Nationen auf die Tagesordnung setzt und deren Macher anmelden, bei ihnen mindestens so gut aufgehoben sind wie bei den Kohls und Thatchers.

Erledigt hat sich damit auch das uralte sozialistische Schreckgespenst der Vaterlandslosigkeit des Proletariats. Und zwar nach einem ganz schlichten politökonomischen Dreisatz: Die Arbeiter einer Nation brauchen nichts als Arbeitsplätze; die gibt es bestenfalls dann, wenn kapitalistische Firmen vom jeweiligen Heimatboden aus Konkurrenzerfolge gegen andere anderswo erzielen; also gebietet der proletarische Internationalismus heute Rücksichtslosigkeit, insbesondere gegen soziale und Lohnansprüche der heimischen Arbeiter, im Konkurrenzkampf der Nationen um Geschäftsanteile. Die europäische Linke jedenfalls hat begriffen, daß – fast so, wie ihre Gründerväter es gemeint haben – ein kapitalistisches Vaterland und die materiellen Bedürfnisse des lohnarbeitenden Fußvolks einander ausschließen; daraus hat sie den Schluß gezogen, daß es dem Vaterland in der kapitalistischen Konkurrenz schon ganz besonders gut gehen muß, wenn für die Arbeiterklasse eventuell doch etwas, nämlich ein vergüteter Arbeitsdienst abfallen soll. In diesem Sinne bringt sie den Betroffenen bei, daß der Verzicht, der ihnen von Staats wegen aufgenötigt wird, sie nicht etwa mit den Lohnarbeitern der anderen Nationen, sondern mit dem Staat verbindet, dem ihre Opfer zugute kommen. So kriegt das europäische Proletariat endlich lauter linke Vaterländer und einen überhaupt nicht alternativen Patriotismus dazu.

Fragt sich nur, warum Europas mündige Bürger dafür mehrheitlich ausgerechnet ihre sozialdemokratisch oder sogar kommunistisch firmierenden Traditionsvereine mit Regierungsmacht ausgestattet haben. Glaubt man den aktiv und passiv Wahlberechtigten, so ist die Antwort freilich sehr einfach: Das entscheidungsbefugte Volk mochte seine alten Herren einfach nicht mehr sehen. Und was für bessere Gründe wären für eine demokratische Wahlentscheidung zu haben? Gerade wenn sich allgemein herumgesprochen hat, daß die maßgeblichen Parteien – und unmaßgebliche wählt ein vernünftiger Wähler ohnehin nicht – in der Beurteilung der Konkurrenzlage ihrer Nationen völlig übereinstimmen und allesamt den gleichen Handlungsbedarf sehen, dann wendet sich das demokratische Publikumsinteresse doch nur um so freier der Personalfrage zu und leistet sich schon mal den Genuß, den selbstzufrieden gewordenen altgewohnten Herrschaften gründlich heimzuleuchten. Das war die Chance der Sozialisten in Europa, das ist ihr Erfolgsgeheimnis in Großbritannien und Frankreich, das ist ihre Hoffnung auch in Deutschland, das ist überhaupt für mündige Wähler das überzeugendste Programm: Sie waren lange genug nicht dran!