Wie die am Balkan-Krieg der NATO beteiligten Nationen kalkulieren:
Die russische Leistungsbilanz: Niederlage oder Erfolg, Vaterland verraten oder Weltfrieden gerettet? Ein vielversprechender Auftakt für die nächste Runde Machtkampf

Während des gesamten Kriege beschwert sich Russland über die Missachtung seiner Interessen und über die Völkerrechtsverletzungen. Gleichzeitig werden die Nato-Kriegstreiber aufgefordert, zum Rechtszustand zurückzukehren. Die Besichtigung ihrer militärischen Fähigkeiten lässt die Russen aber von militärischen Eingriffen oder Hilfeleistungen Abstand nehmen. Nach Kriegsende wird geschönt bilanziert: Russland hat den 3.Weltkrieg verhindert, von der Nato nur Undank geerntet und dennoch die guten Beziehungen gerettet. Im Land wird der Regierung Verrat an nationalen Interessen vorgeworfen, weil sie ihr Gewicht zu wenig durchgesetzt hat – andrerseits wird sie dafür getadelt, dass sie sich überhaupt eingemischt und deshalb die Blamage der Ausmischung erfahren habe.

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Wie die am Balkan-Krieg der NATO beteiligten Nationen kalkulieren:
Die russische Leistungsbilanz: Niederlage oder Erfolg, Vaterland verraten oder Weltfrieden gerettet?
Ein vielversprechender Auftakt für die nächste Runde Machtkampf

1. Rußland sieht sich durch den Krieg der Nato gegen Jugoslawien herausgefordert und bedroht – in mehrfacher Hinsicht.

Rußland unterhält freundschaftliche Beziehungen mit der Bundesrepublik Jugoslawien und hat seinerseits nicht den geringsten Grund, ein Programm gutzuheißen, das den jugoslawischen Rest-Staat noch einmal verkleinern möchte. Schon während der Vorkriegsphase, genau genommen, seitdem die Nato-Staaten sich um den Zerfall Jugoslawiens und Stabilität auch auf dem Balkan kümmern, sieht sich Rußland gezwungen, seine ebenso maßgebliche Zuständigkeit für die europäische Friedensordnung gegen die einseitige antiserbische Herangehensweise geltend zu machen. Dabei ist es in die Rolle einer Schutzmacht der Serben geraten und will die, als Mitglied der Kontaktgruppe, auch wahrnehmen, so gut es geht. Es verteidigt die „Souveränität und territoriale Integrität“ Jugoslawiens gegen die Verhandlungsführer von Rambouillet und bezieht die Position, daß die Bundesrepublik Jugoslawien als souveräner Staat ihre Militär- und Sicherheitskräfte stationieren könne, wo sie wolle – auch im Kosovo, und die Nato habe kein Recht, deren völligen Abzug zu fordern… Die Bedingungen an Belgrad seien v.a. von den USA vorsätzlich unannehmbar formuliert worden, um die zwangsläufige Ablehnung zum Vorwand für Gewaltanwendung gegen die BRJ nehmen zu können. Rußland hatte auch für den Fall des Scheiterns der Kosovo-Verhandlungen nicht nur ein militärisches Vorgehen gegen die BRJ, sondern bereits Drohungen damit abgelehnt. (Österreichische Militär-Zeitung 4/99) Als osteuropäische Großmacht reklamiert Rußland sein traditionelles Recht auf dem benachbarten Balkan: Was sich in dessen Staatenwelt tut, die sich in der Nachkriegsepoche zwischen Bündnispartnerschaft und einem nicht-feindlichen Dritten Weg bewegt hat, geht Rußland auf jeden Fall einiges an – Amerika, das traditionell einen ganzen Kontinent als seinen Hinterhof behandelt, sollte das respektieren. Iwaschow, der Leiter der Auslandsabteilung des Verteidigungsministeriums, klagt die Nato an, in den alten Kompetenzbereich Rußlands einzudringen. (Il manifesto 4.6.) Rußlands Präsident Jelzin übertreibt zwar, was seinen heutigen Besitzstand angeht: Wir können nicht erlauben, daß die Nato Bodentruppen einsetzt, Jugoslawien übernimmt und es zu ihrem Protektorat macht. Wir können Jugoslawien nicht hergeben (FAZ 10.4.), kann sich aber darauf berufen, daß auf die Russische Föderation als Nachfolger der Sowjetunion auch deren Hinterlassenschaft übergegangen ist, was der Westen ja wohl anerkannt hat, also auch das Recht auf eine Rußland-genehme Balkan-Ordnung. Für ihren Standpunkt ziehen russische Politiker auch das Abkommen mit der Nato heran: Die Nato versetzte zudem der Grundakte zwischen Rußland und der Nato einen äußerst harten Schlag… Wie sieht es mit den in der Akte festgeschriebenen Pflichten aus, ‚Beratungen durchzuführen‘ und die ‚Zusammenarbeit‘ mit Rußland in solchen Bereichen wie ‚Sicherheit und Stabilität in der euroatlantischen Region oder konkreten Krisen‘ sowie eine ‚Konfliktvermeidung‘ anzustreben? (Der Moskauer Bürgermeister und Jelzin-Konkurrent Luschkow, Wostok 3/99) Rußland ist des weiteren herausgefordert in seiner Eigenschaft als UN-Vetomacht, auch ein Erbe der Sowjetunion, das einen Hauptposten der neuen russischen Macht ausmacht: Gewalt ohne Zustimmung des UNO-Sicherheitsrates sei völlig unzulässig und völkerrechtswidrig (ÖMZ), Luschkow: „Die Nato entwertete praktisch mit ihren Bombenangriffen die Charta und Prinzipien der UNO.“

Russische Strategen kommen nicht umhin, den Jugoslawien-Krieg der Nato in deren Osteuropa-Politik einzuordnen, und begreifen ihn als Element einer Einkreisung, die über den Balkan hinausgeht:

„Entgegen verschiedener Beteuerungen festigt die Nato durch ihr Vorgehen keineswegs die Sicherheit und Stabilität auf dem europäischen Kontinent. Die Aggression der Nato in Jugoslawien ist das augenscheinlichste Beispiel dafür. Die Osterweiterung der Nato ist ein Prozeß, der nicht auf die Kandidaten der ‚ersten Welle‘ beschränkt bleibt. Sie stellt eine langfristige Bedrohung für die Sicherheit Rußlands dar. Abschließend kann man sagen, daß die Ära der Konfrontation zweier Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme, die Ära des Kalten Krieges von einer ‚Ära der Dominanz der Nato‘, in der die nationalen Interessen der USA ausschlaggebend sind, abgelöst wurde.“ (Guseinow, Unabhängige Militärrundschau, ÖMZ 4/99)

Daß die USA unter dem Vorwand humanitärer Ziele darauf aus sind, eine unipolare Welt einzurichten, und dabei das Selbstbestimmungsrecht anderer Nationen mit Füßen treten, hat man schon seit längerem zur Kenntnis nehmen müssen. Ebenso die Tatsache, daß die USA gegenüber Rußland immer wieder sehr ähnliche Vorwürfe erheben wie die, die sie im Fall anderer Nationen dazu benützen, um diese eigenmächtig und willkürlich als „Schurkenstaaten“ zu brandmarken. Angesichts des Rechtstitels, unter dem die Nato ihren Krieg führt, betrachtet sich Rußland schließlich in seinem eigenen Bestand angegriffen, was auch beim russischen Volk angekommen ist:

„Mehr als zwei Drittel der Befragten äußerten in Umfragen die Befürchtung, daß die Nato auch in einen Nationalitätenkonflikt auf dem Territorium der Russischen Föderation eingreifen könnte. ‚Wird die Nato beim nächsten Mal wegen Tschetschenien Moskau bombardieren?‘“ (FAZ 28.6.)

Ein General aus dem Fernen Osten hält die Militärschläge für den Beginn des Dritten Weltkriegs. Sie könnten sich als Probe für analoge Schläge gegen Rußland erweisen. (FAZ 26.3.)

2. Wegen der Interessen und Rechte, die die Nato angreift, ist sich Rußland eine angemessene Reaktion auf die Herausforderung schuldig.

Gegen die ultimativen Drohungen des westlichen Bündnisses an die Adresse Belgrads erhebt Rußland Einspruch – eine militärische Einmischung in die inneren Angelegenheiten der souveränen BRJ wird man nicht zulassen. Nach Beginn des Bombenkriegs schlägt Rußland eine sehr harte, unversöhnliche Linie gegenüber dem Aggressionsakt der Nato ein. (Außenminister Iwanow, Moskovskie novosti 18/99) Jelzin verkündet noch am 24.3. die Abberufung des russischen Militärvertreters bei der Nato, General Sawarsin, die Unterbrechung der russischen Teilnahme am Nato-Programm „PfP“, die Aussetzung der Verhandlungen über eine militärische Verbindungsmission der Nato in Moskau – die beiden höchsten Repräsentanten der Nato in Rußland werden ausgewiesen. Außerdem wird das russische Kontingent in Bosnien dem Nato-Kommando entzogen, Rußland lehnt eine Einladung zu den 50-Jahr-Feiern der Nato in Washington ab, verurteilt im Folgenden das dort beschlossene neue strategische Konzept als Gefahr für die globale Stabilität (Guseinow) und Verletzung sämtlicher Abkommen, die eine weitere Zusammenarbeit unmöglich macht: Es ist kaum eine Partnerschaft mit der Organisation vorstellbar, die die eigenen und internationale Dokumente verletzt und durch ihre Gewaltpolitik die internationalen Probleme nicht löst, sondern zunehmend belastet. (Luschkow)

Rußland droht damit, daß es auch militärische Gegenmaßnahmen in Betracht zieht und betont, daß es sich dazu wegen der Verletzung des Völkerrechts durch die Nato legitimiert sieht. Jelzin: Moskau behalte sich das Recht vor, im Falle einer Ausweitung des militärischen Konflikts adäquate Maßnahmen, darunter militärischer Art, zur Erhaltung der eigenen und allgemeinen europäischen Sicherheit zu ergreifen. (SZ 25.3.) Primakow, damals noch Ministerpräsident, präzisiert, daß Moskau das von den Vereinten Nationen verhängte Waffen-Embargo nicht mehr einhalten und Waffen an Jugoslawien liefern könnte. Wir reden von einer Aggression – und Staaten, die Opfer einer Aggression werden, müssen alle Mittel haben, sich zu verteidigen. (SZ 25.3.) Iwanow, auch heute noch Außenminister, erklärt, mit den Luftangriffen sei gegen einen souveränen Staat Gewalt angewendet worden. Und nach der Satzung der UN hätten daher andere Staaten das Recht, diesen zu unterstützen. (FAZ 26.3.) Aus dem Verteidigungsministerium werden Überlegungen laut, im Falle einer weiteren Konfrontation taktische Atomwaffen auf weißrussischem Gebiet und damit nahe der Nato-Grenze zu stationieren. (SZ 25.3.)

Die Duma schließt sich mit Forderungen nach weiteren Gegenmaßnahmen an. Schirinowskijs Partei organisiert Freiwillige zur Unterstützung Rest-Jugoslawiens, Suganow fordert militärische und nicht nur humanitäre Hilfe (FAZ 29.3.), Jugoslawien brauche qualifizierte Militärexperten, nicht so sehr einfache Soldaten (SZ 27.3.). Luschkow und etliche Generäle plädieren für Waffenhilfe oder einen Militäreinsatz zur Unterstützung Jugoslawiens. Lebed Man muß Jugoslawien militärische Unterstützung leisten und Flugabwehrraketen schicken. (FAZ 31.3.) Der Vorsitzende der Duma, Selesnjow, will Jugoslawien in die russisch-weißrussische Union aufnehmen: Im Falle eines Staatenbundes müßten russische Truppen in Jugoslawien stationiert werden und die russische Marine in den entsprechenden Meeren präsent sein. (SZ 10.4.); sein Vorschlag wird in der Duma mit großer Mehrheit angenommen. Suganow: Vereinigt könnten die drei Staaten vom Westen nicht beiseite geschoben werden. (SZ 17.4.)

Trotz dieser weitgehenden Drohungen gelingt es Rußland nicht, die Nato zur Einsicht zu bewegen. Jelzin: Wir nehmen an diesem Krieg nicht teil. Wir haben ihn nicht entfesselt. Unsere Aufrufe und zahlreichen Vorschläge scheinen niemanden zu erreichen. (SZ 14.5.) Jelzin muß daher die Drohung immer wieder erneuern und steigern: Treibt uns nicht in militärische Aktionen. Andernfalls ist ein europäischer Krieg so gut wie sicher und vielleicht sogar ein Weltkrieg, und die Nato damit konfrontieren, daß sie mit ihrer unversöhnlichen Haltung Rußland zu Gegenschlägen provoziert, die – spätestens beim Einsatz von Bodentruppen – auch stattfinden werden: Rußland werde den Einsatz von Bodentruppen nicht zulassen. Ich wiederhole, daß Rußland sich nicht hineinziehen lassen wird, wenn die Amerikaner uns nicht dazu drängen. (FAZ 10.4.)

Gleichzeitig bemüht sich Rußland auf allen Ebenen um eine diplomatische Lösung, verlangt als Gegenleistung dafür aber kategorisch die Einstellung des Bombardements – vom ersten bis zum letzten Tag des Kriegs. Die Nato geht darauf nicht ein, so daß sich der russische Sonderbotschafter Tschernomyrdin ebenfalls genötigt sieht, die USA damit zu konfrontieren, daß er seine Mission einstellen und dem Präsidenten zum Abbruch wichtiger Beziehungen mit den USA raten wird:

„Wenn die Bombenangriffe nicht bald aufhören, werde ich dem russischen Präsidenten raten, die Beteiligung Rußlands an dem Verhandlungsprozeß zu suspendieren, alle militärisch-technologische Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und Westeuropa einzustellen, die Ratifizierung von Start-II zu verschieben und in Debatten der Vereinten Nationen über eine Jugoslawien-Resolution Rußlands Veto zu benutzen.“ (Tschernomyrdin in der Washington Post, FAZ 28.5.)

3. Von der Beschwerde über die Mißachtung seiner Interessen und der Anklage auf Völkerrechtsverletzung nimmt Rußland während des ganzen Kriegs kein Jota zurück, wählt gleichzeitig aber den besonnenen Weg, die Nato-Kriegstreiber unermüdlich und nachdrücklich dazu aufzufordern, zum Rechtszustand zurückzukehren.

Rußland macht keine seiner Drohungen wahr und beläßt es bei der Ankündigung, daß Gegenschläge in Betracht gezogen werden. Obwohl russische Gegengewalt zur Verteidigung gewichtiger eigener Interessen nötig und nach allen Prinzipien des verletzten Völkerrechts nur gerecht wäre, kennt die russische Führung eine höhere Verantwortung, der sie Rechnung tragen muß: Im Unterschied zur Nato, die die Welt an den Rand des Dritten Weltkriegs treibt, bemüht sich Rußland um die Eindämmung des Konflikts und um Schadensbegrenzung auf jeder Stufe der Eskalation, die sich die andere Seite zuschulden kommen läßt. Jelzin: Moralisch sind wir den Amerikanern überlegen. (FAZ 26.3.) Rußland habe mehr Mittel in der Hand, aber man habe beschlossen, sie zunächst nicht zu nutzen, Iwanow: Man werde nicht mit Gewalt auf Gewalt antworten. (NZZ 26.3.)

Daß sich Rußland ausgerechnet seine Zurückhaltung als moralische Überlegenheit honorieren lassen möchte, ist im Kreis der Weltmächte ungewöhnlich; dort legitimiert man mit seiner höheren Moral meistens das Zuschlagen. Und auch die Form, in der Rußland Einspruch einlegt – treibt uns nicht zu Gegenmaßnahmen! –, fällt einigermaßen aus dem Rahmen. Zwar ist es immer der Gegner, der beim Austausch militärischer Drohungen mit seiner mangelnden Einsicht das Vorgehen gegen sich „erzwingt“, die Rechtmäßigkeit der Gewalt als „Reaktion“ steht auf seiten jeder kriegführenden Partei a priori fest. Daß man selbst Gewaltaktionen nur zu gerne vermeiden möchte, ist hier aber nicht wie gewöhnlich die begleitende Heuchelei, sondern durchaus ernst gemeint: Rußland selbst ergänzt seine Drohungen um die unmißverständliche Lesart, daß es sich um flehentliche Appelle handelt: Zwingt uns bitte nicht, sie wahrmachen zu müssen!

Die russische Führung begreift nämlich auch die Partnerschaft mit dem Westen als ebenso gewichtiges Interesse, und das stünde bei einer diplomatischen und militärischen Konfrontation auf dem Spiel. In seinem Bericht zur Lage der Nation ruft Jelzin die Duma und sein Volk dazu auf, bei aller gerechten Empörung über den Bombenkrieg nicht aus den Augen zu lassen, daß es um mehr geht, nämlich eigentlich darum, die Grundlage des Staats zu retten:

„‚Wir versuchen, die Welt von einer neuen Spaltung abzuhalten.‘ Jelzin warnte vor einer Isolierung Rußlands. Rußland müsse gleichberechtigt mit den führenden Mächten der Welt in das neue Jahrhundert treten und seine Beziehungen zu ihnen auf der Grundlage von Selbstachtung und Partnerschaft aufbauen. ‚Wenn wir wieder unsere Chance verpassen, werden keine Hinweise auf die Schwierigkeiten des Übergangs mehr helfen, und das Tor in die Zukunft wird für immer zugeschlagen‘.“ (FAZ 31.3.)

Trotz der schwierigen Lage, in die Rußland durch das Vorgehen der Nato gerät, mahnt Jelzin, daß die Lektion nicht vergessen werden darf, die die Nation unter seiner Führung begriffen und mit der unumkehrbaren Abkehr vom Kommunismus befolgt hat: Die Eingliederung Rußlands in die „Welt“ ist der notwendige und richtige Weg, den Schaden von ihm zu wenden, den die jahrzehntelange „Spaltung der Welt“ in der Etappe zuvor angerichtet hat. Dadurch, daß Jelzin & Co. das ineffektive System verabschiedet und den überflüssigen und schädlichen Gegensatz zur freien Welt beseitigt haben, ist es ihnen doch gelungen, ein Einverständnis mit den ehemaligen Feinden herzustellen, das der neuen russischen Macht die Anerkennung ihrer Rechte, die Anerkennung als gleichberechtigte Macht eingebracht hat. Auf dieser Grundlage kann man nunmehr Beziehungen zum beiderseitigen Vorteil pflegen, Rußland die Kosten des Wettrüstens ersparen und die Vorteile des Weltmarkts eröffnen. Weil die russischen Reformpolitiker sich gewiß sind, daß sie mit ihrer Lernfähigkeit nicht nur sich selbst, sondern der ganzen Welt einen unschätzbaren Dienst erwiesen haben, wollen sie auch weiterhin mit diesem Einvernehmen rechnen und es nicht durch eine „Überreaktion“ ihrerseits gefährden.

Daher ist es angebracht, den Kriegsparteien in ihrer Unvernunft in Erinnerung zu bringen, daß das russische Interesse, die guten Beziehungen aufrechtzuerhalten, doch eigentlich ein gemeinsames Anliegen darstellt und daß sie eine „neue Spaltung“ selbst nicht wollen können. Konfrontiert mit einer beispiellosen Rücksichtslosigkeit und Unbelehrbarkeit der Nato-Staaten, bleibt Rußland dann allerdings nichts anderes übrig, als das gemeinsame Anliegen ganz alleine retten zu müssen.

Das Drangsal, mit dem sich die russische Diplomatie abplagt, wenn sie zu Drohungen greift und die Bitte hinterherschickt, daß man es ihr doch ersparen sollte, die Drohungen in die Tat umzusetzen, rührt daher, daß die regierenden Vertreter der Politik der Reformen mit der Lebenslüge ihrer neuen Staatsraison praktisch konfrontiert werden: Nach der soll die Feindschaft, die der Nato einen Dritten Weltkrieg wert gewesen wäre, nur dem russischen Kommunismus, nicht aber der Macht Rußlands gegolten haben. Nun aber hält sich die Nato keineswegs an den vermeintlichen neuen Pakt, sondern zielt offenkundig auf die Dezimierung auch der heutigen russischen Macht, während Rußland seine Interessen und Rechte ganz auf die Partnerschaft mit dem Westen gegründet hat. Einerseits ist daher eine reichlich ausweglose Lage zu konstatieren: Mit einer Verschlechterung oder gar Kündigung der Beziehungen, die Staaten dann anberaumen, wenn sie ihre substantiellen Interessen von anderer Seite bestritten sehen, will Rußland nicht hantieren, weil seine gesamten unumstößlichen Staatsrechnungen auf der Voraussetzung einvernehmlicher und gedeihlicher Beziehungen mit den anderen Mächten beruhen – vom Frieden, den es braucht, über das Geld, das es nicht hat, bis zur Hungerhilfe, über die mitten im Krieg schon wieder verhandelt wird. Und dieses Staatsprogramm ist mittlerweile so weit gediehen, daß die russischen Verantwortungsträger hauptsächlich sich selbst mit der Vorstellung abschrecken, ihr „Wir können auch anders“ in die Tat umsetzen zu müssen. Das begreifen sie freilich nicht als eine vernichtende Bilanz, was die Erfolge ihrer neuen Staatslinie betrifft – der Wille, sich die Vorteile der freien Welt zunutze zu machen, deren Überlegenheit schließlich auch noch im Kosovo-Krieg an der Machtentfaltung der anderen Seite zu bewundern ist, läßt sich so leicht nicht erschüttern. Kokoschin, ehemaliger stellvertretender russischer Verteidigungsminister und Sekretär des Sicherheitsrats, heute Vizepräsident der Russischen Akademie der Wissenschaften, warnt mit der gesammelten Weisheit seiner Ämter vor einem Rückfall in alte „Fehler“:

„Die ganze Welt entwickelt sich in Richtung Globalisierung. Rußland muß daher alles unternehmen, um eine Isolierung auszuschließen, die es mehrmals erlebte und teuer zu bezahlen hatte. Rußland muß sich in die Weltwirtschaft einbinden, allerdings seine Souveränität und Eigenständigkeit erhalten.“ (Wostok 3/99)

Andererseits besteht die Kunst der Politik also darin, einen Ausweg zu finden. Folglich befleißigt sich die russische Führung, wenn sie verantwortungsvoll und besonnen alles Menschenmögliche versucht und ihre Drohungen zur bloßen Anklage und zum Appell an die Nato zurücknimmt, also selbst entwertet – der Tugend des Realismus! Es gibt, d.h. man sieht einfach keine Alternative dazu, sich mit der Nato zu arrangieren und d.h. nachzugeben.

Daher warnt der Außenminister in derselben Rede, in der er der Nato-Politik eine scharfe Zurückweisung erteilt, davor, sich zur Konfrontation hinreißen oder sich gar in militärische Abenteuer hineinziehen zu lassen, und spricht vom positiven Gepäck, das sich in den amerikanisch-russischen Beziehungen der vergangenen Jahre angesammelt hat. (FAZ 29.3.) Noch bei den erbittertsten Streitigkeiten in den letzten Verhandlungsrunden signalisiert Iwanow, wie sehr Rußland an konstruktiven Beziehungen gelegen ist:

„Iwanow sagte nach dem Treffen mit Albright in Köln, die Ereignisse auf dem Balkan hätten die russisch-amerikanischen Beziehungen schwieriger gemacht, dieser negative Hintergrund bleibe erhalten. Nach dem Ende der Militärhandlungen der Nato, wenn der Prozeß des Wiederaufbaus Jugoslawiens beginne, werde Rußland sich aber bemühen, den Schaden, den die russisch-amerikanischen Beziehungen genommen hätten, zu beseitigen.“ (FAZ 10.6.)

Das alles gebietet die Linie des „Realismus“: Die russische Diplomatie macht einen Rückzieher nach dem anderen, sie setzt ihre Drohungen zur bloßen Warnung herab, stellt immer bescheidenere Forderungen auf, um sich dann dazu durchzuringen, daß es auch ohne geht, kämpft zum Schluß nur noch um Formen, die es ihr gestatten, das „Gesicht zu wahren“ und Anhaltspunkte für die Behauptung zu konstruieren, Rußland hätte sich in irgendeiner Hinsicht durchgesetzt…

Für diese Linie haben die Vertreter der ehemaligen Weltmacht neben der Staatsraison, zu der sie sich aus guten Gründen entschlossen haben, noch einen zweiten guten oder eher schlechten Grund anzuführen: Die Rücksichtslosigkeit, mit der die Nato über jeden russischen Einwand hinweggeht und hinweggehen kann, hat schließlich unübersehbar auch mit der eigenen – relativen – Ohnmacht zu tun.

4. Nach der Besichtigung ihrer militärischen Fähigkeiten müssen Rußlands Politiker auch der Tatsache Rechnung tragen, daß die zum militärischen Eingreifen – zur Zeit – nicht geeignet sind.

Waffenhilfe für Jugoslawien, wie sie in der Aufregung der ersten Kriegstage gefordert wird, ist nicht machbar:

„Führende russische Militärs warnten Jelzin vor erheblichen Problemen bei der Lieferung von Waffen an Jugoslawien zum jetzigen Zeitpunkt.“ (SZ 27.3.)

Denn erstens verfügt nicht einmal Rußland selbst noch über genügend Gerätschaften; Militärfachleute geben zu bedenken, daß Lieferungen an Belgrad die eigene Verteidigungsfähigkeit, die ohnehin genügend Schwachstellen aufweist, zusätzlich beeinträchtigen und dabei nicht einmal ein Devisengeschäft in Aussicht ist. Zweitens muß konstatiert werden, daß der Transport auf einen Cordon unfreundlich gesonnener Länder trifft. Sogar humanitäre Lieferungen haben die neuen Verbündeten der Nato nicht ohne Schikanen und Demütigungen für ihre ehemalige Vormacht ihre Grenze passieren lassen. Und nicht einmal in dem Bündnis, das Rußland auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion unterhält, findet es Unterstützung, wie an der Inszenierung der Nato im Rahmen der Jubiläumsveranstaltungen abzulesen ist:

„Das Gipfeltreffen der Nato hat die bedrückende Isolierung Rußlands in der jugoslawischen Krise offenbart. Außer Weißrußland glänzten alle ehemaligen Sowjetrepubliken und heutigen Mitglieder der GUS in Washington mit ihrer Anwesenheit… Alle demonstrierten den heißen Wunsch, ihre Beziehungen zur Allianz zu festigen… Alle ziehen es vor, nicht Milošević zu unterstützen, sondern sich in einem Lager mit den Verbündeten zu befinden.“ (Nowyje Iswestija, FAZ 28.4.)

Gerade wegen dieser bedrückenden Lage begreifen die russischen Politiker ihre Verantwortung, und erteilen der Nato in aller Besonnenheit die passende Abfuhr – so leicht läßt man sich nicht in militärische Abenteuer hineinziehen, aber als Militärmacht muß Rußland immer noch ernst genommen werden! Nur wegen Serbien wäre ein „Dritter Weltkrieg“ nicht zu verantworten, aber auf einem anderen Schauplatz reagiert man mit der nötigen Klarstellung: Gegen das neue Konzept der Nato stellt Rußland seine neue „Militärdoktrin“. Verteidigungsminister Sergejew schlägt als konkrete Maßnahmen als Reaktion auf das neue Konzept der Nato vor:

„Eine maximale Erhöhung der Kampfbereitschaft der strategischen Atomraketen… Angesichts der knappen finanziellen Mittel will man dafür vor allem die Laufzeit der Atomwaffen verlängern. Waffen, die ausgemustert werden sollten, werden nun noch mehrere Jahre einsatzbereit bleiben.“ (Iswestija, FAZ 28.4.)

Ob sie das auch ihrer technischen Natur nach sind, ist eine andere Frage. Aber beim Umgang mit dem Dilemma, das die russische Generalität in aller Ehrlichkeit offenlegt, daß sich Rußland seine Atommacht eigentlich „finanziell“ schon längst nicht mehr leisten kann, ist Kreativität gefragt. Auch eine andere Verlegenheit, auf die der Balkan-Krieg den russischen Generalstab drastisch gestoßen hat, läßt sich auf dem Weg bewältigen: Auf die strategischen Raketen hat man sich bislang als Garantie für den eigenen Bedarf an Abschreckung verlassen – aber dazu, die Mängel in der konventionellen Rüstung zu kompensieren, die die russische Armee dank der Reformjahre zu verzeichnen hat, und auf dem Balkan angemessen zu reagieren, sind sie nicht geeignet. Ein Vertrauter des Generalstabs berichtet in der Zeitung Sewodnja:

„Geplant sei die Umrüstung der vorhandenen Interkontinentalraketen für einen Einsatz mit Mini-Sprengladungen. Dies würde die Langstrecken-Raketen zu weitreichenden Gefechtsfeldwaffen oder taktischen Atomraketen machen… Die Einführung solcher kleinkalibriger Atomwaffen würde es gestatten, Atomwaffen in jedem lokalen Krieg weltweit einzusetzen.“ (SZ 8.5.) „Atomwaffen allein reichen jedoch nicht. Erforderlich sind vielfältige Waffensysteme, darunter auch solche, die man in kleineren Konflikten einsetzen und in den Frühphasen von entstehenden Konflikten einsetzen kann.“ (Kokoschin)

Vorderhand ist allerdings in Rechnung zu stellen, daß Rußlands immer noch umfängliche Atommacht für den Kriegsschauplatz Jugoslawien leider wenig bis gar nichts nützt, daß man also keine passende Antwort auf die von der Nato dort zum Einsatz gebrachten Mittel verfügbar hat. Jeder Versuch, die eigenen Drohungen glaubwürdig zu untermauern, würde daher auf Abenteurertum hinauslaufen, so daß realistischerweise wiederum nichts anderes übrig bleibt, als die Konfrontation zu vermeiden.

„Die Balkan-Krise hat gezeigt, daß politische und diplomatische Instrumentarien, die nicht durch militärische Macht untermauert sind, unter den heutigen Gegebenheiten für Rußland kaum nützlich sind. Rußland hat realistischerweise nur wenig Spielraum, und so denke ich, daß die russische Führung im Kosovo-Konflikt die richtige Haltung eingenommen hat – eine harte und zugleich zurückhaltende, eine Haltung, die nicht das Abenteuer suchte.“ (Kokoschin)

Rußlands Führung macht keinen Hehl aus der Tatsache, daß die militärischen Fähigkeiten ihrer Nation stark gelitten haben und sie im Fall Jugoslawien – überspitzt ausgedrückt – zur Ohnmacht verurteilen. Als Grund für Panik will man den Befund allerdings nicht verstanden wissen, denn die Verantwortlichen haben die Lage voll im Griff: Sie wissen, wie dieser Notlage beizukommen ist: Angesichts der wirtschaftlichen Schwäche Rußlands ist an militärische Stärke nicht zu denken. Es kommt also entscheidend darauf an, die wirtschaftliche Schwäche zu beheben, Rußland muß sich in die Weltwirtschaft einbinden! (Kokoschin) Daß die ehemalige Weltmacht ihr Militär hat verrotten lassen, blamiert das Programm der wirtschaftlichen Sanierung durch Westbindung nicht, sondern bekräftigt es erst recht! Wenn das marktwirtschaftliche Regime sogar die Verteidigungsfähigkeit der Nation in Frage stellt, ist umso mehr der unbedingte Wille gefragt, sich dem Lager der erfolgreichen Weltmächte anzuschließen. Der in Rußland unternommene Versuch, Beziehungen, die die Nation ruinieren, zum Lebensmittel der Nation zu erklären, läßt sich durchaus noch fortsetzen: Rußland in seiner heutigen Verfassung kann es sich erst recht nicht leisten, sich das Wohlwollen seiner imperialistischen Partner zu verscherzen. Und die russische Regierung macht es zu ihrer eigenen Aktivität, sich die Feindschaft des Westens da, wo sie ihr offenkundig angetragen wird, durch „Zurückhaltung“ zu ersparen. Der freiwillige Vollzug der Kapitulation in Teilschritten ist die bestmögliche Verteidigung der nationalen Interessen!

Grund zur Panik, nachdem man sich die relative Ohnmacht der Nation, der Balkanintervention der Nato etwas entgegenzusetzen, eingestanden hat, ist auch aus einem zweiten Grund nicht gegeben: Es ist immer noch sehr viel an eigener Militärmacht übrig geblieben. Damit veranstaltet die russische Führung nach dem Kosovo-Krieg ungefähr die eindrucksvollste Demonstration, zu der ihre Streitkräfte noch fähig sind – das größte Manöver seit dem Ende der Sowjetunion, bemerkt die FAZ.

„Nach Berichten der Moskauer Presse hatte Jelzin als Reaktion auf den Krieg der Nato gegen Jugoslawien die Vorverlegung des ursprünglich für Herbst angeordneten Manövers angeordnet. Höhepunkt war der Flug mehrerer strategischer Bomber zum nördlichen Polarkreis, von dem aus Raketen auf Zielattrappen in Zentralrußland abgeschossen wurden. Das Verteidigungsministerium teilte mit, Ziel des Manövers sei ‚das Zurückschlagen eines hypothetischen Angriffs aus dem Westen‘.“ (SZ 30.6.) „Die Übung demonstriere die Fähigkeit der russischen Bomber, in jedem Teil der Erde Operationen durchzuführen und Präzisionswaffen, auch nukleare, einzusetzen.“(NZZ 29.6.)[1]

An die Adresse des Westens hat die Russische Föderation eine „hypothetische“ Warnung ausgesandt (die USA lassen es sich natürlich nicht nehmen, ebenso „hypothetisch“ russische Bomber im Nato-Luftraum „abzufangen“), und bei der anschließenden Einschätzung des Manövers geht Stepaschin in die Offensive gegen eine mögliche Verwechslung von Tschetschenien mit dem Kosovo: Die Zugehörigkeit des Landesteils zu Rußland steht in der russischen Verfassung. Das Fazit, das der russische Präsidenten anschließend zieht, wendet sich allerdings mehr an die eigene Nation:

„Ein größerer Militärschlag anderer Staaten gegen Rußland gehört nach Ansicht Jelzins ‚in den Bereich der Utopie‘. Allerdings bestehe die Gefahr regionaler Konflikte. ‚Allein die jüngsten Ereignisse auf dem Balkan zeigen, wie kompliziert die internationale Lage ist‘.“ (FAZ 3.7.)

Daß Rußland mit seinen Machtmitteln bei „regionalen Konflikten“ wenig anstellen, aber im Fall von Militärschlägen unmittelbar gegen die eigene Nation immer noch Paroli bieten kann, dient offenkundig der Beschwichtigung der Kriegsangst, die die russische Regierung selbst in ihrer Nation ausgelöst hat. Schließlich ist – auch das ein Ergebnis des Kosovo-Kriegs – beim russischen Volk erstmals nach langer Zeit die Furcht vor einem neuen Krieg aufgekommen.

„Die wichtigsten Schlußfolgerungen, die die russische Gesellschaft aus dem Konflikt im Kosovo gezogen hat, bestehen darin, daß erstens die letzten Illusionen über eine konfliktfreie Einbindung Rußlands in die westliche Gesellschaft verflogen sind; zweitens daß Rußland kurz vor dem Anbruch des 21. Jahrhunderts nicht mehr unverwundbar ist. Daher kann es nach Ansicht der Russen seinen Platz in der Welt nur finden, wenn es seine Staatlichkeit im Einklang mit den Anforderungen und Aufgaben der Zeit wiederherstellt.“ (Wostok 3/99)

Auch die Insassen einer Ex-Weltmacht müssen sich umstellen.

5. Nach Ende des Kriegs wird bilanziert: Rußland hat den Dritten Weltkrieg verhindert, ziemlich alleine den Frieden gesichert, von der Nato nur Undank geerntet und dennoch die guten Beziehungen gerettet.

Der russische Außenminister erklärt zu Ende des Kriegs, daß er seine Aufgabe erfolgreich erledigt hat:

„Die zwei erklärten Ziele Moskaus, den Krieg zu beenden und die territoriale Integrität Jugoslawiens zu bewahren, seien erreicht worden.“ (FAZ 28.6.)

Was alles nicht erreicht worden ist, braucht nicht erwähnt zu werden, weil es ja bekannt ist; mit der Logik: ‚Immerhin haben wir aber Folgendes durchgesetzt…‘, läßt sich auch der pur negative Ertrag in eine russische Erfolgsbilanz übersetzen. Daß der Krieg deshalb beendet worden ist, weil die Nato ihr Ziel einer bedingungslosen Kapitulation zur Gänze erreicht hat, tut nichts zur Sache; Jugoslawien ist und bleibt eine territoriale Einheit, auch wenn auf einem Teil nunmehr die Nato hockt. Auch das tut nichts zur Sache, weil sich Rußland mit der Etikettierung der Nato-Truppe als UNO durchgesetzt hat, was vor allem der russische Sonderbotschafter unterstreicht. Tschernomyrdin:

„Wichtig sei vor allem, daß der Friedensprozeß von den Vereinten Nationen bestimmt werde und nicht von der Nato.“ (SZ 5.6.) „Rußlands Aufgabe beim Prozeß der Kosovo-Regulierung bestehe vor allem darin, den Krieg dort zu beenden und die Lage unter die Aufsicht der Vereinten Nationen zu stellen.“ (FAZ 9.6.)

Rußland kann das Kriegsende auch deswegen auf sein Erfolgskonto verbuchen, weil es als Vermittler beteiligt war, was leicht mit dem Umkehrschluß zu beweisen ist, daß der Krieg ohne die russische Vermittlung womöglich nie zu Ende gegangen wäre. Klar ist, „…daß ohne Rußlands Hilfe kein Ende des Kriegs möglich gewesen sei.“ (NZZ 24.6.) Nur gemeinsam mit Rußland ist eine wirksame Vermittlung in internationalen Konflikten vorstellbar. Das ist eine weitere Lehre aus der Kriegsaktion der Nato. (Luschkow) Einige wollen sogar wissen, daß Rußland recht eigentlich einer Nato, die gegenüber dem beharrlichen Widerstand Belgrads nicht mehr aus noch ein gewußt hätte, aus der Klemme geholfen hat. Wie dankbar die Nato Rußland für seine Dienste ist, läßt sich schließlich daran ablesen, daß Jelzin sich den Lohn dafür auf dem Gipfel der G 8 abholen kann, nun ist er zum komplett gleichberechtigten Mitglied der G-8 aufgewertet.

Daß dank Rußlands vermittelnden Diensten die Nato Jugoslawien zur Kapitulation gezwungen hat, läßt sich zwar nicht bestreiten – aber bewältigen, indem man dem Kriegstitel der Nato nachträglich ein gewisses Recht einräumt und einen Teil der Kriegsschuld Milošević zuschiebt:

„Iwanow hat als erster ranghoher Politiker seines Landes öffentlich die Maßnahmen Belgrads gegen die Albaner im Kosovo angeprangert. In einer Moskauer Tageszeitung sprach er von der ‚bedauerlichen Tatsache‘, daß ‚als Begleitmusik zur Explosion der Raketen inakzeptable Maßnahmen aktiviert wurden, mit denen Belgrad auf seine Weise das Problem des ethnischen Gleichgewichtes im Kosovo lösen wollte‘. Daher sei es nunmehr notwendig, im Kosovo sowohl ‚die durch die Bombenangriffe als auch die repressiven Aktionen geschlagenen Wunden‘ zu heilen. Hauptaufgabe seien jetzt, die Souveränität Jugoslawiens zu erhalten, sowie ein sicheres Umfeld zu schaffen ‚für ein gemeinsames Leben aller Bewohner der Region‘. Nach bisheriger offizieller Lesart waren die Flüchtlingsströme eine Folge der Nato-Luftangriffe.“ (SZ 1.7.)

Stepaschin weist am nächsten Tag Milošević erstmals eine persönliche erhebliche Mitschuld an den Ereignissen in Jugoslawien zu. (FAZ 2.7.) Später bereitet man in Moskau dem montenegrinischen Häuptling Djukanovic einen „freundlichen Empfang“ (NZZ 3.8.), Luschkow warnt Milošević in Sachen Montenegro, will aber auch der Stadt Belgrad beim Wiederaufbau helfen und mahnt den Westen, bei den anstehenden humanitären Aufgaben keinen „doppelten Standard“ anzulegen. Verantwortungsvolle Politik besteht eben darin, sich auch in der Nachkriegslage so einzurichten, als ob alles wieder wie vorher wäre in Sachen „Einfluß und Gewicht“, womit die Nation gemeinsam mit der Nato eine nicht minder gemeinsame Aufgabe zu bewältigen hat. Solche Lernergebnisse führen zu herrlichen Visionen:

„Zweifellos hat sich die Balkan-Krise nicht nur auf die diplomatischen Beziehungen Rußlands zu den westlichen Ländern und vor allem zu den Vereinigten Staaten negativ ausgewirkt. Die Kälte des Mißtrauens und der Feindseligkeit kam auch in den militärischen Beziehungen zwischen Rußland und der Nato auf. Jetzt, da die Friedensstifter der Allianz und Rußlands zu einem gemeinsamen Handeln auf einem einheitlichen Feld verurteilt sind, muß wieder ein normales, verläßliches System des gegenseitigen Verständnisses und der Zusammenarbeit entstehen. Es reicht aus, die Verhaltensregeln in allen Einzelheiten festzuschreiben. Damit künftig plötzliche Aufmärsche umgangen werden, die die Welt an den Rand des Dritten Weltkriegs bringen können.“ (Iswestija, FAZ 28.6.)

Diesen Aufmärschen kann man freilich auch eine andere Bedeutung beimessen. Daß Rußland vor Ort präsent ist, hat auch sein Gutes. Stepaschin: Die Präsenz russischer Truppen kann die Flucht Tausender von Serben beenden. (FRE/RL 21.6.) Daß die Nato einen eigenen russischen Sektor kategorisch verweigert, läßt sich in Kauf nehmen:

„Beim Gipfel in Köln sei das Maximum des Möglichen erreicht worden. Im Abkommen von Helsinki… habe Rußland zwar keinen eigenen Sektor erhalten. Washington stimme darin aber einer russischen Präsenz in Schlüsselgebieten Kosovos zu, was Moskau erlaube, Einfluß auf die künftigen Entwicklungen in der Provinz auszuüben.“ (Nesawissimaja Gaseta NZZ 24.6.)

Angesichts der unbestreitbaren Möglichkeit einer Einflußnahme und ihrer hilfreichen Wirkung muß man auch die eher widrigen Umstände vor Ort in Kauf nehmen, die die Nato dort für das russische Kontingent präpariert:

„Die Stationierung der Russen im Kosovo schaffe wieder ein ‚Gleichgewicht des Vertrauens aller Volksgruppen in dem Gebiet‘, sagte Iwaschow. Die serbische Bevölkerung erwarte von den russischen Soldaten Schutz und politische Unterstützung… Der Befehlshaber der Luftlandetruppen, General Schpak, warnte im Radiosender Echo Moskwy vor Spannungen zwischen russischen Soldaten und Albanern. Die Nato hätte die kosovo-albanische Untergrundarmee entwaffnen müssen, kritisierte Schpak… Sollten russische Soldaten angegriffen werden, würden sie sich mit ‚allen Kräften und Mitteln‘ wehren.“ (SZ 28.6)

Mit ihren Verdiensten um die Beendigung des Kriegs haben die russischen Politiker eine weitere Leistung erbracht: die Rückkehr zur Normalität in den internationalen Beziehungen. Diese Leistung kommt dadurch zustande, daß man einerseits den Krieg und die neue Doktrin der Nato kurzerhand zur „Episode“ erklärt –

„Stepaschin in Washington… Das Prinzip der humanitären Intervention bezeichnete er als eine weltgeschichtliche Episode; ohnehin stehe es den Vereinigten Staaten nicht zu, sich mit diesem Argument zum Weltpolizisten zu machen.“ (NZZ 28.7.) –

und andererseits das eigene Nachgeben als Versöhnung ausruft:

„Jelzin, der bis zuletzt einen eigenen Sektor im Kosovo für Rußland gefordert hatte, gab beim G-8-Gipfel in Köln sein Plazet und forderte nach der ‚Rauferei‘ nun ‚Versöhnung‘ mit dem Westen.“ (HB 21.6.)

Mit dem Standpunkt, Hauptsache, der Krieg ist auch wieder mal vorbei, demonstriert der Präsident, in welchem Maß er die politische Kunstfertigkeit der Abstraktion beherrscht: Zwar hat er neulich noch dem Westen das Ausmaß der Bedrohung seiner Nation anhand der Gefahr des Dritten Weltkriegs demonstrieren müssen – nun zeigt er sich überzeugt davon, daß ein bißchen „Rauferei“ unter guten Freunden nichts anrichten kann. Das Verfahren, den gelungenen Angriff auf die russische Macht und die geretteten guten Beziehungen auseinanderzudividieren und damit Niederlagen in Siege zu verwandeln, beherrscht auch Jelzins Konkurrent Luschkow:

„Zweitens haben die Schläge gegen Jugoslawien verdeutlicht, daß die Nato heute praktisch die größte Belastung für unsere Beziehungen zum Westen darstellt. Das bedeutet jedoch keinesfalls, daß wir uns, wie merkwürdig das auch klingen mag, im außenpolitischen Bereich auf die Nato konzentrieren. Man muß und kann hoffen, daß die Nato bei der weiteren Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen Rußland und dem Westen im politischen, wirtschaftlichen und anderen Bereichen nicht zur Wasserscheide wird. Zeitgleich zeigen meine ausländischen Kontakte, daß auch in den Nato-Ländern immer stärker gefordert wird, daß Rußland nicht als Außenseiter zusieht, wie das Völkerrecht willkürlich ausgelegt wird. Rußland soll seinen Einfluß bei der Wiederherstellung und Festigung der einmaligen Institutionen – Uno und OSZE – nutzen.“

Nachdem der Westen eine gespaltene Persönlichkeitsstruktur aufweist, in zwei Teile zerfällt, in seiner Eigenschaft als Nato die Beziehungen belastet, die er in seiner Eigenschaft als Zusammenarbeiter mit Rußland wünscht und pflegt, ist Rußland gut beraten, sich nicht auf den Störfaktor Nato zu „konzentrieren“. Und wenn der Westen von der „Einbindung“ Rußlands redet, die unmißverständlich darauf gerichtet ist, Rußland zur Hinnahme seiner Niederlage zu bewegen, interpretiert ein realistischer Vertreter Rußlands diese Diplomatie als lebhaften Wunsch, den russischen „Einfluß“ aufrechtzuerhalten, der gerade ausgeschaltet wird.

Psychologisch genommen wäre das ein Fall von exzessivem Wunschdenken, eine hemmunglose Projektion eigener Interessen auf andere; unter „realistisch“ kalkulierenden Politikern aber verdolmetscht der Moskauer Bürgermeister nur einmal mehr den russischen Standpunkt, der den westlichen Umgang mit den Resten russischer Macht für einigermaßen belanglos erklärt, da es sich dabei um eine Episode mit Ausnahmecharakter gehandelt hat. Der dringliche Antrag an die feindliche Seite, dem gewendeten Rußland einen angemessenen Platz in der Weltordnung zu gönnen, muß doch wohl auch ein Bedürfnis des Westens sein und ist es auch, wenn man dessen Diplomatie kontrafaktisch interpretiert!

Der letzte große Erfolgsposten in der russischen Bilanz besteht in der passenden Antwort auf die westliche Strategie der „Einbindung“: Rußland hat nicht etwa sich einbinden lassen, sondern selbst seine Isolierung verhindert!

„Auffällig ist, daß die Nato durch ihre Erweiterungsmaßnahmen und in militärischer Hinsicht Rußland zur Selbstisolierung und einen Zustand der ‚belagerten Festung‘ provoziert… Erstens hat die Nato ein sehr gefährliches Spiel getrieben, indem sie Rußland auf seine Standhaftigkeit prüfte. Rußland sollte die Spielregeln akzeptieren, indem es sich schweigend aus der Krise heraushält, sich jedoch im Kern von der offenen Herausforderung der so mühsam geschaffenen Grundlagen der internationalen Sicherheit distanziert und das Streben des Blocks übersieht, in der Welt wieder die ‚Gesetze des Dschungels‘ mit unbegrenztem Bestrafungs- und Begnadigungsrecht des Stärkeren einzuführen. Andernfalls wäre Rußland in den militärischen Konflikt einbezogen worden, der zu einem globalen Krieg geworden wäre. Die Einsätze sind unermeßlich hoch. Die Bereitschaft zu derartigen Einsätzen zeigt entweder Verantwortungslosigkeit oder einen übermäßigen Machtrausch.
Dennoch muß man anerkennen, daß unsere politische Führung in die richtige Richtung handelt und ihre Verantwortung für die Geschicke Rußlands erkennt.“

Bei diesem Befund – so negativ er sich auch anhört –, hat man es immer noch mit russischen Erfolgen zu tun: Rußland hat sich herausgehalten, sich nicht in den militärischen Konflikt einbeziehen lassen und sich dennoch nicht von den Grundlagen der internationalen Sicherheit distanziert. Es hat sich also einerseits gebeugt und dennoch, vermittels dieses Schachzugs, die Provokation der Nato zurückgewiesen – eine etwas umständliche Weise, Rußland als Leistung zuzuschreiben, daß es der Konfrontation, die ihm die Nato angetragen hat, ausgewichen ist – durch Unterordnung.

Wenn es schon nicht ganz einfach ist, das Kriegsresultat als eigenen Erfolg zu verkaufen und die beschämende Lage, in die die Nato Rußland versetzt hat, als gelungene Krisenbewältigung darzustellen, so läßt sich doch auf jeden Fall dem Sieg der Gegenseite viel Schlechtes nachsagen. Mit dem Sieg wird die Nato garantiert nicht glücklich! Um zu diesem Befund zu gelangen, reicht es, sich in das imperialistische Programm der Weltordnung emphatisch hineinzudenken, wobei der Rückgriff auf die realsozialistische Weltanschauung hilft, nach der Kriege keine Lösung sind und Aggression sich nie und nimmer auszahlt.

„Die negativen Folgen werden ganz Europa und letztlich die Nato selbst noch lange Zeit zu tragen haben, sogar dann, wenn es gelingen sollte, den Krieg in der nächsten Zeit zu beenden.“ (Guseinow)
„Der Vorsitzende des Beirats für Außen- und Verteidigungspolitik der Russischen Föderation, Karaganow, ein Vertrauter Tschernomyrdins, hat eine Teilung des Kosovo befürwortet… werde ein Zusammenleben von Serben und Albanern kaum mehr möglich sein; infolgedessen dürfe sich die Teilung als Notwendigkeit erweisen. Nach dem Nato-Luftkrieg gegen Jugoslawien sei eine ‚schnelle und einfache Lösung‘ ohnehin nicht zu erwarten. Der Militärschlag habe auf dem Balkan ein ‚europäisches Palästina‘ hinterlassen.“ (FAZ 1.7.)

Die gänzlich objektive Fassung eines politischen Beobachters aus Rußland vermeldet schließlich, daß alle Seiten verloren haben:

„Keine Seite hat das, was sie wollte, erreicht, jedenfalls, wenn am Anfang noch die wirklichen Ziele genannt wurden. Der Westen redete von Verhinderung einer humanitären Katastrophe – sie hat ein gigantisches Ausmaß angenommen. Belgrad versprach, nicht einen Fußbreit seiner Heimaterde abzutreten – und hat der faktischen Besetzung des Kosovo zugestimmt. Moskau hat die Wiederherstellung der Rolle der UN erreicht. Doch diese Rolle beschränkt sich auf die Funktion eines Deckmantels.“ (Wremja, MN, FAZ 5.6.)

Zwar sind bei gewissenhafter Überprüfung Erfolg und Mißerfolg auf beiden Seiten kaum mehr zu unterscheiden, und noch jede Niederlage läßt sich in einen Sieg verwandeln. Aber das fällt unter Nationalisten natürlich irgendwie auf.

6. Eine zweite Bilanz: Lauter Niederlagen, Verrat an den nationalen Zielen und an der Nation

Zu sämtlichen Punkten, die auf der Erfolgsbilanz aufgelistet sind, existiert in Rußland auch die umgekehrte Lesart. Schon an den Ergebnissen der Tschernomyrdin-Mission ist unschwer festzustellen, daß darin auch keine der anfänglichen Forderungen Rußlands mehr enthalten ist. Tschernomyrdin hat sich also zum Knecht der Amerikaner machen lassen und Rußland eine Niederlage bereitet. Auch die Aktion, durch die die Präsenz russischer Militärmacht im Kosovo gesichert wurde, wird als Blamage gewürdigt:

„Der Blitzkrieg unserer Fallschirmjäger im Kosovo als Ergebnis eines Geheimplanes der russischen Generäle droht zu scheitern. Die Soldaten sitzen in der Falle: keine Verstärkung, Verpflegung nur für 2 Tage und vor ihnen Hunderte albanischer Freischärler. Wenn der zweite Teil des Plans fehlschlägt oder er überhaupt nicht existiert, so sind das Leben unserer Soldaten ebenso wie die Interessen Rußlands in Gefahr. Die Hauptsache ist aber eine andere: Den Handel unseres Militärs mit dem serbischen Führer haben die russischen Politiker und Diplomaten auszubaden.“ (Kommersant, FAZ 16.6.)

Die guten Beziehungen, die Jelzin schlußendlich auf dem G-8-Gipfel wieder einläutet, sind nicht gut, sondern stellen Rußland in seiner würdelosen Lage bloß:

„Jelzin selbst hat vor einem Scheitern der Kreditverhandlungen mit dem IWF gewarnt. Ein Mißerfolg würde den Staatshaushalt schwer belasten, den Beginn des Wirtschaftsaufschwungs und die Lösung akuter sozialer Probleme hinauszögern… ‚Zuckerbrot und Peitsche sind offensichtlich‘, urteilte die russische Zeitung Sewodnja.“ (HB 21.6.)

Der Krieg hat die russischen Patrioten aufgewühlt und bildet das Material für den Streit in der Nation – aber auch der Streit dokumentiert nur, wie sich die russische Politik mit ihrer Staatslinie abkämpft: Erfolg ist dieser Linie nur mit abenteuerlichen Lügengebäuden zu bescheinigen, eine Alternative dazu aber auch nicht zu entdecken. Während in der Erfolgsbilanz der einen Seite die „guten Beziehungen“, die doch nur das neue Mittel der Staatskarriere sein sollten, selber schon wie ein Ertrag präsentiert werden, mit dem die Nation zufrieden sein muß, erinnert die andere Seite an die nationalen Ziele, die dabei vor die Hunde gehen, denkt aber gar nicht daran, das Programm der Eingliederung in die Welt in Frage zu stellen. Lauthals werden das russische Recht auf Selbstbehauptung beschworen und die Versäumnisse der Regierung gegeißelt – die Frage, woran dieses Recht scheitert, wird in einer Hinsicht peinlich vermieden. Daß der Westen Rußlands nationale Rechte bestreitet, ist zwar kaum zu übersehen und wird anklagend zitiert – die Anklage ist aber ganz auf die eigene Regierung, deren Unfähigkeit oder bösen Willen, gemünzt. Die Schuld für die verfahrene Lage liegt auf deren Seite!

Schirinowskij, auf Wahlkampftournee, weiß, daß die Nato Rußland nicht zu bombardieren braucht, weil die Feinde Rußlands schon in der Regierung sitzen und die Nation, die über alle notwendigen Elemente staatlicher Machtentfaltung verfügt, von dort aus zugrunderichten. Also muß man denen nur die Macht abnehmen:

„Heute ist in Rußland alles außer der LDPR verfault, alles prowestlich, alles feige, alles anti-russisch. Und die, die hierbei mitgewirkt haben, sitzen in der Administration, in der Regierung und in der Duma… Ihre Aufgabe ist es, Rußland an der kurzen Leine zu halten: halb verhungert, halb erfroren, sterbend – denn es sterben zwei, aber nur einer wird geboren. Von 10 sind 8 krank. Gegen dieses Land braucht man keinen Krieg zu führen. Die Jugoslawen waren satt, dort ist der Süden, dort ist es warm – sie sind bombardiert worden. Uns braucht man nicht zu bombardieren. Wir sterben von alleine langsam aus, wir sind jetzt nur noch 140 Millionen, noch 10 Jahre vorher waren es 150. Wo sind die 10 Millionen?… Eine mächtige Industrie und Armee gibt es, auch eine Flotte ist da, auch Geld und Energieressourcen – alles ist da. Aber es gibt keine gute Führung und Leitung.“ (Rede Wladimir Schirinowskijs in Olenegorsk., Internet)

Suganow, in der Empörung über den Mißbrauch von Recht und Moral für den Nato-Krieg, greift zum höchsten moralischen Verdikt, das im russischen Weltbild zu haben ist, dem Faschismus-Vergleich: Die Amerikaner gingen auf dem Balkan den Weg des Hitlerismus. (FAZ 17.4.) Die Parteizeitung geht zurück in die Geschichte, in der sich die Amerikaner immer gleich bleiben, während der russische Staat auf elende und beschämende Weise seine welthistorische Aufgabe im Stich gelassen hat:

„In diesen barbarischen Akten unterschieden sich die Amerikaner und die Engländer in nichts von den Faschisten. Sie haben sie sogar übertroffen. Sie sind mit einer solchen Übermacht aufgetreten, daß die Deutschen dem nichts entgegenzusetzen hatten, und mit Waffen, die der Gegner nicht hatte. Und hier ist jetzt nichts Neues passiert. Die wahre umstürzlerische Rolle (die laut der KP der Angriff der Nato auf Jugoslawien gespielt hat) liegt nicht in der Absage an moralische Schranken, sondern darin, daß es jetzt keine Kräfte gibt, die gegen den unverschämten Raub Widerstand leisten könnten, wie das 10 Jahre zuvor der Fall war.“ (Pravda 23.8.)

Eine Erklärung des Präsidiums der Volkspatriotischen Union Rußlands zu Jugoslawien unter dem Titel Die Aggression der Allianz geht weiter hält sich nicht lange bei den Verrenkungen der russischen Regierungspolitik auf, sondern plädiert auf einen Bruch des Völkerrechts, begangen von der russischen Führung:

„Der Präsident und die Regierung der Russischen Föderation sind ihrer Verantwortung nicht nachgekommen… Und noch mehr als das: Einige russische Führer ließen unfreundliche Äußerungen an die Adresse der Führung der BRJ zu. Sie haben die westlichen Länder in ihrer Bemühung, einen Wechsel der rechtmäßig gewählten Führung der BRJ zu erreichen, ganz offen unterstützt.“ (ebd.)

Mit den Maßstäben russischer Größe, russischer Zuständigkeit für eine gerechte Weltordnung und die Gültigkeit des Völkerrechts ist die Regierung abzuurteilen, also weg mit ihr.

*

Andere Stimmen ziehen auch eine negative Bilanz – aber in der der vaterländischen Kritik krass entgegengesetzten Absicht: Was soll das Großmachtgehabe der Regierung, wenn sie es doch gar nicht durchhalten kann? Wozu überhaupt das Säbelrasseln gegenüber den wirklichen Weltmächten, wenn Rußland doch längst nicht mehr das alte ist?! Ganz objektiv, aus wissenschaftlicher Warte, ist erst einmal festzustellen, daß die Diskrepanz zwischen der anfänglichen Bedrohungslage und der späteren Bewältigung auf ein „hochgradiges“ Ungeschick der russischen Politik schließen läßt:

„Für den Politologen Nikonow ist die russische Politik hochgradig inkohärent, die Kluft zwischen Rhetorik und Realität so groß wie noch nie. Erst habe Moskau der Nato gedroht, dann aber ihr geholfen, den Krieg zu gewinnen und damit das Gesicht zu wahren… Zudem habe sich Rußland zum Gespött gemacht, weil seinen Soldaten in Pristina bald der Proviant ausging. Schließlich wirft Nikonow dem Kreml auch vor, sich zuerst auf die Forderung nach einem russischen Sektor im Kosovo versteift zu haben und diese Bedingung danach plötzlich als nicht so wichtig hinzustellen.“ (NZZ 24.6.)

Mißt man die Regierung am von ihr verkündeten Realismus, so kann man ihr den Vorwurf nicht ersparen, daß auch sie selbst mit ihrer Gegenwehr die Lage unnötig verschärft hat! Nachdem die USA Anfang Juli als Antwort auf nachgeschobene russische Forderungen nach einem Zugang auch zum italienischen Sektor und einem Recht auf eigenständige Operationen noch einmal den Luftraum in Osteuropa für russische Truppentransporte sperren lassen, resümiert die Iswestija:

„An sich ist nichts Außergewöhnliches geschehen. Washington hat Moskau einfach daran erinnert, wer der Herr im europäischen Hause ist. Am Tage des amerikanischen Nationalfeiertages hat sich das Pentagon nur an den russischen Generälen für den verwegenen Marsch der Fallschirmjäger aus Bosnien nach Pristina gerächt, der den Westen so in Aufregung versetzt hatte. Die Euphorie des Kölner G-8-Gipfels ist verflogen, wo es schien, daß man bereit ist, Rußland als gleichwertigen Teilnehmer am Friedenseinsatz im Kosovo zu akzeptieren. Nun hat der harte Alltag begonnen.“ (Iswestija, FAZ 7.7.)

Der eingetretene Schaden ist nicht wegzudiskutieren – Die Beziehungen zu Europa und den USA seien beschädigt. Andere GUS-Länder betrachten nun die Nato als eine Kraft, die ihnen helfen könnte, ihre eigenen Kosovo-ähnlichen Konflikte zu lösen, oder sie wenigstens vor Rußland zu schützen. – schuld daran ist aber nicht die Nato, sondern Rußland hat sich mit seiner hysterischen Reaktion auf die Kosovo-Krise selbst Schaden zugefügt. (Furman, in: Obshaya Gazeta, RFE/RL 23.6.) Die unerbittlich reformtreue Presse sieht ein Versagen der Regierung auf der ganzen Linie und macht sich zum Vertreter eines programmatischen Kapitulantentums: Hätte sich Rußland gar nicht erst eingemischt, wäre ihm auch die Blamage seiner Ausmischung erspart geblieben! Wenn die Nation schon nicht daran vorbeikommt, ihre Ohnmacht einzugestehen, dann verlangt eine verantwortungsvolle Politik die Anerkennung dieser Tatsache als Geschäftsbedingung, nach der man sich auch gefälligst zu richten hat. So aber hat ausgerechnet die Regierung mit ihrer Niederlage den reformfeindlichen Kräften im Land Auftrieb verschafft. Politische Vordenker dieser Richtung werfen auch lässig die Frage auf, was geht uns eigentlich Serbien an?! Als ob die gesamte Nebengeschichte des Kriegs, die von der Nato betriebene Degradierung Rußlands, ganz unerheblich wäre. Auf diesem Gebiet sind dem Reformwerk Erfolge also nicht abzusprechen: Vor lauter neuem Denken kommt den Radikalinskis der Reform das, was bei anderen Nationen „vitales Interesse“ heißt, wie ein Benehmen vor, das sich Rußland einfach nicht leisten kann und im eigenen Interesse versagen sollte. Also weg mit solchen nationalen Zielen.

Der Krieg hat die Nation mit dem Widerspruch ihrer Lage konfrontiert, aufgewühlt und in Streit versetzt. Der Dissens darüber, was der Krieg der Nation gebracht hat, verläßt eindeutig das Feld demokratisch-nationalistischer Meinungsverschiedenheiten – von Sieg bis Niederlage, nationaler Schande und gesichertem Weltfrieden ist schließlich alles im Angebot. Die gegensätzlichen Auffassungen, die auch einen Beresowskij beunruhigen – er hat führenden Politikern und Militärs die Frage gestellt, ob der Kosovo-Krieg für Rußland mit Erfolg oder Mißerfolg geendet habe. Die Antworten seien vollkommen gegensätzlich ausgefallen. (FAZ 28.6.) – sind Indiz dafür, daß dieser Nation, der sogar die anfängliche Sicherheit abhanden gekommen ist, daß ihre Stellung in der Welt mit dem Kosovo-Krieg ins Visier gekommen ist, die Linie, eine brauchbare Staatsraison fehlt. Herumgeschlagen wird sich mit einem gleichermaßen anerkannten wie für schädlich gehaltenen Prinzip russischer Politik: Einerseits baut das heutige Rußland auf die Zusammenarbeit und das Einvernehmen mit den imperialistischen Nationen, andererseits werden im Rahmen dieser friedlichen Koexistenz seine ökonomischen Potenzen zerstört, und seine politische Macht schwindet rapide.

Diese „Lage“ übersetzt sich der politische Sachverstand, der dank der Reformen in der russischen Parteienlandschaft haust, in allerlei Forderungen nach besserem Regieren. Der amtierende Sachverstand der Jelzin-Clique verfertigt daraus eine Forderung an sich. Und die geht auf die Sicherung ihrer Macht in und über Rußland, das während der gesamten Kosovo-Affäre seiner Ohnmacht überführt worden ist.

7. Die ersten Konsequenzen aus der mühsam geschönten Bilanz

spricht der Chef persönlich aus, als sich die Belanglosigkeit russischer Einwände für das Vorgehen der Nato abzeichnet:

„Unser Gewicht auf der weltpolitischen Bühne hängt davon ab, ob wir unsere Probleme zu Hause lösen. Deshalb brauchen wir Ordnung bei der Macht.“ (FAZ 31.3.)

Daraus ergibt sich auch seine Linie in Sachen Wahlkampf. Auch diesmal kommt für ihn eine Auseinandersetzung nach dem demokratischen Knigge nicht in Frage. Wo der Gesundheitszustand des russischen Staatswesens auf dem Spiel steht, weiß dieser Staatsmann neuen Typs sofort Bescheid: Die Nation steht und fällt mit ihm und seiner Führung, die er auch für den Fall seines persönlichen Abtritts gegen alle Anfechtungen schädlicher Alternativen sichern muß. Jelzin rügt Justizminister und Geheimdienst dafür, daß sie noch kein Material zustandegebracht haben, das es erlauben würde, die KP – die einzige Partei mit einem Massenanhang – zu verbieten. Schirinowskij schließt sich diesem Bedürfnis an. Beiden ist klar, daß in ihrem Land, das bis auf die kleine Führungsetage von Notstand gezeichnet ist und im Verlauf des Krieges eine Demütigung nach der anderen hinnehmen mußte, demokratische Wahlen nicht zur Stabilisierung der politischen Macht beitragen, sondern diese Macht – die jetzt wenigstens noch in den richtigen Händen ist – untergraben.

Bestärkt wird der mit den Überlebensfragen seines neuen Rußland befaßte Kreml-Chef in dieser Auffassung durch manche Regung in den Republiken der Föderation. In Dagestan und Tschetschenien hat die Armee gerade wieder einen veritablen Bürgerkrieg zu bestehen, und auch aus anderen Provinzen haben sich die lokalen Politgrößen nicht gescheut, noch während der Prüfung, der Moskau von seiten des Westens ausgesetzt war, ihre grundsätzliche Distanz gegenüber der nationalen Linie vorzutragen.

„Schamijew warnte vor dem Sprengstoff des ethnischen und religiösen Konflikts im Kosovo für das multiethnische und religiöse Rußland. Für einen multinationalen Staat sei es unzulässig, Freiwillige in einen solchen Konflikt zu entsenden… ‚Und ich rede nicht nur von Tatarstan, sondern von ganz Rußland, wo Christen und Muslime zusammenleben‘.“ (FAZ 9.4.) „Ein Schlag gegen die Einheit Rußlands…“ (Nesawissimaja Gaseta, FAZ 19.4.)
„Beim Beschluß im Föderationsrat über die Entsendung russischer Friedensstifter sind 50 Mitglieder erst gar nicht zur Abstimmung erschienen. Schamijew: zu gefährlich…“ (RFE/RL 25.6.) „Der Gouverneur von Samara, Titow, äußert Bedenken… Rußland fehle es an Geld. Zudem bestehe die Gefahr, daß die russischen Truppen sich auf die Seite der Serben stellten.“ (SZ 26.6.)

Nicht genug, daß der Präsident von Tatarstan, einer der „reichen“ Republiken, wie andere Kollegen das Manövrieren des Kreml im Kosovo-Krieg für unzweckmäßig oder für zu kostspielig hält – der gute Mann erinnert Jelzin und seine wechselnden Premiers glatt daran, daß ihr eigener Zuständigkeitsbereich so national gefestigt, wie sie tun, überhaupt nicht ist. Daß sich in ihm sogar politische Bedürfnisse ethnisch-religiösen Kalibers zu Bewegungen mausern, die denen auf dem Balkan vergleichbar sind. Da wird die Moskauer Zentrale davor gewarnt, zu vergessen, daß sie selbst einem ziemlich prekären multinationalen Staat vorsteht, weswegen es nicht angeht, in auswärtigen Auseinandersetzungen zwischen Völkern Partei zu ergreifen. Ob die Warnung vor dem Abfärben auswärtiger Völkerschlachten auf das Benehmen verwandter Ethnien in der russischen Föderation realistisch ist, ist unerheblich. Rußland hat schon seine Bürgerkriege im Kaukasus, und die Regungen von autonom bis separatistisch gestimmten Randvölkern sind als Bedrohung der staatlichen Einheit Rußlands auch ohne die Drohungen von Schamijew aktenkundig.

Die amtierende Regierung hat also Anlässe genug, die Gleichsetzung von der Gefährdung ihrer Macht mit der des Staates Rußland zu exekutieren.

Wenn der Präsident die Lösung der häuslichen Probleme als Bedingung dafür nennt, daß Rußland in der großen Weltpolitik wieder einen Fuß auf den Boden bekommt, so versteht er seine Analyse keinesfalls als Angabe einer Reihenfolge, in der er seine Aufgaben zu erledigen gedenkt. Denn die beiden Schwachstellen, die Rußland dazu bewogen haben, seinen energischen Protest in nachgiebigem Realismus zu ersäufen, sind dem Honorarmitglied der G8 sehr wohl bekannt, und ihre Bewältigung hat unabhängig von der Bemeisterung innerer Wirren und neben den Anstrengungen auf diesem Gebiet in Angriff genommen zu werden.

Zunächst einmal haben die Zuständigen an der praktischen Herausforderung durch die Nato bemerkt, wie begrenzt ihre Mittel inzwischen ausfallen, was alles nötig wäre, um angemessen, also robust reagieren zu können, wie nötig also eine Sanierung des staatlichen Gewaltapparats ist. In seiner Regierungserklärung läßt Stepaschin keinen Zweifel daran, daß er die Entwicklung der Rüstungsindustrie für vordringlich hält. Der Krieg in Jugoslawien sei auch ein Schlag gegen Rußland: ‚Wir müssen daraus unsere eigenen Schlußfolgerungen ziehen‘. (SZ 20.5.)

Seitdem findet der militärisch-industrielle Komplex immerzu eine Erwähnung an vorderster Stelle, an zweiter Stelle macht sich dann das Problem bemerkbar, daß eine Wiederinstandsetzung der Rüstungsbetriebe und bessere Ausrüstung des Militärs mit den heutigen Staatsrechnungen, mit den marktwirtschaftlichen Mitteln, mit denen Rußland Staat machen will, schlecht zu vereinbaren ist. Die Ausstattung des Militärs, die sich früher, unter der Kommandowirtschaft offensichtlich ganz gut herbeikommandieren ließ, ist heute auf die Finanzierungskunststücke in einem jämmerlichen Staatshaushalt angewiesen, auf Geld, das nicht einmal für ein von Jahr zu Jahr zusammengestrichenes Staatsprogramm ausreicht – und dessen Nachschub nicht aus der eigenen Wirtschaft, sondern wenn überhaupt aus einem Fonds des Westens stammt, der sich als Geldquelle ziemlich gebieterisch verhält. Deswegen sieht sich die russische Regierung zu einer harten Güterabwägung gedrängt: Damit befaßt, einen ausgeglichenen Haushalt, einen stabilen Rubel und ähnliches Zeug zustandezubringen, wie es das Gesetz des Weltmarkts und dessen Hüter vorsehen, müssen sie sich auch entscheiden, ob Rußland etwas für seine geschwundene Verteidigungsfähigkeit tun oder sich sonst noch ein bißchen Staat leisten will:

„Wenn man dann berücksichtigt, daß die neue russische Militärdoktrin und wachsende Ausgaben für die nationale Verteidigung in Rechnung gestellt werden müssen, werden die Finanzmittel zur Deckung der sozialen, administrativen und anderen nicht-militärischen Ausgaben nur noch bei etwa 50% liegen.“ (Wostok 3/99)

Die zweite Erfahrung, die der russischen Nation beschert wurde, bezieht sich auf den merkwürdig zahlreichen Anhang, den die Nato hinter sich scharen konnte. Außer den aktiv mitwirkenden Rettern des Menschenrechts fanden sich in der internationalen Arena jede Menge passiver Befürworter des Waffengangs, der das von den Russen nachwievor favorisierte Völkerrecht zu den Akten legte. Diese Erfahrung nimmt eine auf Einfluß erpichte, zu ihm aber nicht mehr fähige Nation allemal als ihre Isolierung wahr.

An deren Überwindung wird also auch noch gearbeitet. Zunächst wird im Umfeld der GUS das zwischenzeitlich vernachlässigte Weißrußland in Betracht gezogen, dessen Interesse an einer Zusammenarbeit bei der Verteidigung also wieder ernst genommen.

„Stepaschin überrascht mit der Ankündigung, die geplante Union zwischen Rußland und Weißrußland werde wohl schon im Herbst Wirklichkeit werden… Wenige Tage zuvor hatte er noch vor einem allzu schnellen Zusammengehen beider Länder gewarnt… Die schon geschlossenen Abkommen seien ‚ehrlich gesagt, inhaltslos‘.“ (FAZ 10.7.)

Dieses Bestreben, mit einem neulich erst in die Unabhängigkeit entlassenen sowjetischen Brudervolk ein bißchen Waffenbrüderschaft anzuleiern, ist verständlich, da schließlich die Nato durch die Erweiterung ihrer Waffenbrüderschaften den eigenen Grenzen immer näher rückt. Andererseits ist es nicht genug, wenn es darum geht, in so richtig großen weltpolitischen Zuständigkeitsfragen Sitz und Stimme zurückzuerobern. Deshalb sieht sich die russische Diplomatie gehalten, in der Staatenwelt nach Souveränen Ausschau zu halten, denen die „unipolare Welt“, welche sich die Nato zurechtbombt, ebenfalls nicht behagt.

„‚Die Ereignisse in Jugoslawien haben uns unausweichlich dazu gezwungen, Maßnahmen zur Stärkung der russischen Verteidigungsfähigkeit zu ergreifen und dafür Partner zu finden‘. (Vize-Verteidigungsminister Michailow) Diese Partner seien China und Indien. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums wollen China und Rußland bis zum Jahr 2005 etwa 5 bis 6 Mrd $ in die Entwicklung auf dem militärischen Sektor investieren.“ (SZ 15.6.)

China ist lebhaft an russischen Waffenlieferungen interessiert und ist auch zahlungsfähig; Rußland ist dazu bereit, traditionelle Streitfragen einer strategischen Partnerschaft unterzuordnen und signalisiert China in der Taiwan-Frage seine Unterstützung.

„Iwaschow kündigte an, Rußland wolle seine militärischen Beziehungen zu China verstärken. Die Politik der USA und der Nato stelle für Rußland eine große Gefahr dar. Das Verhältnis zwischen Moskau und Peking habe einen deutlichen Einfluß auf die internationale Lage… Iwanow telefonierte mit seinem chinesischen Kollegen und versicherte ihm seine Unterstützung in der Haltung gegenüber Taiwan.“ (NZZ 21.7.)

*

Bei diesen ehrenwerten Versuchen, durch Überwindung der Isolation neue Stärke zu gewinnen, ist freilich eines nicht zu übersehen: Ihr Gelingen hängt ganz und gar davon ab, was sich die Bündnispartner in spe von einer Zusammenarbeit mit Rußland versprechen. Also auch vom Entgegenkommen, zu dem Rußland fähig und willens ist, und umgekehrt davon, welche Dienste diese Partner für die Neueröffnung einer „bipolaren“ Welt aufbringen wollen und können – auch sie sind im ureigensten Interesse eine Verpflichtung nach der anderen gegenüber den Herrennationen des Weltmarkts eingegangen.

Letztere haben die großmächtige Demontage russischer Macht, wie sie angelegentlich des Balkan veranstaltet wurde, inzwischen um eine ziemlich kleinkarierte, deswegen aber überhaupt nicht belanglose Zurücksetzung der aktuellen Kreml-Führung ergänzt. Mit einer Schmutzkampagne, für die der Stoff seit mindestens fünf Jahren reichlich vorhanden ist, überziehen sie ihren Freund Boris. Banken und Rechtsverdreher der westlichen Welt, Betriebsprüfer aus der Schweiz, aus Washington und aus den Reihen des IWF – also die Leute, die den letzten Wahlkampf von Boris finanziert haben – stellen offiziell fest, daß Jelzin & Co. korrupt sind. Und zwar in der Weise, daß sie mit dem Mißbrauch demokratisch gewährter Kredite für ihre Privatmacht des Geldes nicht nur schreckliches Unrecht begangen haben, gegenüber dem russischen Volk und so; sie haben als Führung auch ihren Staat des Vertrauens beraubt, das die Grundlage jeden Kredits abgibt. Die Kündigung der Freundschaft gilt Boris; seinem Versuch, Rußland wieder in die Lage zu bringen, in „Konfliktsituationen“ auch einmal wieder ein bißchen Feind zu spielen, ist die geschäftliche Seite des Skandals gewidmet. Ob als Reaktion auf die Bemühungen Rußlands, Lehren aus seiner Degradierung zu ziehen, vollzogen oder von langer Hand geplant: An seine Kredite knüpft der Westen demnächst andere Bedingungen. Die haben Ähnlichkeit mit denen, die Ländern aufgemacht werden, von denen good governance gefordert wird.

[1] Ein weiteres Seemanöver wird angekündigt: Nach den Wünschen des Präsidenten soll die Schwarzmeerflotte demonstrieren, daß sie die Fähigkeit hat, sich mit einer feindlichen Armada, die gegen Rußland Schläge aus der Luft und vom Meer ausführt, Gefechte liefern zu können. Ministerpräsident Stepaschin hat die Admiralität angewiesen, in Nachahmung des jugoslawischen Szenarios alle aggressiven Aktionen, wie sie die Nato auf dem Balkan ausgeführt hat, zurückzuschlagen. (Iswestija 20.7.) Vorher muß Rußland allerdings das Flaggschiff, das in der Ukraine überholt worden ist, noch mit hartem westlichen Geld freikaufen.