Robert Kurz: „Schwarzbuch Kapitalismus – ein Abgesang auf die Marktwirtschaft“
Die Intellektuellenfibel für den Abgesang auf Kapitalismuskritik

Kapitalismuskritik auf der Bestsellerliste – Wie geht das? Kapitalismus – der Irrsinn einer Produktion um ihrer selbst willen, von niemand gewollt und doch durch und durch verachtenswert – müsste nicht sein: Wenn er selbst das erkennen würde, wäre der Weg nicht weiter als 800 Seiten zur Selbstheilung der Gesellschaft. Also Unterhaltungsstoff für ein gar nicht so seltenes abstrakt anti-kapitalistisches Ressentiment.

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Robert Kurz: „Schwarzbuch Kapitalismus – ein Abgesang auf die Marktwirtschaft“
Die Intellektuellenfibel für den Abgesang auf Kapitalismuskritik

Ein Gespenst geht um im Zeitgeist. In einer Öffentlichkeit, der das herrschende Gesellschaftssystem über alles geht und die abweichende Meinungen einfach totzuschweigen pflegt, macht ein Linker mit Kapitalismuskritik Furore. Sein Buch ist ein Hit in einschlägigen Bestseller-Listen. Es wird in Zeitungen rezensiert – zum Teil sogar wohlwollend –, sein Autor avanciert zum Sachverständigen für politische Urteilsbildung, wird zu Talk-Shows gebeten und darf sich im Magazin von Deutschlands größter Tageszeitung regelmäßig mit seinen Ansichten verbreiten. Da fragen wir uns schon, wie der Mann das hingekriegt hat. Was kann der und haben wir versäumt, das die Kritik des Kapitalismus hierzulande wieder populär und sogar salonfähig macht? Also haben wir alles vergessen, was uns an den politischen Auffassungen des Autors schon seit längerem nervt,[1] und ganz vorurteilslos sein dickes Buch durchgenommen, Kapitel für Kapitel. Dabei haben wir Folgendes gelernt:

Prolog: Wie zeitgemäßes Kritisieren geht

Um die Erwartungen, die der Leser an den Titel seines Oeuvre knüpft, aufs richtige Gleis zu bringen, stellt der Autor vorweg klar, worum es ihm geht. Er hat eine Entdeckung gemacht, die zuallererst den kapitalistischen Menschen betrifft, der in uns allen steckt, und die uns kein besonders gutes Zeugnis ausstellt. Von Geschichte, unserer eigenen zumal, haben wir keinen blassen Schimmer, und zwar deswegen nicht, weil uns die Neigung, über die Welt in rosa eingefärbten Bildern zu denken, als Naturell anhaftet, uns der Hang zur Apologie im Blut liegt: Das historische Gedächtnis der Menschen ist kurz. Sogar die eigene Biografie verblasst in der Erinnerung (…) in der Regel (sind wir) Verdrängungskünstler, die sich die eigene Geschichte zurechtfärben und für das Selbstwertgefühl passend legitimieren. Jeder Mensch affirmiert sein noch so fadenscheiniges Ego, um möglichst bequem und unangefochten in seiner Haut leben zu können (9). In jedem von uns steckt also, menschlich-allzumenschlich, ein kleiner professioneller Schönfärber, und damit steht auch schon in etwa die zweite Entdeckung, mit der der Autor gleich zu Beginn aufwartet. Ähnliches nämlich gilt in verstärktem Maße für das kollektive Gedächtnis der Menschheit. So erklärt es sich für ihn, dass der moderne Zeitgeist zum Thema Kapitalismus eine einzige affirmative Gesinnungswirtschaft betreibt. R. Kurz jedenfalls macht eine bis zur Vollendung gediehene Geschichtsblindheit (11) dafür verantwortlich, dass die zirkulierenden Apotheosen des kapitalistischen Systems, die Glorifizierungen von Marktwirtschaft und Demokratie zum nun endlich alternativlosen Endpunkt aller gesellschaftlichen Entwicklung überall so unangefochten durchgehen. Nicht bei ihm allerdings. Ihm entpuppt sich dort, wo alle anderen sich zu den Schönheiten und der Vernunft einer endlich freien Welt beglückwünschen, das planetarische System des Kapitalismus als eine Gesellschaft, ‚die dabei ist, buchstäblich verrückt zu werden‘ (O. Negt) (12) – und so dreht er den Spieß einfach um: Wo alle vor der Geschichte des Kapitalismus notorisch die Augen verschließen, weil sie ihn nur so richtig schönfärben können, da steigt er in die kapitalistische Geschichte ein, um den Kapitalismus schwarz zu malen. Die schlechte Welt, die er vor sich sieht, will er so schlecht aussehen lassen, wie es ihr auch gebührt, und dabei hat er durchaus Höheres im Sinn. Er will ihr auf diesem Wege zu ihrem Besseren verhelfen. Er geht davon aus, dass ihr übler Zustand im Grunde genommen von Niemandem gewollt sein kann, und ersatzweise für alle, die von ihm nichts wissen und nichts wissen wollen, die er aber auf seiner Seite weiß, nimmt er sich vor, ihn anzuprangern. Er will den Kapitalismus als Schreckensbild ausmalen, um auf diesem Wege ein ‚Erwachet!‘ in die Welt zu setzen, möchte für die Selbsterkenntnis des kapitalistischen Menschen sorgen und so der Selbstheilung der Gesellschaft zuarbeiten: Ein radikalkritischer Abgesang auf die Marktwirtschaft soll die kapitalistische Menschheit so gründlich vor sich selbst erschrecken, dass ihr schlecht wird, sie in ihrem Treiben innehält und sich augenblicklich eines Besseren besinnt. Das ist die Sorte Aufklärung und Bewusstmachung, die der Autor als so ziemlich letzter Vertreter der Ratio für diesen Adressaten: dieser komplette, seiner kritischen Vernunft beraubte und entmündigte Idiot (11 f.) vorgesehen hat: Einem riesigen Pandämonium, einem absurd und gemeingefährlich gewordenen System der totalen Konkurrenz von atomisierten Individuen will er in Gestalt seines schwarzen Buches den Spiegel seiner eigenen Geschichte (12) vorhalten. Und weil aus ihm der Parteigänger des Guten spricht, das auch in allen Anderen steckt, macht er für den Fall, dass, wie so manch anderer moralischer Rufer in der Wüste, auch er ungehört verhallen sollte, sein Publikum auch noch damit vertraut, dass es ohnehin keine andere Wahl hat, als seiner Botschaft zu folgen: Die kapitalistische Industrialisierung, die im späten 18. Jahrhundert angestoßen wurde, tritt in das Stadium der Ausweglosigkeit ein. Es kann nur noch ein Abenteuer geben: die Überwindung der Marktwirtschaft (13).

So kündigt der Autor für die 800 Seiten seines Lesestoffs die diversen Erscheinungsweisen eines kapitalistischen Sodom und Gomorrha an, bei dem auch noch ein Jüngstes Gericht als Abenteuer winkt – ein kleiner Erlöser der Menschheit gibt sich da die Ehre. Aber vielleicht ist das bloß sein literarischer Dreh. Ein notwendiges Zugeständnis ans zeitgenössische Unterhaltungsbedürfnis, nur der Trick eines nach umfassender Aufklärung drängenden Schriftstellers, der das Interesse eines affirmativ-idiotisierten Publikums erst wecken will, um ihm dann ganz anders, mit knochentrockenen und obendrein tauglichen Erklärungen kommen zu können.

Modernisierung und Massenarmut: Wie Sinnvergessenheit kapitalistisches Elend schafft

Seitdem es ihn gibt, wird der Kapitalismus von kritischen Räsonnements begleitet, die sich mit der Verteilung des Reichtums befassen, den diese Produktionsweise zustande bringt. Und seitdem einer sich die Mühe gemacht hat, die unübersehbar wenig schönen materiellen Ergebnisse dieser so ungemein effektiven Produktionsweise zu erklären – statt sie moralisch anzuklagen –, fasst sich die Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus in der Erkenntnis zusammen, dass in diesem System der Reichtum, existierend als Privateigentum in wenigen Händen und gemessen in Geld, auf der produktiv gemachten Eigentumslosigkeit, der methodischen Ausbeutung derer beruht, die ihn produzieren. Marx steht dafür. Auch unser Kritiker stellt sich in die Reihe dieser Kritik und rückt sein definitives Urteil über die notorische Armut, die zum kapitalistischen Reichtum gehört, an den Anfang seiner Erörterungen: Denn der Kapitalismus ist ein brutales Gewinner-Verlierer-Spiel, dessen totalitärer Charakter die pure soziale und selbst die physische Existenz als Einsatz nicht ausspart; und er hat von Anfang an mehr Verlierer als Gewinner hervorgebracht. (14) Wo sich alle in der Zufriedenheit ergehen, in Gestalt des Kapitalismus mit der so ziemlich besten aller möglichen Welten bedient zu sein, hält der Autor dagegen: Kapitalismus ist für ihn ein Unterfangen, bei dem die Menschheit mehrheitlich ihre eigene Existenz vergeigt, und der Kritiker besteht darauf, dass in seiner Metapher vom Spiel, das ganz üble Folgen hat, wenigstens letztere ganz und gar nicht metaphorisch aufzufassen sind: Dass der Kapitalismus einige Wenige reich, die Masse aber bettelarm macht, das ist eine historische Grunderfahrung (15). Damit wäre der Gegenstand der fälligen Untersuchung eigentlich benannt, die Erklärung – sei es wie bei Marx, sei es ganz anders, womöglich besser – könnte losgehen – wenn es nicht mit der zitierten „historischen Grunderfahrung“ die eigentümliche Bewandtnis hätte, dass es sich nach Kurz’ Auffassung um eine Erfahrung in dem Sinn: um die jedem wachen Verstand sich aufdrängende Kenntnisnahme vom faktischen Gang der gesellschaftlichen Dinge, dann doch gar nicht handelt. Zwar nötigt „der Kapitalismus“ seinen Massen die ungeschminkte Wahrheit über sich auf, dies aber doch nur auf so tiefem „historischen Grund“, dass für den reflektierenden Kritiker der Verhältnisse doch noch das Entscheidende zu tun bleibt: Er muss in Erinnerung rufen, bewusst machen, was im Grunde alle schon wissen, wie schlecht es ihnen nämlich geht, weil sie es dann doch immer nicht gemerkt haben wollen. Diese kritische Leistung – unliebsame Wahrheiten bewusst zu machen – hat unter psychologisch gebildeten Zeitgenossen, und wer gehörte nicht dazu?, einen enorm guten Ruf; ganz zu Recht. Denn mit dieser Tätigkeit erspart man sich das mühselige Geschäft, irgendwas zu erklären, was sich an den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht von selbst versteht, sachliche Notwendigkeiten herauszufinden, auf die man nicht einfach wie auf Fakten deuten kann, eben weil sie deren Grund betreffen: Wo es bloß um „Bewusstmachung“ geht, liegt alles, was es über den Kapitalismus mitzuteilen gibt, als ungehobener Erfahrungsschatz bei jedermann längst vor. Deswegen erübrigt sich bei der Hebung dieses Schatzes auch die andere Mühseligkeit, die so fatal weit verbreiteten, zu Selbstverständlichkeiten geronnenen falschen Deutungen der kapitalistischen Lebensverhältnisse zur Kenntnis zu nehmen, zu entkräften, ihren Fehler auf den Begriff zu bringen und ihn darüber sich und anderen gründlich abzugewöhnen. „Falsch“ am affirmativen Bewusstsein der vielen Mitmacher ist für Kurz ja bloß, dass es seine ureigene Grunderfahrung nicht richtig festhält, nicht dauernd aktualisiert.[2] Dementsprechend tiefsinnig gestaltet sich seine Korrektur – und schlagartig wird klar, weshalb Kurz’ Opus magnum ungefähr so lange dauert wie eine durchschnittliche Psychotherapie: Getreu seiner Devise, wonach die Menschheit über den Kapitalismus niemals eine so gute Meinung hätte, würde sie nicht beständig absichtsvoll vergessen, wie schlecht der schon immer war, nimmt er sich vor, diesen Verdrängungskünstlern so penetrant wie möglich vor Augen zu stellen, woran sie sich partout nicht erinnern wollen. Er breitet ihnen die authentische Grunderfahrung namens Kapitalismus aus, die sich für ihn in Massenarmut zusammenfasst, und – dies sein Mittel, als Kritiker zu überzeugen – lässt dazu die Fakten sprechen. Seitenweise zitiert er aus einem riesigen Zettelkasten historische Belege, wie fein eingerichtet die vorkapitalistische Welt war. Ein König Wenzel II aus dem 14. Jh. kommt vor, weil er ein großes Herz für Bergleute hat. Vergleichsweise leckere Speisepläne aus dem Mittelalter decken schonungslos auf, wie wenig der moderne Abendländer von sich und seiner Geschichte vor dem kapitalistischen Sündenfall weiß. Sogar von erstaunlich kaufkräftigen Reallöhnen aus derselben Zeit erfährt der Leser, später dann von Goethe, wie dessen trübe Vorahnungen, die nahende Zukunft betreffend, selbige auch schon auf den Begriff bringen, und dann von Weberaufstand und Weberliedern: All das spricht für den Autor Bände, weil es dokumentiert, was zwar damals wie heute alle erfahren, aber eben auch pausenlos verdrängen, nämlich dass das Elend der Massen vom Kapitalismus nicht wegzudenken ist. Freilich, das weiß ein kritischer empirischer Sozialwissenschaftler schon auch: Ein wahres Honigschlecken war das Leben als Helot, Sklave oder Knecht vorher auch nicht immer, selbstverständlich gab es in der vormodernen Gesellschaft feudale und patriarchalische Unterdrückung, Seuchen, Kriege, Unwissenheit (19). Aber dazu entschlossen, den Kapitalismus gegen alle, die ihn als Fortschritt begrüßen, als genuine Quelle des Elends der modernen Welt schlecht zu machen, muss er ihn eben auch gegenüber dem Herrschafts- und Knechtschaftswesen der gesamten Vorzeit schwarz malen. Dabei wäre er wirklich der Letzte, der in Sachen Fortschritt nicht auch historische Gerechtigkeit walten ließe: Ich will keineswegs bestreiten, dass die kapitalistische Modernisierungsgeschichte die menschlichen Potenzen über alles frühere Maß hinaus gesteigert hat (19) – auch dies offenbar eine historische Erfahrung. Nur hat das der arbeitenden Menschheit nicht viel Segen gebracht – und der Kritiker, der die Schlechtigkeit des Kapitalismus in Erinnerung bringen will, positive Leistungen aber nicht abstreiten kann, wäre eigentlich ein paar erklärende Worte zu der Frage schuldig, wie beides zusammenpasst: die „Steigerung der menschlichen Potenzen“ und des Elends der meisten der Menschen, deren „Potenzen“ durch Wissenschaft und Technik so enorm ausgeweitet worden sind. Die Erklärung wäre, nebenbei, noch nicht einmal sehr schwer, weil die ersten Theoretiker der Arbeiterbewegung sie schon geliefert haben: Im Kapitalismus existieren die „menschlichen Potenzen“, genauer: die produktiven Potenzen der menschlichen Arbeit, nämlich die Technik mitsamt ihren wissenschaftlichen Grundlagen, getrennt von den arbeitenden Leuten als Eigentum und damit als Potenz des Kapitals, die Ausbeutung der menschlichen Arbeitstätigkeit immer ertragreicher und rentierlicher zu gestalten. Einsichten dieser Art würden den angestrengten Bewusstwerdungsprozess, um den das „Schwarzbuch“ sich bemüht, jedoch bloß stören. Für den ist es viel nützlicher, mit Emphase darauf zu bestehen, dass der Kapitalismus den Massen die Früchte des menschlichen Fortschritts, den er einerseits bewerkstelligt, andererseits und vor allem vorenthalten hat, ihren Lebensstandard gesenkt anstatt gesteigert hat.

Um die Größe dieses Skandals so recht fühlbar zu machen, wirft Kurz dem Kapitalismus vor, niemals dazu imstande gewesen zu sein, die von ihm hervorgebrachten Potenzen für eine Verbesserung des Lebens aller Menschen anzuwenden – und merkt dabei nicht einmal, wie viel er dem verteufelten System dabei zugute hält: Offenbar ist ihm wirklich nicht bewusst, dass der Verwendungszweck fortentwickelter technischer Potenzen längst festliegt, wenn das Kapital sie – nie ohne Patentschutz! – als sein Eigentum, seine Produktivkraft, sein Ausbeutungsmittel hervorbringt, und dass die Produktionsweise nicht Unfähigkeit, sondern im Gegenteil ihre systemeigene Leistungsfähigkeit unter Beweis stellt, wenn sie ihre fortschrittlichen Errungenschaften nicht an eine Verbesserung des Lebens aller Menschen verschwendet, sondern für die produktive Funktionalisierung ihres geschätzten Menschenmaterials einsetzt – dessen sachgerechte Pflege übrigens durchaus eingeschlossen… Kurz glaubt stattdessen an ein gutes Leben für alle als Maßstab, an dem auch der Kapitalismus sich zu bewähren hätte und schändlich scheitern würde; er glaubt in diesem Sinne auch an eigentlich gute, potentiell geradezu antikapitalistische Fortschrittsleistungen des Kapitalismus – und besteht deswegen nur umso vehementer darauf, dass daraus dann doch nichts wird, weil die schlechten Seiten des Systems, sein Versagen vor dem Ideal des allgemeinen Menschheitsfortschritts, unendlich überwiegen: „Obwohl Fortschritt, trotzdem Verelendung“: Kurz gibt sich vom Kapitalismus enttäuscht; freilich nicht, um die Täuschungeigentlich wäre es doch um allgemeine Wohlfahrt zu tun, speziell wenn Kapitalisten Forschung finanzieren – zu entkräften, sondern um sie gerade im Gegenteil zu der weiterführenden Frage zu verarbeiten: Wie war dieser krasse soziale Abstieg gegenüber allen bekannten Jahrhunderten der Antike und des Mittelalters trotz steigender wissenschaftlicher Kenntnisse möglich? (21) Die Antwort besteht folgerichtig in der drastifizierenden Auflistung enorm ekelhafter historischer Umstände, die von so viel Missstand zeugen – sollen –, dass den Freund des Menschenfortschritts an dessen ausgebliebenen Segnungen gar nichts mehr wundert, auch ohne dass er sich etwas davon erklärt hätte: Absolutistischer Geldhunger, ‚Exportismus‘, Zwangsarbeit, Staatsökonomie, Kolonialismus, Weltmarkt und Expansion der Marktbeziehungen: In diesem Milieu einer von Grund auf repressiven ökonomischen Dynamisierung konnte sich der … beginnende Privatkapitalismus tummeln. (32) Unser Kritiker begnügt sich nicht mit dem, was er bei Marx und anderswo über die Akteure der „ursprünglichen Akkumulation“ gelesen hat. Er ist bei seinem Studium der Historie viel gründlicher zu Werke gegangen und hat deswegen auch herausgefunden, was die alten Fürsten in ihrem Hunger nach Geld genauso wie den Staat in seinem nach Kolonien letztlich getrieben hat. Eine Dynamisierung war’s, ein Prozess, von dem wir näher erfahren dürfen, dass er von seinem eigenen beschleunigten Prozessieren getrieben wird. Das ist nicht schlecht, jedenfalls der Sache enorm tief auf den Grund gegangen, und wenn man zu diesem Subjekt namens Beschleunigung noch die Prädikate repressiv und ökonomisch dazunimmt, ist man über alles exakt im Bild, was Marx mit seiner Rede von der Oberfläche der Konkurrenz gemeint haben muss: Unter ihr brodelt eine Macht, von Grund auf böse, ein Milieu, in dem logischerweise nur gedeiht, was in ihm gedeihen kann. Daher tummelt sich da ein Privatkapitalismus, der – wie der Herr, so’s Gescherr – um keinen Deut besser ist: Die Menschen sollten zu Zugochsen der ‚abstrakten Arbeit‘ (Marx) gemacht, nämlich einer fremdbestimmten, jenseits der eigenen Bedürfnisse und außerhalb der eigenen Kontrolle liegenden Tätigkeit unterworfen werden. Indem sie nur noch durch das Joch der ‚Arbeitsmärkte‘ an die Reproduktion ihres eigenen Lebens herankommen konnten, mussten sie ihre gesamte produktive Tätigkeit dem abstrakten Selbstzweck des Geldes (aus Geld mehr Geld machen) ausliefern. ‚Abstrakt‘ gemacht wurde ihre Tätigkeit dabei als inhaltlich gleichgültige betriebswirtschaftliche ‚Verausgabung von Arbeitskraft‘ schlechthin, als sinnvergessenes Produzieren um seiner selbst willen. (31) R. Kurz ist also auch Werttheoretiker. Er erinnert mit dem Namen in der Klammer an die Jugendsünden seiner Leser, die – wie ja auch er – irgendwann einmal die Analyse der Wertform in MEW 23 durchgenommen haben.

Man fragt sich nur, was er da eigentlich gelesen und in seine historische Erfahrung aufgenommen hat. In Marx’ Originalversion ist das „Abstrakte“ an der Arbeit im Kapitalismus nämlich eher nicht als Sinnvergessenheit bestimmt; und dass das Produzieren in dieser Produktionsweise „nur um seiner selbst willen“ veranstaltet würde, hat Kurz’ Berufungsinstanz auch nicht gelehrt. Um eventuell interessierten Kurz-Lesern ein paar sachdienliche Hinweise an dieser Stelle nicht schuldig zu bleiben: „Abstrakt“ nennt Marx die Arbeit in der Marktwirtschaft, weil es in diesem System beim Produzieren nicht auf ein gutes Leben der arbeitsteilig produzierenden Gesellschaft und die dafür nötigen Gebrauchsgüter ankommt – wozu die Ersparnis von menschlichem Arbeitsaufwand ganz wesentlich hinzugehören würde: verfügbare Zeit wäre das gar nicht unpassende Maß gesellschaftlichen Wohlstands! –, sondern ausgerechnet darauf, dass eine möglichst große Masse, freilich nur: rentabler Arbeit verrichtet wird: Wirkliches Maß des gesellschaftlichen Reichtums dieser Gesellschaft ist ein Maximum an rentabel ausgenutzter Arbeitsmühe. Denn bei allem Produzieren geht es um das aus dem Produzierten erlöste Geld: um Eigentum schlechthin in der ihm gemäßen „schlagkräftigen“ Gestalt des allgemeinen, global gültigen Tauschwerts; und zwar um immer mehr und möglichst viel. Wem es um dieses im Wortsinn ‚eigentümliche‘ Arbeitsprodukt geht und warum, das gibt Marx schon im Titel seines Hauptwerks an: „Hinter“ der genannten Zweck- und entsprechenden ökonomischen Formbestimmung der Arbeit steht die im Geld vergegenständlichte Privatmacht des Eigentums: dessen rechtlich begründetes und abgesichertes Monopol auf Verfügungs- und Kommandogewalt über die gesellschaftliche Arbeit und sein systematisch ins Recht gesetztes, also mit Gewalt ausgestattetes Interesse, vermittels der Arbeit, die es verrichten lässt, sich zu vermehren. Dass Arbeit „abstrakt“ ist und – nicht dies oder jenes, sondern ökonomisch genau genommen immerzu nur ein und dasselbe, nämlich im Maße ihres rentablen Stattfindens – Wert produziert, hat seinen Grund also darin, dass sie von kapitalistischen Arbeitgebern veranstaltet wird, und dies ausschließlich zu dem Zweck – also nur insoweit, insoweit aber schrankenlos –, dass sie ihnen geldwertes Eigentum schafft; und zwar mehr davon, als sie für Lohn verausgaben müssen. Dieses Verhältnis der Bereicherung vermittels fremder, mit Lohn gekaufter Arbeit, deren Ausbeutung, ist Sinn und Zweck der wertschaffenden Arbeit, der Grund und das ganze „Geheimnis“ ihres „abstrakten“ Charakters – den, als abhängige Variable, dann sogar die Lohnarbeiter selbst sich zu ihrem existenziellen Anliegen machen müssen; freilich ein wenig andersherum: Als „abhängige Erwerbspersonen“ arbeiten auch sie ausschließlich für Geld; allerdings nicht für das, das sie produzieren, sondern für das, mit dem ihr kapitalistischer Arbeitgeber sie als sein Produktionsmittel kauft. – So viel zwischendrin zur Sache.

Um zu Marx’ Darstellungsweise im ‚Kapital‘ noch ein eventuell klärendes Wort zu sagen: Der Kritiker der politischen Ökonomie des Kapitals hat als wissenschaftlich versierter Kopf gemeint, er könnte das Prinzip und die Sachgesetzlichkeit kapitalistischer Klassenverhältnisse auf die Art am gründlichsten aufklären und systematisch am besten darstellen, dass er, quasi lehrbuchmäßig, erst einmal am allgemeinen Begriff des Geldes den allgemeinen Zweck der Arbeit im Kapitalismus – überhaupt Tauschwert zu schaffen – entwickelt, dann vom Geld als eigentlichem Arbeitsprodukt und Zweck der Arbeit aufs Kapital als den eigentlichen Veranstalter – Ursprung, Zweck und Endpunkt – des gesellschaftlichen Produktionsprozesses schließt und dann die Lohnarbeit, nämlich die Aneignung unbezahlter Arbeit per Kauf von Arbeitskraft, als das entscheidende Lebensmittel des Kapitals, also Bereicherungsmittel der Eigentümerklasse ableitet. Dass 100 Jahre später sinnsüchtige Leser gleich beim ersten Gedankenschritt das ökonomische Nachdenken seiner Darlegung einstellen und stattdessen das Philosophieren anfangen würden, konnte er weder ahnen, noch sollte man es ihm und seiner Darstellungsweise zum Vorwurf machen. Daran, dass er mit seiner „Arbeitswertlehre“ weder das Produzieren als abstrusen Selbstzweck behaupten noch die innere Sinnlosigkeit der Arbeit für Geld geißeln, sondern das ökonomische Prinzip des so einseitig produktiven Verhältnisses zwischen Lohnarbeitern und kapitalistischen Unternehmern erklären wollte, hat er keinen Zweifel gelassen – nichts anderes hat er aufgeschrieben. Aber was hilft’s, wenn einer entschlossen ist, die Sinnlosigkeit kapitalistischen Produzierens und Verelendens ins Bewusstsein seiner Leser zu heben! Kurz – darin durchaus repräsentativ für eine ganze Schule philosophischer Marx-Exegese[3] – stellt die ganze schöne Ableitung der politischen Ökonomie des Kapitals auf den Kopf, löst alle eindeutigen Bestimmungen des Verhältnisses von kapitalistischem Zweck – Vergrößerung des von Staats wegen mit Kommandogewalt ausgestatteten Eigentums – und Mittel – rentable Lohnarbeit in größtmöglicher Quantität – nach „rückwärts“ in die systematisch ersten grundlegenden Attribute der geldproduzierenden Arbeit auf und erklärt das eigene verständnislose Staunen darüber, dass es beim Arbeiten im Kapitalismus, statt um die allgemeine Wohlfahrt, tatsächlich um nichts als Geld und immer mehr Geld geht, zum „irrsinnigen“ Prinzip der gesamten Produktionsweise. Dafür hätte der Mann wirklich nicht Marx studieren müssen; für die Weisheit hätten Donald Duck und Onkel Dagobert gereicht!

So bezieht sich der „Schwarzbuch“-Autor also zwar auf den systembildenden ökonomischen Zweck des Kapitals, aus Geld mehr Geld zu machen, und auch darauf, dass die Arbeiter sich dem ausliefern müssen – aber eben nur, um zielstrebig von dem Verhältnis abzusehen, das zwischen dem Zweck und seinem Mittel besteht und eine ganze Gesellschaft in Klassen scheidet: Nur weil er den Wert vom Mehrwert und die abstrakte Arbeit von der Mehrarbeit trennt und die kapitalistische Ausbeutung der Arbeit unbedingt ohne ihren Inhalt denken will, stattdessen am völlig sachfremden Ideal „eigentlich“ doch möglicher Versorgung misst, kommt ihm die unter ihren kapitalistischen Zweck subsumierte Arbeit als eine einzige Sinnlosigkeit vor, als der Irrsinn eines Produzierens um seiner selbst willen; nur deswegen wollen ihm Lohnarbeiter als Zugochsen erscheinen, die, egal womit und egal wofür, also in jeder Hinsicht zweck-, vernunft- und sinnlos, vor sich hin werkeln. Ein Marxosoph ist unser Linker, einer, der sich an Marx entlehnten Stichworten entlang hangelt, weil er dem Ideal eines sinnvollen Lebens und Arbeitens nachhängt und dem Kapitalismus attestieren will, eine einzige Veranstaltung zur Verhinderung seiner schönen Idee zu sein. Entsprechend vehement wirft er sich auf alle unerfüllten moralischen Drangsale, mit denen das moderne klassenübergreifende bürgerliche Selbstbewusstsein sich in seinem kapitalistischen Treiben wenigstens ideell Genugtuung zu verschaffen pflegt, und wanzt sich an alle an, die sich in ihrer Statistenrolle im Erwerbsleben nicht genügend selbstbestimmt und selbstverwirklicht vorkommen: Die mit ihren Drangsalen sind die Berufungsinstanz, die seiner Kritik Überzeugungskraft verleihen soll. Die weiht er in das polit-ökonomische Geheimnis ein, warum so viele im kapitalistischen Werkeltag andauernd den ihr Ich befriedigenden Sinn vermissen – und teilt ihnen mit, dass der Kapitalismus diesbezügliche Hoffnungen eben nur immer frustrieren kann. Das ist der Dreh, mit dem er bei allen gut ankommt, die sich im Kapitalismus, wie er geht und steht, sinnmäßig irgendwie leer fühlen: Den auf seinem eigenen Mist gewachsenen Ansprüchen an eine befriedigende Sinngebung ist der einfach nicht gewachsen, was für ein Skandal!

Soweit der Auftakt zur modern-kritischen Lesart der gar nicht modernen und eher sturzaffirmativen Leier vom Elend in der Welt, vom unbehausten Ich und der Sinnleere seines Arbeitslebens. Damit die schlichte Botschaft aufs Niveau des gebildeten Geistes der Zeit passt, pflanzt der moderne Kritiker ihr einfach eine riesige Hyperbel auf, welche es zugleich gestattet, von der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie endgültig loszukommen und zum Kulturkritiker der Arbeit zu konvertieren. Er interpretiert sich das Elend, das zum Kapitalismus gehört wie das Amen zur Kirche, als Machenschaft eines Systems zurecht, das, von niemandem gewollt und bezweckt, ein permanentes Übel produziert. Solange abstrahiert er planmäßig von der ganzen sehr zweckmäßig eingerichteten kapitalistischen Welt von Gewalt und Geschäft, bis er bei der vorgestellten Monströsität einer organisierten Grund- und Zwecklosigkeit angelangt ist, an die er sich dann die Menschheit in ihrer arbeitenden Mehrheit ausliefern lässt. Ein moralisch durch und durch verachtenswerter Selbstzweck waltet da also, den der intellektuelle Kritiker erschöpfend auf seinen Begriff bringt, indem er sich demonstrativ ans Hirn fasst und ihn Irrsinn nennt. Die Politische Ökonomie einer verhängnisvollen Sinnlosigkeit; die Enttarnung des Kapitalismus als Weltuntergangssekte, die Imagination einer Produktionsweise als verschworene Glaubensgemeinschaft blinder Irrer: das muss dem Markt für kritische Literatur offenbar noch gefehlt haben.

Die schwarze Utopie der totalen Konkurrenz: Wie alle großen Denker die Welt als Irrsinn entlarven

Dem Kritiker ist bekannt, dass im Kapitalismus rechtlich einander gleichgestellte, aber sehr unterschiedlich bemittelte Privatsubjekte sich auf Kosten des jeweils anderen an der Mehrung ihres Eigentums zu schaffen machen. Seit Marx heißt das Konkurrenz. Wie ins Thema Massenelend, so führt R. Kurz auch in die Betrachtung der kapitalistischen Konkurrenz ein, indem er ausmalt, was für ein Verhängnis mit der über die Menschen hereingebrochen ist. Aus dem Umstand, dass diese in der Tat eine alle Lebensbereiche durchdringende und bestimmende Macht, in diesem Sinne also wirklich total ist, fabriziert der Abstraktionskünstler Kurz im Handumdrehen ein eigenes Subjekt. Er lässt einfach alles, was den Grund dieser Macht betrifft, im Dunkeln – und schon ist total für ihn nicht mehr das bloße Attribut zur Sache, sondern die Sache selbst: Totalitarismus ist ihre Wesensbestimmung, also wieder ein einziges Übel, das man sich dann wieder an seinen Erscheinungsweisen vergegenwärtigen darf. So kommt zwischen dem Prinzip Nr. 1, der Verwandlung von Geld in mehr Geld als Selbstzweck (34), und, als dessen Derivat, dem Prinzip Nr. 2, dem Totalitarismus des Marktes, dem sich die Menschen bedingungslos unterwerfen sollen, die vorkapitalistische Gemütlichkeit einer kulturelle(n) Einheit unter die Räder. Das ist ein Verlust, weil die Epoche von Herrschaft und Knechtschaft im Vergleich zu der, die gleich kommt, eine feine Sache war, sie nämlich sowohl soziale Kontrolle als auch ein gewisses Maß an Geborgenheit vermittelte (35). Und wer könnte diesmal besser bezeugen, dass das Wesen, das da das sinnvolle Leben in einer sozialen Idylle zertrampelt, Werk anonymer Mächte und vor sich hin waltender Prinzipien ist, als die ganze Schar von Dichtern und Denkern, die das so oder ähnlich, mit solchen oder anderen Prinzipien, schon immer behauptet haben? Mit Ideologiekritik hat ja auch bei Marx die Kritik des Kapitalismus angefangen, also marschieren auch in ihrer modernen Ausgabe die Ideologen des Kapitalismus auf. Allerdings etwas anders, schließlich leben wir in der Moderne der Kritik: Unser Kritiker mustert die bürgerliche Ideengeschichte nach Kronzeugen seiner Sinngebung des Kapitalismus durch; er beurteilt nichts und niemanden, sondern greift sich heraus, was zu dem moralischen Bild passt, das er von diesem System im Kopf hat, wobei es ihm absolut gleichgültig ist, ob die Ideen, die er für sich sprechen lässt, von ihren Erfindern als Parteinahme für oder gegen den Kapitalismus gedacht wurden, ja, ob es zu dem Zeitpunkt, als sie erfunden wurden, die Verhältnisse überhaupt gab, die unser Kritiker im Auge hat.

Th. Hobbes zum Beispiel. Der hat sich – verglichen am heutigen politikwissenschaftlichen Standard des Argumentierens – sehr unbefangen und ehrlich um die Rechtfertigung des modernen bürgerlichen Staates bemüht. Der war einfach parteilich für die Gewalt, die da in ihrem Entstehen war, und hat sein Votum, dass es sie zu geben hat, als Urteil über sie ausgedrückt: Einmal gründlich davon abgesehen, dass die Welt von Recht und Eigentum Werk staatlicher Gewalt ist, also ein Gewaltmonopol unterstellt, ließ er sich von einem Blick ins wirkliche Leben schlagartig darüber belehren, wie bitter nötig doch angesichts der Gegensätze, die sich da zwischen den Eigentümern austoben, ein Monopolist der Gewalt ist, der die Menschen, die sich ja offensichtlich von Natur aus nur an die Gurgel fahren wollen, unter Kontrolle hält. Auf diese wirklich nicht übermäßig schlaue Ableitung des Staates als Naturnotwendigkeit bezieht unser Ideologie-Kritiker sich – und schreit laut Heureka! Hobbes Bild vom Menschen genauso wie das vom biblischen Gewaltmonster Leviathan: Das ist er exakt, der Kapitalismus, in etwa so, nämlich als gewaltsames Monster denkt Kurz sich den auch. Für ihn würden sich die abstrakten Individuen wirklich so aufführen, wie der Staatsableiter sich seine Horde Eigentümer ohne Staat auspinselt. Für ihn würden sie sich in ihrer mörderischen Konkurrenz allen Ernstes tatsächlich gegenseitig völlig zerfleischen und auffressen, ließe man sie unbeaufsichtigt – und daher bringt Hobbes, indem er sich den Staat als notwendige Zwangsgewalt (39) zurecht konstruiert, die Sache auf ihren Punkt: Ein Monster knechtet Menschen, die es nicht anders verdienen, typisch Kapitalismus! Doch nicht nur den realen Abgrund von Schlechtigkeit und Menschenverachtung des Kapitalismus bezeugt dieses Leitbild des Liberalismus (39). Praktisch überall, wo Menschen zu den Kunststücken des Geldes und der ‚abstrakten Arbeit‘ dressiert werden wie Zirkustiere, müssen die Dompteure im Namen der Macht mit der Peitsche drohen und – wie unser marxistisch-leninistischer Bestechungstheoretiker irgendwann einmal auch gelernt hat: mit klebrigen kleinen Belohnungsbonbons locken. (43) Aber er geht ja mit der Zeit. Daher ist er mit einem schlichten Igittigitt! fertig mit seinem Argument und hat mit dieser demonstrativen Kundgabe seiner abgrundtiefen Verachtung im Wesentlichen auch gleich alle herrschaftlichen Spielarten vom Faschismus über die Demokratie bis zum Staatssozialismus erschöpfend auf ihren Begriff gebracht: Panem & circenses, Zuckerbrot & Peitsche. Allesamt sind sie Variationen ein und desselben Bildes vom Kapitalismus als vor sich hindrehendem Laufrad und vom Menschen als dem willenlosen Hamster drin, der dazu manipuliert wird, es in Bewegung zu halten. Doch zu den Einzelheiten, mit denen der Kritiker seine Dialektik von Selbstlauf und Manipulation zusammenbaut, ist noch ein langer Weg, auf dem als Nächster ein gewisser Mandeville das Vorhandensein der niedrigsten sozialen Instinkte (47) im Kapitalismus bezeugen darf. Schon wieder dadurch, dass der blendende Hermeneutiker, der hier die Geistesgeschichte aufrollt, einem Ideologen und Apologeten des Kapitalismus schlicht und ergreifend jeden Spruch als gültige Auskunft darüber abkauft, wie es um die Welt bestellt ist: Er zitiert ihn einfach, und belegt mit dem Zitat seine eigene Auffassung über die wahre Natur der westlich-kapitalistischen ‚freien Nationen‘ (51).

Dito de Sade, mit dem auch wir ganz bestimmt nicht gerne länger im selben Zimmer säßen. Aber sicherlich nicht deswegen, weil dieser Sack mit seiner öden, aber doch sehr konkret interessierten Phantasie ausgerechnet die monadische Form des kapitalistischen Menschen schon in der Frühphase dieser abgründigsten aller bisherigen Gesellschaftsordnungen (53) entdeckt hätte. Kant mit seinem ‚Schöpfergott‘ und Smith mit seiner ‚unsichtbaren Hand‘ stehen in etwa für dasselbe – nicht für Beispiele affirmativen Denkens einer höheren Ordnung und Weltvernunft, in der die Monaden eingebettet sind. Vielmehr dafür, dass sich auch in ihren Ideen nur exakt die Monströsität widerspiegelt, wie sie real gerade im Entstehen ist. Dabei zeigt der Kritiker, worin in Sachen Analogie-‚Schluss‘ allein die wahre Meisterschaft besteht. Man muss nur beispielsweise konsequent an der Abstraktion ‚System‘ weiterdenken und sich fragen, was denn noch zu ihr passt, und schon findet sich, wonach man sucht: Erst der blinde Systemprozess des totalen Marktes konnte in der affirmativen Reflexion so etwas wie das moderne Systemdenken hervorbringen (72). So bringt ein – auch noch blinder – Prozess ein Denken hervor, von dem man gar nicht mehr zu wissen braucht, als dass es – ‚System‘ sagt es ja – zu seinem Geburtshelfer passt. Für keine Sottise der modernen Geisteswissenschaft ist dieser vulgärmaterialistische Abbild-Theoretiker sich zu schade: Weil ohne ein System das Systemdenken wohl nicht möglich gewesen wäre, soll man es ihm zufolge einfach als Ausdruck von dem System denken, das es gibt, und mit dieser griffigen Formel stiftet er einen Begriff der Sache, bei dem man von gar nichts irgendetwas begriffen haben muss, weder von dem, was sich da ausdrücken, noch von dem, worin es sich ausdrücken soll. Und nach diesem Muster geht’s weiter dahin, bis zu Bentham, dem Liebling unseres Ideologiekritikers. Der ist von Beruf Glücksphilosoph – ja, das waren noch Zeiten; heute ist man Unglücksphilosoph; doch dazu später –, und nach Auffassung des Interpreten hat man es bei seinen Texten mit den Auslassungen eines Irren (87) zu tun. Als Irrer mit Ideen, wie die Insassen von Besserungsanstalten, Gefängnissen, Manufakturen oder Armenhäusern unter Aufsicht zu halten sind – ein Panoptikum fällt ihm da halt ein –, ist er für Kurz gefundenes Fressen, weil eine einzige bildliche Darstellung des abstrakten Prinzips, das im Kopf des Kritikers spukt – alle kontrollieren sich selbst und einander wechselseitig im Namen einer subjektlosen Vernunft, der Vernunft des verselbständigten Systems von ‚Arbeit‘ und ‚Verwertung‘ (88). Für unseren Kenner der Literatur wird da auf den ersten Blick erkennbar, dass Bentham Orwells ‚1984‘ um nahezu zweihundert Jahre vorwegnimmt (89), was ihm natürlich die unbezweifelbare Richtigkeit beider beweist und ganz nebenbei zur Gewissheit werden lässt, dass auch die spätere Demokratie die Herrschaftsform der panoptisch gezwiebelten selbstregulativen Subjekte (89), also ein ziemlicher Irrsinn ist.

Soweit die moderne kritische Rezeption eines kleinen Stücks bürgerlicher Geistesgeschichte. In ihrem Resultat läuft sie darauf hinaus, dass die ideologischen Denker in ihrem erdachten Unsinn erstens mit ihren Ideen reagierten auf die schon existierenden Objektivierungen der Marktwirtschaft. Dass ihre Reaktionen zweitens ihrerseits Reaktionen hervorriefen, ihr Irrsinn Fleisch wurde und wirkmächtig in die weitere Objektivierung dieses paranoiden Zuchthaus-Systems einging (100). Dass drittens also nicht nur die Objektivierungen der Marktwirtschaft von dem gar nicht so recht zu unterscheiden sind, was ein Paranoiker womöglich als objektiviertes Zuchthaus identifiziert. Sondern sich viertens auch noch die Idee des Zuchthauses von ganz allein dazu aufmachen kann, sich als Marktwirtschaft zu objektivieren. Gottlob kann unser Kritiker da den Überblick bewahren, ist für ihn doch im Wesentlichen ohnehin alles ein und dasselbe. Irrsinn halt.

Die Geschichte der ersten industriellen Revolution: Wie ein Irrsinn sich als Dampfmaschine manifestiert

Moderne Ideologiekritik geht also so, dass der Kritiker sich dazu entschließt, den Spruch von den ‚herrschenden Gedanken‘ einfach wortwörtlich zu nehmen und sein Quidproquo als fix und fertige Kritik von beidem, als Kritik des für das Herrschende parteilichen Denkens ebenso wie als Kritik dessen vorstellt, was da herrscht. Insofern – wir befinden uns in der Mitte des 18. Jahrhunderts – ist die Geschichte des Kapitalismus eigentlich abgeschlossen: Eine Selbstzweck-Maschine mit ihrem basalen Verhältnis von ‚abstrakter Arbeit‘ und Geld (102) auf der einen und ein Denken, für das der Fortschritt wegen der angeblich für immer abgeschlossenen Form der Gesellschaft nicht mehr weitergehen durfte, auf der anderen Seite machen den Kapitalismus perfekt zu dem hermetisch abgeriegelten Irrenhaus, das er in der Anschauung unseres Kritikers ist. Was soll sich da noch entwickeln, geschichtlich? Und in der Tat – genau das Problem, einen Kapitalismus als irren Selbstzweck und Maschine durch die Geschichte zu schleppen, hatten vor R. Kurz auch die Ideologen der bürgerlichen Welt: Deshalb – wirklich: deshalb! – verlegte das bürgerliche Denken seinen Schwerpunkt zunehmend auf die Organisations- und Naturwissenschaft. (…) Nachdem Newton das Universum zur physikalischen, Smith die Gesellschaft zur ‚schönen‘ ökonomischen Weltmaschine erklärt, de Sade die anonyme Sexmaschine erfunden und La Mettrie sogar den Menschen selbst als Maschinenwesen definiert hatte, war es nur folgerichtig, dass sich der ‚Weltgeist‘ des Kapitalismus auf die technologische Entwicklung nach seinem Bilde verlegte. Gleichzeitig objektivierte sich auch dieses Moment des kapitalistischen Denkens, und zwar getrieben durch die Dynamik der Konkurrenz. (…) Die Marktteilnehmer wurden zu einer permanenten ‚Produktivkraftentwicklung‘ genötigt, um das eigene Angebot marktfähig zu halten. (102 f.) Ein kleines Kind, brächte es denn so etwas zustande, müsste man da geistig behutsam an die Hand nehmen und ihm Schritt für Schritt erläutern, dass Naturwissenschaft anders geht als die Schwerpunktverlagerung eines Denkens zu ihr hin. Dass man zum Ausdruck seiner Gedanken zuweilen auch gut zu bildlichen Vorstellungen greifen kann, deswegen aber nicht gleich das Bild mit der Sache gleichsetzen darf, die da gedacht wird. Dass es deshalb sehr darauf ankommt, ob die Gedanken stimmen, die sich in Bildern zusammenfassen, man also gut beraten ist, erst die geistigen Konstruktionen zu überprüfen, mit denen da so manches zur Maschine erklärt, definiert oder als solche erfunden wird, bevor man sich der Auffassung anschließt, Natur, Mensch und Ökonomie wären wirklich Maschinen. Aber was soll man einem erwachsenen Intellektuellen sagen, der den Bildern falscher Gedanken die Existenz eines maschinenmäßig verfassten Geistes entnimmt und den dann solange vor sich hindenken lässt, bis er sich in Gestalt der Dampfmaschine endlich wieder erkennen kann? So konstruiert sich eben eine fixe Idee die Welt nach ihrem Geschmack zurecht, zaubert ein abstraktes Subjekt nach dem anderen in sie hinein, nach dem Weltgeist eben die Dynamik einer Konkurrenz, fingiert sich so die Einsicht in eine tiefere Notwendigkeit, die einem den Gang der Dinge jedenfalls plausibel macht, und kann dann mit diesem abstrakten Muss im Kopf triumphierend darauf deuten, dass es ja genau so kam, wie es kommen musste: In demselben Maße, wie der Motor der Konkurrenz ansprang, wurde der Durchbruch der ersten industriellen Revolution unvermeidlich. (103) So wissen wir also, dass im selben Maß, indem er vollzogen wurde, der Durchbruch der Industrie unvermeidlich war, und mit ihm auch noch anderes mehr: Die Entwicklung der Maschinenkräfte führte (..) nicht, wie es notwendig und sinnvoll gewesen wäre, zu einer vorgeordneten Kommunikation der alten handwerklichen Produzenten über die gemeinschaftliche Kontrolle der vernetzten Produktion. (111) Und warum nicht, wo doch schon im so genannten Mittelalter durchaus eine technische Entwicklung festzustellen (ist), die durch eine autonome emanzipatorische Bewegung der Produzenten hätte forciert werden können (108)? Der Kritiker kann über den Gang der Dinge nur schon wieder seine tiefe Frustration zu Protokoll geben. ‚Technik‘ Hand in Hand mit ‚Emanzipation‘ – für ihn wäre das schon im Mittelalter gut möglich gewesen. Schon gleich im Zeitalter der Maschine. Zwar stellt da der Kapitalismus ganz real und praktisch vor Augen, dass in ihm und für ihn die Vorstellung des Kritikers weder notwendig noch sinnvoll ist. Aber einer, der als Anwalt einer höheren Weltvernunft unterwegs ist, entnimmt dem nur den Beweis, wie richtig er mit allem liegt, was er sich im Irrealis als Bewegungsgesetz der Geschichte ausgedacht hat, und schafft von der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte sogleich wieder den Absprung zum Selbstlauf, dem der Gang der Dinge unterliegt: Aber bevor diese Möglichkeit in Erwägung gezogen und ausprobiert werden konnte, drängte sich die vom Absolutismus entfesselte Konkurrenz der betriebswirtschaftlichen Einheiten (…) gewaltsam auf. (109) Die also war’s, eben nicht seine, sondern eine Vernunft der Betriebswirtschaft hat die feine Ware, die man doch anders ganz vernünftig nützen könnte, für sich in Beschlag genommen. Und warum tat sie dies? Tja, sie ist halt so, einfach irrational, irr und gesellschaftlicher Irrsinn.

So einfach geht das moderne Kritisieren: Man stellt sich dem gegenüber, wie und warum die Welt so und nicht anders eingerichtet ist, stur ignorant und stattdessen vor, wie sie ganz anders eingerichtet sein könnte, irgendwie ‚vernünftig‘ zum Beispiel und obendrein gemütlich, mit viel ‚Gemeinschaftlichkeit‘, ‚Emanzipation‘ und so feinen Sachen. Und weil die Welt hinten wie vorne nichts von dem verrät, was der Idealist in ihr gerne vorgefunden hätte, ist es für ihn eben das Fehlen seiner vorgestellten Ideale, was den Grund aller Übel ausmacht: Zum Irrsinn wird das kapitalistische System für ihn, indem er es als Abweichung von der Vernunft demaskiert, die er gerne in der Welt gesehen hätte, und diesen Irrsinn belegt er dann. Zuerst mit dem, als was er in seiner Eigenschaft als Marx-Ausleger sich die Kapitel 10 ff. im dritten Band des Kapital hat einleuchten lassen: Die kapitalistische Produktionsweise gerät dadurch in einen unlösbaren logischen Selbstwiderspruch. Denn auf der einen Seite ist es ihr absurder Selbstzweck, die Akkumulation ‚abstrakter Arbeit‘ in eine Akkumulation von ökonomischem ‚Wert‘ zu verwandeln, dargestellt als pulsierendes Wachstum des Geldkapitals um seiner selbst willen. Auf der anderen Seite aber ersetzt dieselbe irre Vernunft mit zunehmender Produktivkraftentwicklung menschliche Arbeit und höhlt so die Substanz der ‚Wertschöpfung‘ selber aus. (…) Auf den Märkten muss dieser Widersinn schließlich als krasses Missverhältnis von wachsenden Produktmassen und schrumpfender Kaufkraft in Erscheinung treten. (110) Was diese irre Vernunft und das Absurde des Kapitalismus betrifft, so bestehen wir hier wieder mal auf Richtigstellung in sachlicher Hinsicht. Der Selbstzweck dieses Systems akkumuliert keineswegs erst abstrakte Arbeit, um sie anschließend in Wert verwandeln und den dann als um seiner selbst willen gewachsenes Geldkapital dargestellt anglotzen zu können. Der Produktionszweck ‚abstrakter Reichtum‘ subsumiert vielmehr die Arbeitskraft unter den Zweck, Mehrwert zu liefern, den sich ihre Anwender aneignen: Das macht das Arbeiten kapitalistisch rentabel. Nur unter dieser Bedingung findet Arbeit im Kapitalismus überhaupt statt, und nur um die Arbeit rentabler auszubeuten, entfesselt das Kapital die Produktivkräfte, senkt die notwendige Arbeitszeit, die die Lieferanten der Mehrarbeit für die Reproduktion ihrer Arbeitskraft brauchen, um im selben Zug die unentgeltliche Mehrarbeit zu steigern. Die Anwendung des Hebels des Kapitals, Arbeit rentabel zu machen, also bezahlte Arbeit einzusparen, führt dazu, dass immer weniger von der Arbeit notwendig ist und stattfindet, von der ihre kapitalistischen Anwender nicht genug kriegen können: Das Kapital steigert die Produktivität der Arbeit so, dass weniger Arbeitskräfte immer gewinnbringender arbeiten, während sich andere dadurch nicht mehr rentabel ausbeuten lassen. Die Unbrauchbarkeit der für den Profit Überflüssigen beweist dann schlüssig, dass ihre Arbeit zu teuer angeboten wird. Wäre es also nur so, wie Kurz meint, und dies alles ein unlösbarer logischer Selbstwiderspruch: gut könnte man diesen Irrsinn sich selbst und den Kapitalisten überlassen, die ihn betreiben. Aber dieses System ist eben nicht nur absurd. Es ist auch noch perfide genug, seinen Widerspruch von anderen ausbaden zu lassen – und betreibt ihn über die Verelendung derer weiter, die von Lohn zwar leben müssen, dies aber immer weniger gut oder gar nicht mehr können.

Soweit von unserer Seite ein kleiner Einschub zur Differenz zwischen einer Kritik der kapitalistischen Ratio, den Einsatz von Arbeit nach dem Gesichtspunkt ihrer Rentabilität zu kalkulieren, und dem Bedürfnis, dieser praktisch geltenden Rationalität ein Ir- voranzustellen und damit mit ihr fertig zu sein. In letzterem Fall schrumpft eben die große kritische Pose, das System bei seinem letalen Widerspruch erwischt zu haben, auf das lausige Ätschi-Bätsch! zusammen, mit dem ein soziologisch verbildeter Intellektueller einem grund- und zwecklos vor sich hin machenden System ein weiteres negatives Etikett verpasst und ihm bescheinigt, dass es sich selbst untergräbt. Nicht einmal sich selbst am Laufen halten zu können: Das haben ja schon die großen Systemdenker T. Parsons und N. Luhmann gewusst, dass das ja wohl das Allerschlimmste ist, was man zu einem System noch sagen kann, und so kommt marxistische Aufklärung unter die Massen, indem der moderne Kritiker aus dem „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ das soziologische Wischiwaschi vom unvermeidlichen Kollaps des Systems drechselt, dessen Heraufziehen dann jeder Agent des Systems auch noch tagtäglich praktisch erfährt: Weil der Kapitalismus partout nicht dieses emanzipatorisch-gemeinschaftliche Netzwerk von Produktion sein will, das ein Kurz vernünftig fände, braucht er sich nicht zu wundern, wenn seine Produktmassen mal keine Käufer finden! Denn wer nicht hören will, muss fühlen, und wer selbstzweckmäßig-unvernünftig vor sich hin akkumuliert und die Produktivkräfte entwickelt, dass es kracht, dies aber völlig kommunikationslos tut und daher mit paradoxen Wirkungen, hat sich die Verachtung seines Kritikers gründlich verdient.[4]

Steht für Kurz so fest, dass es wegen der Abwesenheit seines Ideals einer ordentlichen Verständigung zwischen allen Beteiligten im Kapitalismus auch Arbeitslose und Krisen geben muss, darf auch Engels als Berichterstatter zur Lage der arbeitenden Klasse die Weltsicht von Kurz bestätigen. Kinderarbeit und andere Errungenschaften des kapitalistischen Systems belegen dann zur Überraschung Aller, dass in den ‚Mühlen des Teufels‘ der Traum eines gemeingefährlichen Irren wie Bentham endlich gesellschaftlich verallgemeinert wurde (121). Das tun dann auch die Maschinenstürmer und Ludditen, weil ein guter Interpret wie Kurz den Griff zum Vorschlaghammer eindeutig als Versuch identifiziert, eine selbstbestimmte Vergesellschaftung jenseits blinder Preismechanismen durch direkte menschliche Verständigung zu finden (138). Womit wir explizit bei Marx wären: Obwohl er gelegentlich andeutet, dass sich die soziale Repression und irrationale Organisationsform des Kapitals durchaus auch in seiner technologischen Gestalt niedergeschlagen hat, blieb dieser Aspekt, der in den Augen der Sozialrebellen der hervorstechende war, in seiner Theorie unterbelichtet. Ja sogar ein klammheimliches Liebäugeln mit der industriellen Disziplinierung wird sichtbar, wenn er von der ‚durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten Arbeiterklasse‘ spricht. (…) Marx meinte den Begriff der ‚abstrakten Arbeit‘ zwar eigentlich kritisch, grenzte ihn jedoch keineswegs eindeutig gegen ein affirmatives Verständnis ab; bei ihm verschwimmen ein kritischer und ein positiver Arbeitsbegriff ständig ineinander. (171) Endlich mal ein kritisches Wort zu einem Ideologen! Just den Gesichtspunkt, unter dem unser kritischer theoretisierender Sozialrebell den Kapitalismus belichtet und für schlecht befunden haben möchte, hat Marx nicht in Anschlag gebracht! Eine Theorie, die seine Kritik des Kapitalismus begründet, hat er zwar gehabt. Aber die taugt für unseren Marx-Widerleger nicht viel, weil Marx so Begriffe wie ‚Arbeiterklasse‘ und ‚abstrakte Arbeit‘ einfach nicht ordentlich definiert, nie dazugesagt hat, welche Absicht er mit ihnen verfolgt und für welche sie eigentlich gut sein sollen, fürs Kritisieren oder fürs Affirmieren. Genau genommen kann nur Letzteres der Fall sein. Denn eine Theorie wie die von Marx, die einfach nur erklärt, welche Interessen im Kapitalismus wie und warum unter die Räder geraten; der aus ihr resultierende praktische Schluss, die Geschädigten sollten in ihrem eigenem Interesse eine Produktionsweise zum Teufel hauen, bei der die Schaffung des Reichtums auf ihrem bleibenden Elend beruht: Das ist für den Radikalkritiker Kurz keine Kritik.

Als hätte Marx nicht mit der Parole: Nieder mit dem Lohnsystem! alle Flausen in Sachen ‚gerechter Lohn fürs gerechte Tagwerk‘ gründlich erledigen wollen, bezichtigt ihn der moderne Kritiker, mit seiner Ansprache an die Arbeiter nur für die irrationale Selbstzweckmaschine und ihr fröhliches Weiterwirken Partei genommen zu haben: Für diesen Marx-Entlarver ist es genau besehen dem Kritiker der politischen Ökonomie des Kapitalismus zu verdanken, dass der Begriff der sozialen Emanzipation von nun an in das kapitalistische Tätigkeits-Prinzip (eingekerkert) wurde und Marx mit seiner bloßen Rede von einer ‚Arbeiterklasse‘ den Willen ihrer Mitglieder auf ewig an die marktwirtschaftliche Tretmühle (173) gefesselt hat. Die klappert also weiter vor sich hin, und zwar nicht nur dank der Mithilfe von Marx und des späteren Arbeiterbewegungsmarxismus, sondern auch noch mit einem weiteren perfiden Trick. Denn anstatt in seiner eigenen Paradoxie zusammenzusinken, entschließt sich der kapitalistische Weltgeist zum Weitermachen. Angesichts des Massenelends und der Arbeitslosen, die er mit seinen Maschinen produziert und mit denen er seine eigene selbstzweckhafte Geldmaschine bekanntlich unterhöhlt, verwandelt er sich in noch einen ökonomischen Mechanismus. Der ist heute als struktureller Wachstumszwang (…) bekannt (189), ein Wesen, das man sich so vorstellen muss, dass sich der Selbstzweck zu seiner eigenen Expansion entschließt und sich der dann als Zwang gegenübergestellt sieht, dem er unterliegt. So wissen wir, wie kapitalistisches Wachstum geht: Das Akkumulieren bricht deswegen nicht zusammen, weil immer mehr Akkumulierer immer mehr akkumulieren müssen und das dann genau deswegen auch prompt tun: „Mit einem Wort: Der Kapitalismus hatte sich in ein industrielles Schneeballsystem verwandelt; er konnte überhaupt nur noch in dieser Form weiterexistieren, während gewissermaßen auf seinem logischen Grund weiterhin und unaufhebbar die Drohung des Zusammenbruchs lauerte. Letztendlich muss jedes Schneeballsystem einmal zusammenbrechen.“ (198)

Letzteres stimmt sicher. Die Frage ist nur, ob man deswegen auch den Kapitalismus als eine Selbstinszenierung zur Verhinderung seines eigenen Zusammenbruchs betrachten soll. Aber für alle Intellektuellen, die schon immer wussten, dass „es“ so nicht weitergehen kann, zumindest nicht gut, hat diese Denkfigur schon ihren Reiz.

Das System der nationalen Imperien: Wie eine irre Kostenrechnung zum Imperialismus führt

Wir streifen nur einige Bausteine, mit denen Kurz sein Bild vom Kapitalismus, der es nie hinkriegt, für ein gutes Leben zu sorgen, im Gleichschritt mit den Zeitereignissen hält. Auch Bismarck und die Sozialistengesetze nebst Sozialstaat laufen für unseren Chronisten auf die schon bekannte Peinlichkeit hinaus, dass der Kapitalismus zur Ernährung seiner Massen einfach nicht imstande ist – so peinlich es ist, auch an der Schwelle des 20. Jahrhunderts und mitten in der Expansion des industriellen Schneeballsystems war der Ernährungsstand immer noch nicht merklich gestiegen (216). Der Germanist in Kurz belehrt uns darüber, dass man die Ahnung vom wahren Wesen des Selbstzweck-Monstrums (221), das sich in Gründerschwindel, der Großen Depression, Börsen- und anderen Krisen – immer kündigt der Kapitalismus an, wie reif er für seinen Zusammenbruch ist, um den dann doch noch zu vertagen – manifestieren sollte, bei Th. Mann herausspüren kann. Der Sozialwissenschaftler hat herausgefunden, dass, damit der kapitalistische Betrieb überhaupt noch laufen kann (230), ein gewisser Staat immer mehr Krücken zur Verfügung stellen muss, usw. All das überrascht beim bisher erreichten Stand des Wissens nicht mehr übermäßig. Spannender wird es wieder beim Auftreten eines neuen Subjekts, des Staates in seiner Eigenschaft des ideellen Gesamtkapitalisten, der mit seinesgleichen in Verkehr tritt. Und kaum nimmt der Autor dieses Subjekt in sein kritisches Visier, ist auch dieses so recht keines mehr, verfolgt nicht Zwecke, die es hat, sondern exekutiert Notwendigkeiten, die ihm von einer inzwischen schon recht gut bekannten Maschine diktiert werden: Der abstrakt gewordene, nicht mehr an Personen gebundene Funktionszusammenhang von Staat und Nation (…), der als leviathanische ‚Überperson‘ auftrat, hatte nicht nur die Rechts- und Infrastruktur-Verhältnisse etc. der Konkurrenzsubjekte im Inneren der Nationen zu regulieren, (…) da es auf der Weltebene keine dem Nationalstaat entsprechende ‚weltstaatliche‘ regulierende Meta-Instanz geben konnte, musste der nationale Staatsapparat als Hilfs-, Garantie- und Durchsetzungsmacht hinter den Außenbeziehungen ‚seiner‘ Unternehmen stehen (251). Interessant, was aus einem Staat so alles wird, betrachtet man ihn als guter Politologe einmal als abstrakten Funktionszusammenhang. Da steht über ihn unverrückbar fest, dass er nichts anderes tut, als Funktionen zu verrichten, also in jedem Fall für etwas gut und nützlich ist. Hier zum Beispiel springt der imperialistische Nationalstaat als Lückenbüßer für einen nicht vorhandenen Weltstaat ein. Danken wir ihm also einmal dafür.[5] Aber manchmal, das hat die Logik dieses Gedankens eben in sich, funktioniert ein Funktionszusammenhang eben auch nicht. Dann bleiben die guten Werke aus, und wir haben wieder einen Grund für kritische Bedenken, denn augenblicklich kündigt sich das nächste Verhängnis an: Dass die internationale Konkurrenz der nationalen Großsubjekte auf dem Weltmarkt im Unterschied zur binnenökonomischen Konkurrenz keinen juristischen und administrativen Rahmen entwickeln konnte, machte sie zu einer zunehmend gefährlichen Angelegenheit. (251 f.) Für unseren modernen Staatsapologeten geht die Kriegsgefahr also nicht von Staaten aus, die die Konkurrenz in ihrem Inneren organisieren, um sie nach außen gegen Ihresgleichen aufmachen und gewinnen zu können. Nein, die Konkurrenz ist das Subjekt, das nach außen nicht schafft, was sie im Inneren hinkriegt. So lernen wir nicht nur, dass die Weltgeschichte von abstrakten Wesenheiten und Großsubjekten gemacht wird, die ein großer Dichter mit links verfertigt. Wir lernen vor allem auch, wie bitter nötig in Anbetracht von deren ungezügeltem Wirken da eine Macht ist, die den Gang der politischen Dinge im Inneren wie nach außen unter Kontrolle hält, und wenn man mit diesem I. Hauptsatz aus dem Grundkurs für politologische Apologie des Staates im Kopf in die Welt hineinsieht, entdeckt man in der immer wieder, was ihr fehlt. So jedenfalls, wie der Staat als Souverän, Monopolist aller Gewalt, in seinem Hoheitsbereich für Kurz nicht Schöpfer und Garant des Rechtszustands ist, sondern den, der offenbar vom Himmel gefallen ist, lediglich reguliert, so ist er auch nach Außen hin das entsprechend armselige Würstchen, stipuliert nicht sein eigenes Recht gegen andere Souveräne, treibt nicht aus eigenem Interesse heraus Politik, sondern stellt sich hinter die Interessen, die er vorfindet. In etwa so haben sich vor Kurz auch schon Andere den Imperialismus verkehrt erklärt, und genau die sind es, gegen die unser Kapitalismuskritiker vorgeht. Was immer sich da die Marxisten zum Zusammenhang von kapitalistischer Ratio, Kolonialismus und Krieg gedacht haben mögen: Ihr unglaublicher Fehler war, überhaupt noch so etwas anzunehmen wie ein irgendwie nachvollziehbares rationales Interessenkalkül staatlichen Handelns und überhaupt noch – wie gut oder wie schlecht begründet, ist Kurz ohnehin egal – zu vermuten, dass alles, was die Kapitalisten und der kapitalistische Staat tun, auch gut für den Kapitalismus sein müsse. (256) Da kann er doch nur laut lachen. Gigantische Rüstungsprojekte mit riesigen Militärhaushalten finanziert – ist doch typisch Irrsinn. Denn hat sich das etwa gelohnt? Unter dem Strich und gesamtwirtschaftlich betrachtet, muss diese Frage mit einem klaren Nein beantwortet werden. Von Anfang bis Ende haben der unselige Kolonialismus und die Weltmacht-Ambitionen alle beteiligten ‚Mächte‘ insgesamt viel mehr gekostet als sie letzten Endes einbringen konnten. (256) Da stellen Staaten einmal so richtig schön ihre eigene gewaltsame Natur und die des kapitalistischen Geschäfts vor Augen, dem sie dienen; da beweisen sie praktisch, dass ihnen ihr Recht über alles geht, ihnen der Erfolg, den sie für sich und gegen andere wollen, so wichtig ist, dass sie haufenweise den Reichtum vernichten, um den es ihnen ausschließlich geht – und ihr Kritiker entnimmt ihrem Wirken das Zeugnis, dass diese Produktionsweise deswegen ein Irrsinn ist, weil sie sich per Saldo nicht lohnt! Nichts als die Mehrung von Reichtum im Sinn, und dann nicht einmal gescheit rechnen können – das ist mal ein kritischer Einwand! Ein viel besserer ideeller Gesamtkapitalist, als es die imperialistischen Staaten sind, teilt uns also mit, dass die mit ihren Kriegen ein einziges Verlustgeschäft betreiben, und damit wissen wir natürlich auch und sofort wieder, was von denen zu halten ist, die Kriege dennoch erst planen und dann führen: Tatsächlich ist die koloniale Expansion ebenso wie die maritime Rüstungspolitik nur als Ausdruck, Fortsetzung und Verlängerung derselben verselbständigten und wahnhaften Struktur zu begreifen, die schon die ‚abstrakte Arbeit‘ als solche und ihre Zuchtanstalten im Sinne eines Bentham hervorgebracht hatte. (256) Tatsächlich geht die Reihenfolge, in der hier zum wiederholten Mal nichts begriffen wird, genau andersherum. Erst hat sich unser Kritiker dazu entschlossen, über die beständige Abstraktion von allen realen Zwecken in die Welt das bestimmende Prinzip hineinzusehen, dass sie eine einzige Zwecklosigkeit, daher ohne Sinn und deswegen Wahnsinn ist; und dann begegnet ihm der auf Schritt und Tritt: Kaum sieht man ihn wo hinein, hat man dort auch schon wieder seinen nächsten Ausdruck, und so geht’s dann dahin. Nicht immer ganz bruch- und reibungslos allerdings. Von einigen nachvollziehbaren Gründen für Staaten, Krieg zu führen oder Länder zu erobern, hat auch Kurz läuten hören, und dass es beim Ausbuddeln von Bodenschätzen in Afrika und anderswo überhaupt nicht um die gegangen wäre, will auch er nicht behaupten, wo das sogar in allen ganz und gar unkritischen Geschichtsbüchern steht. Also führt er teilrationale Aspekte im Sinne der vorausgesetzten irrationalen Produktionsweise ein und konzediert auch für ihn durchaus nachvollziehbare Motive, sich trotz des allgemeinen Missverhältnisses von Kosten und Nutzen imperialistisch zu verhalten, etwa „Zugriffsmöglichkeiten auf strategische Rohstoffreserven“ (261). Doch kaum hat er mit der Gelegenheit Bekanntschaft geschlossen, dank seines kleinen Zugeständnisses an die Existenz eines wirklichen politischen Zwecks endlich ein Bisschen der kapitalistischen Wirklichkeit kritisieren zu können, entschließt er sich, das doch besser sein zu lassen und lieber bei der Kapitalismuskritik zu bleiben, auf die er sich versteht. Die ist ja auch viel gründlicher: Die Fortsetzung der Konkurrenz in den politisch-militärischen Formen (…) musste ganz unabhängig von irgendeinem positiven Nutzen als quasi zweckloser (oder eben auch auf dieser Ebene selbstzweckhafter) Kampf um ‚Interessensphären‘ ausgetragen werden. (265)

So wissen alle guten Menschen der kapitalistischen Welt, dass sie nicht nur moralisch richtig liegen, wenn sie zum Krieg „Wahnsinn!“ sagen. Mit ihrer Weigerung, sich einen Begriff der Sache zu machen, haben sie selbige schon haargenau erfasst.

Die Biologisierung der Weltgesellschaft

fassen wir kürzer als Kurz. Dass von Darwin die rassistische Blutspur losgeht und beim Antisemiten Marx noch längst nicht aufhört, war uns auch schon bekannt. Die Widerlegung seines Theorems, dass das kapitalistische Schwein das Bewusstsein bestimmt und das Böse der Wertform ins Xenophobische entarten muss, liefert der bekennende Anti-Rassist höchstpersönlich, indem er es aufstellt. Außerdem kommt das Kapitel Auschwitz ja gleich.

Die Geschichte der Zweiten industriellen Revolution: Wie man geistig von Verdun mit dem Auto direkt ins KZ kommt

Man hat bei diesem Kritiker äußerst wenig Chancen, seine Auslassungen unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, ob denn überhaupt stimmt, was er sagt. Das liegt daran, dass Kurz beim Reden über die diversen Gegenstände gar nicht über sie urteilt, sondern an ihnen sein gegenstandsloses Prinzip, den Kapitalismus als diese von ihm gedachte subjektlos-irre Selbstzweckhaftigkeit, zur Sprache bringt, die den Gang der Geschichte determiniert und die Menschheit in den Abgrund reißt. Die Technik, aus ein und demselben abstrakten und moralischen Sinnprinzip eine Weltgeschichte zu drechseln, ist die der Assoziation. Die unterscheidet sich bei unserem Autor allerdings beträchtlich von der bekannten Übung, einen Gedanken mit einem Apropos, mit einer Anknüpfung an eine zufällig gleichartige Äußerlichkeit fortzuführen. Unser Theoretiker nämlich vergleicht an den verschiedensten Sachen, die er anspricht, immer wieder das Gleiche. Er versinnbildlicht am Material der Weltgeschichte seinen Sinn, indem er ihre markanten Stationen erst gedanklich unter ihn subsumiert und sie dann so präsentiert, dass sie ein einziges Bild des immergleichen Prinzips sind, das den herrschenden moralischen Verfall namens Kapitalismus regiert. Diese Gedankenketten wollen nichts erklären und tun das auch nicht, nicht einmal verkehrt. Sie sind die Manier, in der ein weltanschaulicher Spinner auf ein sich beim Leser einfindendes Kopfnicken beim Wiedererkennen ein und desselben Abstraktums an den disparatesten Phänomenen spekuliert, die der Stoff der Historie bereitstellt. Das Prinzip dieses Denkens findet man zum Beispiel auch in den Deutungen des Weltgeschehens als Kette von Interventionen Außerirdischer vor, die Gott heißen können, aber nicht müssen. Oder in der Idee einer jüdisch-marxistischen Weltverschwörung. Oder in der Entdeckung der Welt als Ausbund zum Himmel schreiender Ungerechtigkeit, usw. Und unser Autor vollstreckt dieses Prinzip eben nur auf seine Weise: Immer und überall und an allem und jedem das Urteil verrückt loszuwerden – mehr hat er nicht zu sagen und mehr will er auch gar nicht mitteilen. Denn mit dem geistigen Abnicken des ewig sich wiederholenden Zusammenfallens von abstraktem Prinzip und seiner historisch-empirischen Erscheinung kann und soll der Leser sich ein ums andere Mal verplausibilisieren, dass des Autors Assoziation vom Prinzip zum selben Prinzip exakt die Notwendigkeit trifft und nachzeichnet, der die Geschichte unterliegt: Die Emanationen des Ewiggleichen, die da aufeinander folgen, zeigen ja, dass die Historie anders gar nicht verlaufen konnte und genau so musste, wie des Dichters Feder es arrangiert hat. Der Erste Weltkrieg: Die negative Gleichheit vor dem Geld, die bis dahin nur unzureichend durchgesetzt war, konnte nicht anders als in Form einer negativen Gleichheit des Todes und der Verstümmelung in den ‚Blutmühlen‘ vorbereitet werden. Diese Urform der aufsteigenden Benthamschen Demokratie des 20. Jahrhunderts (…) (350). Henry Ford, sein Auto und das Fließband: Aber der in Blutmühlen eingeschmolzene massendemokratische Typus musste auch ökonomisch in eine neue Stufe der kapitalistischen Systementwicklung hereingeholt werden. Dafür bedurfte es des Übergangs zu bisher nicht dagewesenen Formen der Massenproduktion und des Massenkonsums. (365) Und als Summe von beidem das ‚Manifest des Futurismus‘: Die ungeheure Aggressivität, die aus diesem Stakkato wirrer Ideenbrocken und cholerischer Aufwallung entgegenschlägt, zeigt den Geisteszustand des aufkommenden Vollkapitalismus an, in dem sich die schon auf den Schlachtfeldern eingeübte masochistische Hingabe des ‚männlichen‘ Ernst-Jünger-Subjekts an die Maschine mit einem sadistischen Rausch der Geschwindigkeit verbindet, der auch auf den zivilen Straßen buchstäblich über Leichen rollt. (412) Und so zu. Selbstverständlich weiß unser Autor auch zum Thema Auschwitz ganz genau, wie es dazu kommen konnte. Wie üblich ist auch ein Konzentrationslager bei ihm ein Prinzip, das – letztlich, versteht sich – auf sich selbst in seiner nur unterschiedlichen Erscheinungsweise verweist, wie das in der modernen Kritik so heißt, wenn ein Schluss prätendiert sein will: Letztlich verweist das KZ im Mikro- wie im Makro-Maßstab auf die zwanghafte Natur des Kapitalismus überhaupt, dessen ganzes Fabrik- und Arbeitssystem nie etwas anderes war als die ins Alltagsleben übersetzte Militärdespotie. (487) Also lassen wir uns von den faschistischen Völkermördern wieder zurück zum Autobauer verweisen – eine fordistische Massendisziplinierung, die in der deutschen völkischen Erscheinungsform erstens zwangsläufig zum Programm des Massenmordes werden und das dann zweitens auch noch musste. Und von dem dann noch weiter und wieder dorthin zurück, wo wir schon öfter waren und wo sich inzwischen auch Stalin mit seinen sowjetischen Staatsverbrechen (460) eingefunden hat: Durch die Projektion auf die Juden sollte die negative Seite der ‚abstrakten Arbeit‘ aus dem fordistischen Arbeitsparadies verschwinden, ohne den Kapitalismus als solchen überwinden zu müssen. Blieb es bei Ford und Stalin eine bloße Projektion im Interesse system-funktionaler Ziele, so wurde diese Projektion bei Hitler zu einem Selbstzweck sui generis. (491)

Es macht den Reiz dieses Denkens aus, von seiner eigenen Projektion nie mehr loskommen zu müssen. In den diversen Projekten der Weltgeschichte findet man sie wieder, aber genau so gut auch in den Projizierungen der Akteure derselben, auf die man von deren Machenschaften einfach zurückschließt, so dass sie sich mit allem, was sie je gedacht, gewollt und getan haben, einfach herauskürzen und man wieder bei sich und seinem Einfall angelangt ist. En passant glückt es einem dann sogar noch, eine Steigerungsform für das Selbst vom Selbstzweck zu erfinden, und schon wieder hat ein ganz Anderer einmal mehr das Rad der Geschichte genau so um sich selbst herum weitergedreht, wie alle anderen zuvor. Ein abstrakter Gedanke, unter den Alles passt und den man überall sieht – wunderbar. Weltanschauung sui generis und at its best, zwar nicht modern, aber eben sauradikalkritisch.

Das System der totalitären Weltmarkt-Demokratien: Wie die Menschen im Kapitalismus immer irrer werden

Und was machen die atomisierten Subjekte im Kapitalismus sonst noch, außer beim Arbeiten immer nur vor sich hin, sinnvergessen, allein der Selbstverwertungsmaschine überantwortet, ohne Geborgenheit, innere wie äußere? Richtig, da war noch was außerhalb der von Bentham erfundenen Blut-, Tret- und sonstigen Mühlen, mit denen sie beschäftigt sind. Zu tun haben sie auch noch mit einem gleichfalls wenig Freude verheißenden Ding: Ein Staat herrscht über sie und zwiebelt sie, panoptisch selbstregulativ, wie wir schon früh erfahren durften. Doch so, wie der zeitgenössische Mutant des Monsters von Hobbes sich zwei Kapitel zuvor bei seinem Wirken nach Außen eingeführt hat, ahnt man schon, dass er auch beim Einsatz seiner politischen Macht im Inneren seines Hoheitsgebiets nicht so ganz Herr seiner selbst ist. Zwar ist es schon eine politische Macht, die sich da auch für unseren Kritiker flächendeckend und bis in den letzten Winkel des Alltagslebens hinein über die Subjekte erstreckt. Aber es ist – das wissen wir im Grunde bereits seit Hobbes – keinesfalls die, mit der die Menschen alltäglich in Form der Gesetze Bekanntschaft schließen, die ihnen vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Was bei dieser Macht den Zweck des Einsatzes ihrer Rechtsgewalt betrifft, verhält es sich damit auch keineswegs so, dass sie mit ihrer Unterwerfung der Subjekte unter ihre rechtlichen Setzungen die Interessen und Gegensätze überhaupt erst schafft, mit und in denen die dann als Eigentümer in die Konkurrenz um den Erwerb von Geld einsteigen. Nein, das bürgerliche Herrschaftswesen ist als das glatte Gegenteil von all dem zu begreifen, was man bei einigermaßen unvoreingenommener Betrachtung von ihm zu wissen vermeint. Die in ihm ausgeübte Herrschaft ist erstens zweck- und grundlos, daher ihrem Begriff nach totalitär. Und als dieses Prinzip, Herrschaft um ihrer selbst willen zu sein, verrät sie dann zweitens, worin sie ihren guten Grund gleichwohl hat. Es ist der bekannte, für alles Schlechte verantwortliche: In diesem Sinne ist der politische Totalitarismus zu übersetzen oder zu dechiffrieren als die spezifische ‚Verpuppungsform‘ eines viel allgemeineren, viel tiefer greifenden sozialökonomischen Totalitarismus der historisch ihrer Reife und Vollendung entgegengehenden kapitalistischen Produktionsweise insgesamt. Die eigentlichen, tiefer liegenden Elemente dieses Totalitarismus sind (…) zum einen in den ökonomischen Formbestimmungen von nunmehr ‚totaler Kommerzialisierung‘, ‚totaler Arbeit‘ etc., zum andern in den sachlichen, stofflich-materiellen, bis zur Mikro-Ebene des Alltags reichenden Ablagerungen dieser totalitären kapitalistischen Daseinsform (zu suchen). (527) Also suchen wir zusammen mit einem Psycho-Pathologen des Alltagslebens den Totalitarismus einer Daseinsform an den Formen eines totalitaristischen Daseins auf und dechiffrieren die Subjekte entsprechend als kleine zweibeinige Automaten, die nichts sind und die nichts wollen, weil sie in allem, was sie sind und wollen, als Exekutoren eines totalen Sachzwangs herumlaufen, der immer totaler wird, Irre also, die für den Irrsinn der Welt stehen.

Daher stellt sich schnell heraus, was beim Autofahren Sache ist. Ein Hitler erfindet den Volkswagen, und schon ist der Kritiker im Bilde: Die Liebe der Nazis zum Auto sagt viel über das Auto selbst. Und was verrät das Objekt der Begierde uns über den Charakter seines Liebhabers im Einzelnen? Dass der faschistische Terror in Chrom glitzert und vier Räder hat, quasi, weil nämlich in der totalen Automobilmachung gewissermaßen das faschistische Element in allen fordistischen Gesellschaften, auch in den Nachkriegs-Demokratien, seinen zentralen Ausdruck (fand) (553). Dann die Freizeit. Die hat ihre Ursprünge in den Irrenhäusern des 18. Jahrhunderts (565), hieß bei den Nazis dann Kraft durch Freude und stellt neben dem Auto die zweite Säule der gesellschaftlichen Herrschaft dar. Letztere hat man sich vorzustellen wie ein unsichtbarer Virus, der sich auf der Festplatte des Unterbewusstseins der Subjekte einfrisst und ihnen ihre Gedanken diktiert, kaum machen sie sich irgendeinen über irgendetwas: Es sind weniger spezifische Gegenstände des Denkens und Empfindens, die diesen gesellschaftlich konditionierten Charakter des Bewusstseins ausmachen, als vielmehr die allgemeine Form aller überhaupt denkbaren Bewusstseins-Inhalte, die das Individuum botmäßig machen. (…) der Griff nach dem Unbewussten enthüllt am deutlichsten den totalitären Charakter des Kapitalismus – und macht diesen Totalitarismus gleichzeitig unsichtbar, soweit der Zugriff gelingt. (571) Gut, dass wenigstens einer dem ausgekommen ist und den Pawlowschen Hund, der in uns sein Unwesen treibt und jedem Gedanken, bevor er gedacht wird, sein pro-kapitalistisches Universalpräservativ überzieht, auf die Couch gelegt hat. Wüssten wir doch sonst nicht, wie diese Herrschaft auch noch als Demokratie vonstatten geht. Nämlich so, dass hinter den bekannten drei Gewalten des Staates, über die uns der Autor eher nichts erzählt hat, die uns dafür umso bekanntere stumme ‚vierte Gewalt‘ herrscht – die strukturelle Gewalt des totalitären Marktsystems (577). Die inszeniert natürlich wie gewohnt eine ökonomische Selbstzweck-Orgie (593), so dass man sich auch über das Waldsterben, das Ozonloch und den Wassermangel auf der Welt nicht mehr zu wundern braucht.

Welcher elitäre Socken sich auch immer über die Unkultur des Plebs, das Massenbewusstsein im Allgemeinen, den Massentourismus im Besonderen und die Geistlosigkeit des zeitgenössischen Subjekts überhaupt ausgelassen hat, das dem Götzen Mammon hinterherläuft – der Kritiker teilt allen zusammen mit, wie sehr sie damit Recht haben und dass man sich die Leute doch nur anzuschauen braucht, schon sieht man’s. Wer sich schon immer an seiner Einsicht gelabt hat, dass die Demokratie eher keine diskursive Ermittlung einer vernünftigen Lebensplanung ist, obwohl die von Habermas doch versprochen war – der Kritiker nickt milde und einsichtsvoll und fügt hinzu, dass es einfach eine Überallmacht ist, die das richtige Leben versaut. Wer schon immer ein ökologisches Bewusstsein hatte und den kapitalistisch betriebenen Ruin von Mensch und Natur auf die Unmoral eines verantwortungslosen Strebens nach Profit zurückführte – auch der liegt genau richtig und erfährt, dass man zu Letzterem auch einfach nur Selbstzweck sagen kann. Wer immer also und mit welcher verkehrten Begründung auch immer zu irgendetwas seine konstruktiv-kritische staatsbürgerliche Meinung hat und sich sicher ist, dass für so manchen beklagenswerten Zustand im kapitalistischen Laden eine Pflichtverletzung an höherer Stelle verantwortlich ist, wird von unserem Kritiker erst einmal bedingungslos ins Recht gesetzt. Dann wird ihm zusätzlich zu verstehen gegeben, wie man sich das Auseinanderfallen von Ideal und Realität modern-kritisch als zum Himmel schreienden Irrsinn zu erklären hat, und damit kann er sich dann den Schuldigen auch noch mit wunderschön komplizierten Wortschöpfungen aus ‚total‘ und ‚Selbstzweck‘ immer wieder von neuem aufbauen. Und wenn ihm das zu abstrakt wird, geht er einfach zum nächsten Auto und schaut sich seinen Begriff an.

Die Geschichte der dritten industriellen Revolution: Wie das Ende unaufhaltsam naht

Vor kurzem hat der Chronist des Kapitalismus eine Entdeckung gemacht. Seinem geschulten Auge wird der Horizont einer neuen Systemkrise sichtbar, und je länger er hinsieht, desto deutlicher wird ihm, was er da gesehen hat: Diese besteht, wie sich mit immer größerer Deutlichkeit zeigt, in einer gewissermaßen finalen Mobilisierung des kapitalistischen Selbstwiderspruchs (641). Die letzten Zuckungen dieses Systems also endlich, quasi, und einigermaßen gespannt fragen wir uns, was uns entgangen ist, der Seher aber gesehen hat. Die Massenarbeitslosigkeit ist ihm als Erstes aufgefallen. Uns zwar auch schon seit längerem, ihm dafür aber anders. Dass es sie gibt, ist für ihn schon wieder ein Beweis, dafür nämlich, dass das Subjekt, das dies bislang konnte, sie nicht mehr verhindern kann. Der Staat, der mit seinen Eingriffen immer in die Bresche gesprungen ist und dafür gesorgt hat, dass die im und für den Kapitalismus Unbrauchbaren kein so arges Problem sind, der ist es, der jetzt seine Aufgaben nicht mehr wahrnimmt: Der Staat dankt ab (642) – und deswegen treten die Arbeitslosen als Gesellschaftskatastrophe der globalen ‚strukturellen Massenarbeitslosigkeit‘ in Erscheinung. (650) Und unser freudianischer Geldtrieb-Experte kennt die Schuldigen für diese Katastrophe nur zu gut: Der Staat hat eingesehen, dass er gegen das Grundgesetz seiner Ökonomie – das ökonomische ‚Es‘ beharrt gegen jede rationale Einsicht auf seinem dunklen Trieb, die Welt in eine gigantische Ansammlung von Waren zu verwandeln und gleichzeitig die Massen auf das Existenzminimum herunterzudrücken; ihm diese logische Unmöglichkeit ausreden zu wollen, ist ungefähr so Erfolg versprechend wie der Versuch, ein fleischfressendes Raubtier auf Vegetarier umzuschulen (656) – nichts mehr ausrichten kann, und zieht sich daher zurück. Der letzte Weg (670), der ihm noch bleibt, ist, zu deregulieren und zu privatisieren, was und wo immer nur möglich. Er stiehlt sich also aus seiner sozialen Verantwortung heraus, und die Folgen eines Prozesses, in dem ein buchstäblich irregewordener Kapitalismus seine sämtlichen Sicherungen ausbaut und seine Rahmenbedingungen niederreißt (663), arrangieren sich ganz zwanglos zum Bild vom Untergang des Systems: Billiglohnverhältnisse, für die Kapitalisten und Sozialpolitiker im Verein mit den Gewerkschaften sorgen; ein von oben dekretiertes Armutsniveau, neue Massenarmut, allgemeine Dehumanisierung des kapitalistischen Medizin- und Gesundheitswesens, kurz: alle Phänomene, mit denen die politischen und ökonomischen Manager des modernen Kapitalismus eindrucksvoll ihre Absichten unter Beweis stellen, wie sie ihren Standort herzurichten gedenken, dokumentieren für einen Oswald Spengler der Postmoderne das Gegenteil. Die Ohnmacht, die da im Standort regiert. Die zum Himmel schreiende Unvernunft. Den Irrsinn, der da waltet – dass das alles auch ganz anders geregelt werden könnte, kommt niemandem mehr in den Sinn (712) –, aber nicht mehr lange, weil der politische Wärter des Irrenhauses sich ja verabschiedet hat. Je mehr die Armut vorankommt in ihrem Dienst an der Vermehrung des Reichtums, desto klarer wird ihm, der das alles ja viel vernünftiger regeln könnte, was er schon immer wusste – der Verfall der kapitalistischen ‚Wertschöpfung‘ (683) ist da. Einfach so, so einfach.

Auch an der Selbstzweckmaschine namens Geld ist für Kurz das Ende förmlich zu greifen. Kasinokapitalismus heißt sein Stichwort für die finale Krise der kapitalistischen Akkumulation im engeren Sinn, und auch da ruft er die Phänomene dazu auf, das Gegenteil dessen zu bezeugen, wovon sie zeugen. Massenarbeitslosigkeit und Massenelend zeigen also nicht, was es heißt, wenn rentable Arbeit verrichtet wird; sie zeigen, dass die gar nicht mehr verrichtet werden kann. Die Akkumulation fiktiven Kapitals an den Börsen ist nicht, was sie ist; sie ist die Fiktion einer Akkumulation, welche dort, wo sie stattfinden sollte, nicht mehr stattfindet. Eine finanzkapitalistische ‚Geisterakkumulation‘ (729) also, simulierter monetärer Reichtum (742), Geld in der Geldform Blase (738) und Kredit in der Eigenschaft Nichts (742). Und schon ist das Konstrukt fertig, mit dem sich der Kapitalismus erfolgreich als hoffnungsloser Schwindel durchschauen lässt, seine eigene Noch-Existenz vorzutäuschen: Die Arbeitslosen, die es gibt, beweisen, dass es den Boom an den Börsen, den es fraglos auch gibt, deswegen geben muss, damit keiner merkt, dass die Arbeitslosen in Wahrheit ja den kapitalistischen Nicht-mehr-akkumulieren-Können-Boom beweisen – die strukturelle Massenarbeitslosigkeit und Massenarmut ist ein Indikator dafür, in welch phantastischem Ausmaß das ‚fiktive Kapital‘ aufgeblasen wird, um einen ungebremst weitergehenden Akkumulationsprozess simulieren zu können. (731)

Schließlich und endlich bringt dann das Ende der Nationalökonomie (748) das Fass zum Überlaufen. Das geschieht im Wesentlichen durch das schon eingangs besprochene Verfahren, mit dem Kurz hier einfach alle Ideologien, die jemals zum Stichwort ‚Gobalisierung‘ erfunden wurden,[6] für bare Münze nimmt und sie zum Zeugen dafür verwendet, was er in der Wirklichkeit als wirklich sieht: Das ökonomische Zentrum des modernen Konstrukts ‚Nation‘ wird vom Krisenkapitalismus weggespült. (750) Zwar will auch Kurz nicht gleich so weit gehen, die Nationalstaaten komplett von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Aber ausgehöhlt stellen sie sich ihm eben schon ziemlich dar, und da sieht er an ihnen dann doch so manches, was für ihn unzweideutig auf ein und denselben Orkus hinausläuft. So haben manche Verlierer in der weltweiten Konkurrenz ums Geld nur eine bedeutungslose eigene Währung, manche Sieger wollen ihrer Währung noch mehr Bedeutung verleihen und schaffen sich dazu einen Euro – für Kurz ist das kein Problem, weil beides dasselbe, nämlich eine Auflösungserscheinung der Nationalökonomie. (754) Und so zerfällt die Welt, je mehr man hinschaut. Was macht der Standort? Weg ist er, transnational (755) geworden. Der Staat, gibt’s den wenigstens nach Außen noch? Kaum mehr zu sehen: Die Politik schlägt auch als so genannte Außenpolitik keine hohen Wellen mehr (755). Ja, heißt das am Ende, dass der Kapitalismus auch noch den Imperialismus erledigt hat? Genau, das heißt Globalisierung: „Das bedeutet auch das Ende des alten nationalen Imperialismus (…) In der entkoppelten Sphäre der ‚Nicht-Orte‘ wird territoriale Herrschaft sinnlos, in welcher Form auch immer.“ (760) Dass dann, wenn Leviathan sich verdünnisiert, es sofort wieder losgeht mit dem Alle gegen Alle, dass dann Autofahrer, Nazis, Todesschwadronen, Sloterdijks und andere Unholde privat wieder frisch und fröhlich den Faden weiterspinnen, den die Benthams geknüpft haben, versteht sich ja von selbst, und so ist alles prächtig arrangiert für die endemische Zerstörung der menschlichen Gesellschaft überhaupt (780). Brrrrr, alles putt.

So also geht das Ende, wenn man die Zeichen richtig liest, die an der Wand stehen. Das wiederum geht so, dass man alle Formen, in denen der moderne Standort-Kapitalismus seine Fortschritte macht, stur als Beweis des Rückschritts nimmt, den der Kapitalismus machen muss, weil er nicht mehr so bleiben kann, wie er einmal war. Und schon entpuppt sich einem der Gang der Dinge als ein einziges hoffnungsloses Notprogramm zur Vermeidung des Unvermeidlichen, wobei man sich überhaupt nicht davon irritieren zu lassen braucht, dass von diesen Dingen und ihrem Gang einfach nichts zu der Deutung passt, mit der man beides begleitet. Bei allen Fortschritten, die die kapitalistische Nutzbarmachung rentabler Arbeit macht, deutet man auf die, die dabei nicht benutzt werden, und hat seinen Beweis dafür, dass das Ausbeuten einfach nicht mehr klappen kann, weil sich das Arbeiten ja offensichtlich nicht mehr rentiert. Denselben Beweis liefern einem Aktienkurse, weil die ja nicht so hoch wären, steckte das viele Geld in der Ausbeutung und nicht in Aktien. Und wenn der Staat, der mit seinen Gesetzen auch ein einziges Zeugnis von Ohnmacht ist, mitten im Prozess seiner laufenden Selbstauflösung doch noch einen Krieg führt, so macht auch das nichts. Man hat perfekt kontrafaktisch zu denken gelernt, und nennt das Ganze einfach das ‚letzte Gefecht‘.

Epilog: Wie es trotzdem weitergehen kann

Wie andere im Fall des Kommunismus postum, so hat auch R. Kurz dem Kapitalismus in einem „Schwarzbuch“ den Totenschein ausgestellt, den der mit seiner Gründung vor 300 Jahren vorformuliert hat.[7] Jetzt wartet er. Er könnte sich zwar vorstellen, dass man alle vorhandenen Ressourcen so nutzen könnte, dass allen Menschen ein gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet wird. (782) Aber wer soll das in die Hand nehmen, den Kapitalismus stillzulegen, bevor er platzt? Er könnte sich zwar vorstellen, dass das Räte tun könnten, es vielleicht auch eine gewisse Linke im weitesten Sinne sein könnte, die allein dafür in Frage kommen könnte (788). Aber die hat ja ganz andere Sorgen. Die ist ja unumkehrbar zum integralen Bestandteil der kapitalistischen Krisenverwaltung, der sozialen Repression und Barbarisierung der Verhältnisse geworden (788). Und den Bock zum Gärtner hat man ja schon einmal mit Marx gemacht. Zwar wäre der direkteste und beste Weg schon ein Umsturz, eine Massenbewegung, die Staat und kapitalistische Produzenten schlicht entmachtet (791). Aber wer und wo soll die sein? Da ist hinten und vorne nichts in Sicht von der doch so bitter nötigen radikalen Gegenbewegung. Da darf man sich also nicht täuschen und muss der ungeschminkten Wahrheit ins Auge sehen: Die schönste Zukunftsmusik mit ihren feinen emanzipatorischen Träumereien hat wirklich ausgespielt (791). Was tun wir da? Geht denn wirklich gar nichts mehr? Doch, es geht schon noch was. Wenn Kritiker des kapitalistischen Ladens – derzeit – schon keine Resonanz finden: Dann machen wir eben ein positives Programm daraus, dass sonst nichts läuft! Wenn schon kein Subjekt da ist, das einem die nötige Revolution macht, so ist man doch wenigstens selbst noch eines, ein Subjekt. Wenn man da mit der revolutionären Kritik bei sich beginnt, ist immerhin „eine Kultur der Verweigerung möglich“ (792), und indem wir die pflegen, beweisen wir uns, dass das Kritisieren nach wie vor Sinn macht. Kapitalismus? – Nein danke! sagen wir einfach, Geldwirtschaft? – Ohne uns! Wir sind und bleiben konsequent kritisch und links, lassen die Irren mit sich allein – und sie auf dem Wege wissen, dass wir ihrem Untergang wenigstens erhobenen Hauptes beiwohnen können. Demonstrativ verweigern wir jede Mitverantwortung für ‚Marktwirtschaft und Demokratie‘. Die gründliche Absage, die wir dem Kapitalismus und all den Subjekten, die sich in ihm tummeln, schon erteilt haben, machen wir einfach immer wieder und immer wieder. Das macht zuerst jeder für sich, und dann schauen wir, dass wir eine kleine Gemeinde von unermüdlich rackernden Absagern werden. Denn selbst wenn es nur wenige sind, die im Zerfallsprozess des Kapitalismus eine neue innere Distanz gewinnen können (792): So, als beleidigte Leberwurst, die auf innere Emigration geht und sich literarisch Luft macht, als kritische Monade in linken Kreisen und bei der ‚Süddeutschen Zeitung‘ vorbeiweht und mit der Weisheit aufwartet, dass das abstrakte Denken der kritischen Kritik des Herrn R. Kurz die einzige Emanzipation ist, die noch geht: Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst gar nichts mehr frei ist (792) – so lässt sich’s gerade noch aushalten im falschen Leben.[8]

Dieser Gestus also ist es, der gut ankommt hierzulande. Die Pose der Kritik oder die Kritik als Pose; die Attitüde des radikalen ‚Anti-‘; der Kitzel des methodischen Dagegen-Seins ohne Anspruch und unter explizitem Verzicht auf theoretische Kritik wie praktische Konsequenzen, die aus der zu ziehen wären: Das ist das intellektuelle Bedürfnis, das der Schriftsteller bei nicht wenigen weckt und befriedigt. Kein eigenes Urteil über die kapitalistische Welt revidieren und auch sonst nichts in ihr ändern zu müssen, und ihr doch die denkbar gründlichste Absage machen zu können – das ist der Genuss, für den man sich durch 800 Seiten pflügen darf. Offenbar bedient der Dichter die geistige Elite perfekt mit dem, wonach sie verlangt, nämlich mit einer Gelegenheit, sich lektürehalber auch außerhalb von Studium und höherer Laufbahn geistig über den Gang der Welt in jeder Hinsicht erhaben zu wissen und sich in der vorgestellten Überlegenheit über alles und jeden zu ergehen. Mit einer einzigen Formel die Welt nicht nur komplett und im Unterschied zu allen anderen Idioten der kapitalistischen Tretmühle zu durchschauen, sondern sie auch noch als irrsinnigen Selbstlauf ein für allemal abzuhaken – das bringt’s enorm, fürs Selbstbewusstsein. Und unterhaltsam ist es obendrein, wenn an Dichtern und Denkern, Fabrikanten und Staaten, an den Hungernden wie an den Reichen der letzten 300 Jahre Zeitgeschichte immer wieder ein und dieselbe leicht fassliche Vorstellungsfigur vom kapitalistischen Sinn als einer weltgeistigen Nullstelle aufscheint. Wenn sich einem die Geschichte gleichsam als bunter Bilderbogen darbietet und man einfach nur zuzusehen braucht, wie sich die unterschiedlichsten Akteure immer wieder und immer mehr in demselben Verhängnis verrennen, von dem sie nichts wissen, man selber aber schon von Anfang an alles. Die Geschichte als Comic-Strip, der Kapitalismus als Parabel vom Lemming: So geht moderner Anti-Kapitalismus, wundert uns nicht mehr, dass er so gut ankommt.

PS.

Nun bereichert der Autor also auch noch regelmäßig das ‚SZ-Magazin‘ mit seinen Einsichten, zur Theorie vom Meisterkoch gibt’s vom Meisterkritiker das Rezept für die beste politische Kritik. Der Trick: Das staatsbürgerliche Genörgel der öffentlichen Meinung mit dem Senf des noch viel verantwortlicheren ideellen Gesamtstaatsbürgers bestreichen und so lange mit Heißluft überziehen, bis die Ohnmacht der Machthaber aus dem Rohr tropft! Dann nämlich treten erst die wahren Versäumnisse ans Licht, die die Regenten des Gemeinwesens sich zuschulden kommen lassen. Über Reformstau, mangelnde Gestaltungskraft und andere untrügliche Indizien, dass da oben keiner ordentlich hinlangt, klagen ja viele. Aber nur einer weiß, wovon das zeugt: Von einer politischen Herrschaft, die ihren Namen verdient, kann hierzulande einfach nicht die Rede sein. Das sieht man allein schon an denen, die fürs Regieren verantwortlich sind. Müntefering zum Beispiel. Der spricht generell nur Nullsprache, und wenn er den Mund aufmacht, dokumentiert er den gemeinsamen Nullinhalt aller Parteien. So ist das mit der Macht in Deutschland. Es gibt sie einfach nicht. Und was es von ihr gibt, ist „nicht nennenswert“: An die Macht, die schon keine mehr ist, kommt man am besten mit einer Politik, die schon keine mehr ist. Mir wird dabei ganz anders, aber leider nicht besser. Warum überhaupt noch die Inszenierung von politischen Wahlen, wenn die Regierung nicht nennenswert regieren und die Opposition nicht nennenswert opponieren kann?. Sicher, irgendwie Politik gemacht wird ja schon. Von Schily zum Beispiel. Der ist sogar Hardliner einer restriktiven deutschnationalen Asyl- und Ausländerpolitik. Aber kaum hat Politik mal einen Inhalt, ist der garantiert der falsche. Muss denn Ausländerpolitik unbedingt deutschnational sein? Kann man das überhaupt noch deutschnationale Politik nennen, wenn uns – ja: uns allen! – Amnesty International schwere Menschenrechtsverletzungen vorwirft? Die Neger schaffen bei sich daheim die Apartheid ab – und wir hier? Unser Gesetzgeber ist schon wieder eine einzige Null. Der verpasst wirklich jede Gelegenheit, das Ansehen Deutschlands in der Welt zu mehren, renoviert pausenlos sein Ausländerrecht, aber: Der endgültige Bruch mit dem Blutsrecht wurde vertagt. Das ist typisch. Tut einfach nichts, die Politik, und schon fließt wieder Blut auf deutschen Straßen. Dann Möllemann. Typischer Nullinhalt wieder, aber diesmal Riesennullnummer mit dem Inhalt Möllemann, eindeutig null Politik, nur wirtschaftsliberale Marktfrömmigkeit, was zeigt, wer im Land die Macht übernommen hat: Die Marktmenschheit wird direkt von der Börse reguliert. Über seinen Erfolg haben sich manche gewundert. Wachtmeister Kurz hat ihn schon immer kommen sehen. Null Politik geht umso besser, je größer die politischen Nullen sind, die sie nicht betreiben. Die anderen jammern alle nur immer über das Fehlen politischer Inhalte. Einer aber weiß, dass sie unwiederbringlich dahin sind. Er hat sie nämlich höchstpersönlich in Luft aufgelöst: Die Inhalte dieser Gesellschaft sind verbraucht. Markt oder Staat, Jacke oder Hose, Pest oder Cholera – nichts Neues unter der Sonne. Deswegen gibt es auch keinen Unterschied zwischen Politik und Popkultur mehr. (…) Wenn alle Inhalte sowieso gleich und deshalb überflüssig sind, erscheint offensiv verfochtene Inhaltslosigkeit schon wieder originell. Es scheint auch keinen Unterschied mehr zu geben zwischen einem politischen Kommentar und offenem Blödsinn. Man muss letzteren nur offensiv genug verfechten. Dann ist er schon wieder so originell wie Witzigmanns Geheimnis der besten Bockwurst.

[1] Siehe dazu GegenStandpunkt 2-92, S.59: „Robert Kurz: Der Kollaps der Modernisierung. Honeckers Rache – der Untergang des Abendlandes – linksherum“. GegenStandpunkt 4-96, S.73: „Was sich mit Marx doch alles anstellen lässt! Die linke Kontroverse um das radikalste Menschenbild“. Vgl. auch den Beitrag von Freerk Huisken in ‚Konkret‘ Nr. 3-2000: „Untergang mit Perspektiven – Bemerkungen zum ‚Manifest gegen die Arbeit‘ der Gruppe Krisis“.

[2] „Fetisch“ heißt das immer wiederkehrende Schlüsselwort, mit dem Kurz seinem Programm bescheinigt, haargenau dem Wesen der kapitalistischen Wirklichkeit zu entsprechen. Während Marx, bei dem der Kritiker da Anleihe nimmt, mit dem „Fetisch“ der Waren- und Geldform die Kritik einer politischen Ökonomie zusammenfasst, in der sich die mit Geld wirtschaftende Menschheit einem Ensemble von Sachzwängen unterwirft, die sie selber schafft, zieht Kurz es vor, dem Begriff die Entdeckung einer Methode der kapitalistischen Bewusstseinsbildung zu entnehmen. „Notwendig falsch“: diese Attribute will schon auch ein Kurz an die Adresse des bürgerlichen Denkens loswerden. Aber nicht darüber, dass er die Fehler dieses Denkens aufdeckt und widerlegt und sie auf das praktische Interesse als den Grund zurückführt, die Welt als einzige Bedingung für sich zu interpretieren. Für ihn ist der Kapitalismus eine wesentlich erkenntnistheoretische Problemstellung; das System der Geldvermehrung verlegt dem Bewusstsein die Bedingungen der Möglichkeit, sich nichts darüber vorzumachen; es ist für Kurz ein einziger Fetisch und riesiger „Verblendungszusammenhang“, der seine eigene Undurchschaubarkeit organisiert und nur deshalb Bestand hat, weil ihm dies erfolgreich gelingt. Und die Lösung dieses Problems nimmt Kurz sich vor, indem er stellvertretend für alle, die in ihm so notwendig bewusstlos und befangen zugange sind, den Kapitalismus als eine einzige konstruierte Undurchschaubarkeit demaskiert: Es geht schon, den Kapitalismus einmal in einem anderen Lichte zu besehen – das ist das Versprechen, mit dem Kurz alle Ideologen der bürgerlichen Welt zum „Umdenken“ anhalten möchte und das er mit seinem dicken Buch einlöst.

[3] Wann immer er auf Marx zu sprechen kommt, belehrt uns Kurz daher über das Janusköpfige dieses Denkers. Das, wozu er Marx macht: zum Sprungbrett fürs tiefsinnige Variieren des Themas vom schnöden Mammon, der die Welt regiert, nennt er den „‚esoterischen‘… Aspekt der Marxschen Theorie“ (786). Den liebt und schätzt er natürlich über alles, weil es eben eine feine Sache ist, die Kritik des Kapitalismus von Marx auch noch unter Berufung auf ihren Stifter aus dem Verkehr ziehen und an ihre Stelle die eigene kapitalismuskritische Methode als Ersatz rücken zu können. Insofern gilt: „Die Marxsche Theorie ist nicht widerlegt“ (789). Aber eben nur insofern. Denn alles andere von Marx, also so ziemlich alles, was der Mann nach den in seinen jungen Jahren verbrochenen – und nicht umsonst so geheißenen – „philosophisch-ökonomischen Manuskripten“ zu Papier gebracht hat, ist absolut nicht „emanzipatorisch“. Das alles ist bloßer „Arbeiterbewegungs-Marxismus“, aus dem nur immer dieser abgenudelte Klassenkampf mieft, der ja schon deswegen keine Emanzipation von diesem System sein kann, weil doch die Arbeiterklasse mittendrin ist und mitmacht in diesem System. Vorsicht also mit diesem Marx! Nur wo Marx „gegen den Strich gebürstet wird“, vorne also Marx steht und hinten Kurz herauskommt – nur dort ist Marx drin.

[4] Apropos „kommunikationslos“ wäre er, der Kapitalismus, und deswegen sein System so beschissen. Das ist wieder so ein absichtsvoller metonymischer Fehlgriff, der nichts als falsche Vorstellungen erweckt. Es ist nämlich eine Sache zu behaupten, dass in diesem System das Produzieren und Verteilen nicht nach dem gesellschaftlichen Bedarf ausgemacht und geplant werden. Eine ganz andere ist es, im Zeitalter von Handy, Film und Fernsehen zu behaupten, es wäre zu wenig oder gar überhaupt keine „Kommunikation“ unterwegs – und das wäre der Grund für so manche „Paradoxien“ in der Abteilung Produktion und Konsumtion. Da hätte einem, dem das affirmative Gesinnungswesen in dieser Gesellschaft so verhasst ist, ja schon auch auffallen können, dass deren Mitglieder sich zu viel unterhalten. Ihr an den Tag gelegtes Desinteresse an einer vernünftigen Planung ihres Lebens wissen sie nämlich sehr gut durch das Interesse zu kompensieren, sich in dem Leben zu bewähren, in das es sie nun einmal verschlagen hat. Also lassen sie sich genau so gerne von allen sagen, worauf es in dem anzukommen hat, wie sie umgekehrt allen anderen mitteilen, welche Siege, Teilsiege, aber auch Niederlagen sie bei dem Bemühen zu verzeichnen haben, als selbstbewusste Statisten der Marktwirtschaft über die Runden zu kommen. Aber „Kommunikation“ würde ein Kurz den überaus regen sprachlichen Verkehr eben nicht nennen wollen, mit dem die kapitalistische Menschheit ihr Mitmachertum begleitet, zu Attributen der eigenen Persönlichkeit stilisiert oder sich sonst wie zum Genussmittel aufbereitet. Dieser feine Begriff steht für ihn einfach stellvertretend für das Ideal des guten Lebens, das der Kapitalismus so beharrlich negiert, also tauft er das Ideal auf „Kommunikation“ um, damit er wieder etwas Feines hat, das er im Kapitalismus vermissen kann.

[5] Wiederum ist es eine Sache zu bemerken, dass im inter-nationalen Konkurrenzwesen ein den Nationen übergeordnetes Recht nicht vorhanden ist, und den Grund zu wissen, warum dem so ist. Dann weiß man auch, dass das Fehlen einer Macht über denen, die sich als höchste Recht setzende Mächte gegenüberstehen, für jeden dieser Souveräne ein dauernder Stachel ist, sich mit seiner Macht gegen die der anderen durchzusetzen. Eine andere Sache aber ist es, das Fehlen einer weltstaatlichen „Meta-Instanz“ zu bemerken und aus dem dann den Schluss zu ziehen, dass sich die Macht dieser Nationen an dem Mangel, über sich keine Macht stehen zu haben, in allem nur blamieren kann, was sie auf den Weg bringt, es also allenfalls „Hilfs“-Mächte und ähnliche Surrogate von Macht sind, die da Weltpolitik treiben. Zum gründlichen Abwinken gegenüber einer Befassung mit den wirklichen Zwecken und Interessen der realen Mächte taugt das freilich schon.

[6] Zur Kritik dieser Ideologien steht alles Nötige in GegenStandpunkt 4-99, S.77: „‚Globalisierung‘ – Der Weltmarkt als Sachzwang“

[7] Er ist übrigens nicht der erste mit dem Versuch, den Anti-Kommunisten mit einer linken Dublette kommen zu wollen. In der Tour, auf Leichen und andere Schandtaten zu deuten, um das betreffende System als verbrecherisch zu entlarven und ins moralische Abseits zu stellen, hat sich schon vor Kurz ein ‚Livre noir du capitalisme‘ versucht. Die französischen Linken beschränken sich über weite Strecken – und das macht sie in Maßen noch lesbar – darauf, die längst vergrabenen tatsächlichen Schandtaten in Erinnerung zu rufen, die kapitalistisches Geschäft und bürgerliche Staatsgewalt erst zur weltweiten Durchsetzung und dann zur Perfektionierung dieses famosen Systems vollbrachten, so dass man sich – wenn man will – in die Einzelheiten der Ökonomie des Sklavenhandels ebenso vertiefen kann wie in die der US-imperialistischen Eroberung des südamerikanischen Kontinents. Auf diese „Schwarzbücher“ hat Kurz seines noch draufgesetzt. Mit derselben Technik: Man deute nur auf Fakten, und schon sprechen die für sich, hat er die Phänomenologie des Kapitalismus herbeizitiert – um sie für das sprechen zu lassen, als was er sie deutet und als was er sie auch von allen seinen Lesern gerne gedeutet hätte. Wie jeder politische Enthüllungsjournalist „enthüllt“ also auch er keine Wahrheiten, liefert keine Einsichten über seinen Gegenstand, sondern schreibt über den eben ein „Schwarzbuch“, und als dieses ist sein Buch nur voll mit allem, was jeder seiner Leser – wenn nicht schon genau so gewusst, so doch im Prinzip wenigstens: – schon immer gemutmaßt und geahnt hat: Auch er bedient ein moralisches Scheidungsbedürfnis, das er fix und fertig vorfindet, versorgt ein bloß abstraktes anti-kapitalistisches Ressentiment mit dem Stoff, an dem es sich weiter unterhalten kann.

[8] Selbstverständlich hat Kurz, der die bohrende Frage nach der „konkreten Verwirklichung“ schöner linker Ideen gut kennt, auch auf sie eine „konkrete“ Antwort. Ein „Palaver“ stellt er sich vor, ein, wie er selbst sagt, „ewiges ‚Gequatsche‘“ – mit dem Zweck, „alles zu bereden und abzuwägen“ (788)! Aus. Nicht um der Wahrheitsfindung willen, auch nicht eines sonst wie praktischen Nährwerts wegen wird gequatscht. Alles immer bereden! heißt der chinesische Imperativ, mit dem die philosophische Kunst des Hinterfragens von Allem zur gesellschaftskritischen Avantgarde mutiert. Denn weil das außer Kurz und seinen Anhängern sonst niemand tut, ist das eben subversiv: Mitten im Kapitalismus geht sie doch, die Emanzipation, als Verein freier Menschen e.V. Bei dem aber, was sich da so zusammentut, sich von allen real existierenden Zwängen des bürgerlichen Ladens einfach nicht betroffen gibt, womöglich auch noch das Internet als Teil der „Produktivkräfte der Dritten industriellen Revolution“ (788) zum Kommunikationsforum erklärt und den Rechten so wenigstens die zivilisatorische Errungenschaft einer Website streitig macht, steigt man besser nicht ein. Im Fernsehen hat der Meinungsaustausch von Staatsbürgern, die aus höherer verantwortlicher Warte aus die Niederungen des gemeinen bürgerlichen Materialismus moralisch beäugen und im Hinblick auf ihre Bedeutung für den Sittenverfall der abendländischen Zivilisation durchleuchten, immerhin den kleinen Vorteil, dass man einfach ausschalten kann, wenn der Quatsch im Quatschen zu viel wird.