Immer neue Reformen im sozialen Kassenwesen
Der Sozialstaat kämpft gegen seine Rechtslage

Durch immer weniger Beschäftigung langt das kollektive Zwangssparen der arbeitenden Klasse nicht mehr zur Deckung der Rechtsansprüche der Einzahler. Diese Ansprüche werden deswegen vom Staat an die verschlechterte Kassenlage angepasst. Die Gewerkschaft zeigt sich einsichtig und passt ihrerseits tarifliche Regelungen dem Verlangen nach weiterer Verbilligung der Lohnarbeiter an.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Immer neue Reformen im sozialen Kassenwesen
Der Sozialstaat kämpft gegen seine Rechtslage

Der Eindruck, daß die nicht enden wollenden Einfälle der Bonner Sozialpolitiker zur „Sanierung der gesetzlichen Sozialkassen“ ein ziemliches Durcheinander in der bundesdeutschen Sozialkassen-Landschaft anrichten, trügt sicher nicht. Trügerisch ist höchstens die Vorstellung, die den verbreiteten Vorwürfen an die Adresse von Seehofer, Blüm und Co. zugrundeliegt, diese würden mit einem „chaotischen, unsystematischen Sparkurs“ gegen das Wesen des Sozialstaats vorgehen und das vorbildliche Kassenwesen zerstören, statt es wieder zu konsolidieren und zu erhalten.

Der Sozialstaat mit seinem Zwangsversicherungswesen für die lohnabhängige Mehrheit der Gesellschaft war noch nie eine Veranstaltung, die sich treuhänderisch und gerecht um die Versorgung derjenigen kümmert, die das aufgrund der in dieser Gesellschaft absehbaren „Wechselfälle“ – Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter – nicht mehr selber können. Mit seinem gesetzlich geregelten Sozialwesen widmet sich der Staat der Unmöglichkeit, von Lohnarbeit zu leben, und zwar in der Form, daß er zwangsweise eine Umverteilung von Geld innerhalb der lohnarbeitenden Klasse organisiert. Er erhebt auf der einen Seite Rechtsansprüche auf Einkommensteile der (noch) Beschäftigten; er läßt also schlicht Geld einsammeln und stiftet so die Sozialkassen. Auf der anderen Seite schafft er wohldefinierte Rechtsansprüche gegen diese Kassen gemäß den verschiedenen Notlagen, in die die lohnabhängige Menschheit in einer freien Marktwirtschaft nun mal zwangsläufig gerät. Und im Wissen darum, daß diese Rechnung niemals aufgeht, legt der Staat seinen nachgeordneten Instanzen, den Städten und Kommunen, eine rechtlich geregelte Almosenversorgung für diejenigen auf, die aus dem „sozialen Netz“ der Sozialversicherungen nach seiner Definition regelmäßig herausfallen.[1]

Diese Kombination von staatlichem Zugriffsrecht auf das Einkommen der Beitragszahler und gesetzlichem Anspruch dieser Beitragszahler auf genau definierte Leistungen der diversen Sozialkassen sieht genau so lange wie ein System wohlgeordneter, relativ umfassender Versorgung aus, wie der staatliche Zugriff auf die Löhne der Beschäftigten die gesetzlich festgelegten Ausgaben der Zwangsversicherungen übersteigt. Sobald dieses Verhältnis nicht mehr gegeben ist, die Bedienung der Kassen in geringerem Umfang wächst als die Inanspruchnahme ihrer Leistungen, löst sich auch der Schein einer einigermaßen verläßlichen sozialstaatlichen Absicherung eines durchschnittlichen Arbeiterlebens in Wohlgefallen auf – besser gesagt, er wird öffentlich zu den Akten gelegt. Dann ist der Öffentlichkeit schlagartig klar, daß „wir alle seit Jahren über unsere Verhältnisse gelebt haben und die sozialstaatliche Verschwendung so nicht weitergehen kann …“; vor allem nicht angesichts der Tatsache, daß „die Deutschen immer älter werden, was einerseits natürlich erfreulich ist, aber andererseits. …“; vor allem nicht angesichts der Tatsache, daß die Bundesanstalt für Arbeit immer mehr Arbeitslose immer länger zu betreuen hat; vor allem nicht angesichts der Tatsache, daß die medizinischen Versorgungs- und Pflegeansprüche ständig wachsen… Dann führt der Staat sich plötzlich als Betroffener auf, der über „seine knappen Kassen“ jammert. Dabei wird in Wahrheit nichts anderes zu Protokoll gegeben, als daß das an den Lohneinkommen durchgezogene kollektive Zwangssparen nicht ausreicht, die Lohnarbeiterklasse in ihren zunehmenden „sozialen Notlagen“ nach den bisher geltenden Grundsätzen zu erhalten.

Diese Lage ist in der BRD seit längerem eingetreten – und zwar aus zwei Gründen. Erstens gehen die Lohneinkommen seit Jahren zurück – sowohl wegen des Erfolgs deutscher Unternehmen in Sachen Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten als auch wegen mancher Mißerfolge in besagter Konkurrenz. Ist der Mißerfolg aktenkundig, sind Entlassungen wegen oder zur Abwendung einer Pleite fällig. Ist ein Unternehmen auf Erfolgskurs, muß erst recht alles für den weiteren Erfolg getan werden; Rationalisierungen stehen an; die Belegschaften werden „verschlankt“. Der staatlich eingerichtete Kassenmechanismus sorgt dann quasi automatisch für hoheitlichen Handlungsbedarf, weil die Einnahmen sinken, die Anwartschaften auf alle möglichen Sozialleistungen aber steigen. Zudem werden die diversen „Leistungen“ zwischen den Kassen sowie zwischen denen und dem eigentlichen Staatshaushalt je nach Finanzlage und politischem Gutdünken hin und her geschoben, so daß sich auch darüber ganz von selbst ein knapper Kassenstand ergibt, der nach reformerischen Taten schreit. Zweitens haben die regierenden Sozialpolitiker beschlossen, die bislang übliche Praxis, die Beitragssätze der Sozialversicherungen bei wachsendem Finanzbedarf der Kassen entsprechend zu steigern, unter die Rubrik „Standortnachteil für den Wirtschaftsstandort Deutschland“ abzubuchen. Sie sehen darin einen nicht länger hinzunehmenden Widerspruch zu ihrem Programm, die Arbeitskraft hierzulande radikal zu verbilligen.[2]

Das ist die „Kassenlage“, die die verantwortlichen Sozialpolitiker in Bonn herbeigeführt und gegen die sie nun „anzukämpfen“ haben. Das Problem sind die Rechtsansprüche, die der Staat selber den zwangsversicherten Beitragszahlern eingeräumt hat. Denn die Masse des umverteilten Geldes hat kein anderes Kriterium und Maß als die in früheren Zeiten festgelegten Rechte auf bestimmte Leistungen in bestimmten Fällen, meistens eingekleidet in mathematische Rechenkunstwerke wie z.B. die berühmte „Rentenformel“. Mit dem angeblich unerschütterlich feststehenden Zweck der Veranstaltung, einer halbwegs gesicherten Versorgung der Anspruchsberechtigten, haben diese Rechte in einem eher negativen Sinn zu tun: Sie diktieren Arbeitslosen, Alten und anderen „Fällen“ ein beschränktes, im Vergleich zum Beschäftigten verschlechtertes Auskommen zu und regeln die Teilhabe der Kranken- unf Pflegefälle am medizinischen Fortschritt sowie den Grad ihrer Betreuung. Für das, was da bisher rechtens war, reicht das Beitragsaufkommen nicht.

Diese Finanznot ist der selbstgeschaffene Grund und zugleich der Hebel der Bonner Sozialreformer dafür, umfassend gegen die bisher geltenden sozialen Regelungen vorzugehen und die verordneten Pflichten und gewährten Rechte gegenüber den Kassen gründlich zu revidieren. Dabei lassen die politisch Zuständigen nichts von dem aus, was einmal zu den „Sozialstandards“ in diesem Land zählte. Zielstrebig bringen sie alles, was als „System der Sozialversicherungen“ geregelt ist, ins öffentliche Gerede, begutachten es rigoros unter Gesichtspunkten eines systematischen Revisionsbedarfs und stellen absichtsvoll so ziemlich alles, was bis gestern als soziale Leistungsgarantie galt, erst in Frage und dann rechtshoheitlich um – und zwar dauernd und ohne absehbares Ende. So geht bei den sozialen „Sicherungen“ jede Sicherheit verloren – außer der einen, daß im Lichte einer nie zu bewältigenden Kassennot auch weiterhin mit lauter entsprechenden Änderungen zu rechnen ist. Die Klage, das alles seien systemwidrige „Eingriffe“ des Staates in das „Sozialsystem“, liegt allerdings schon deswegen daneben, weil es dieses „System“ nur als staatliches Rechtsgebäude – und damit als ständigen politischen Entscheidungsfall – gibt. Das Umkrempeln alles Bisherigen wird also ordentlich und rechtsförmlich veranstaltet. Dabei haben die Sozialpolitiker manches zu bedenken und dürfen nicht davor zurückscheuen, daß sie mit der Änderung der verordneten Leistungen und Ansprüche der Kassenmitglieder einen ganzen Wust von gewohnheitsmäßigen Ansprüchen und marktwirtschaftlichen Interessen, die mit den gesetzlich verstaatlichten Lohnteilen bedient werden, ziemlich durcheinanderbringen.

Am wenigsten Schwierigkeiten machen den Reformpolitikern dabei Einschnitte bei den Arbeitslosen- und Rentenversicherungsleistungen. Weniger Geld für Rentner und Arbeitslose, das läßt sich per Gesetzesänderungen erledigen. Aber auch die müssen erst einmal gemacht und über die Bonner Parlamentsbühne gebracht werden. Wobei immer zu prüfen ist, ob gewisse Sparmodelle nicht den Tatbestand eines verfassungsmäßig unzulässigen Eingriffs in „eigentumsähnliche Ansprüche“ der Beitragszahler erfüllen. Deshalb haben zukunftsweisende Vorschläge wie z.B. die Einführung einer „Grundrente“ unabhängig vom bisher geleisteten Beitragsaufkommen oder die von „Karenztagen für Arbeitslose“ derzeit eher schlechte Karten. Statt dessen setzt man – neben einer Erhöhung der Rentenbeiträge – mehr darauf, die beabsichtigten Kürzungen durch verfassungsrechtlich unbedenkliche Änderungen des gesetzlichen Rentenalters und durch prozentuale Senkungen des Arbeitslosengeldes zu erreichen – ganz abgesehen von dem Plan, solche Sozialleistungen finanzpolitisch wie ein privates Einkommen zu behandeln und zu besteuern.

Eines ist dabei sicher und in der Logik des Kassenwesens mit seinen Abstands- und anderen Geboten fest verankert: Jede Leistungskürzung bei einer Sozialkasse hat unmittelbar Folgen für die Finanzen der anderen Kassen, so daß die Menschheit, die das Sozialwesen betrifft, gleich mehrfach in ihren verschiedenen Rollen als Klientel der Kassen betroffen ist. Immer dann, wenn Arbeitslose weniger Geld kriegen, steht auch für die Alten und Sozialhilfeempfänger weniger bereit; immer dann, wenn Sozialhilfeempfängern weniger zusteht, sind auch bei den Arbeitslosen Kürzungen, rigorosere Herabstufungen und kürzere Leistungsfristen zumutbar; und immer dann, wenn Arbeitslose, Alte, Sozialhilfeempfänger weniger Geld haben, steht automatisch auch für dieselbe Mannschaft als Krankenstand weniger zur Verfügung.

Deshalb arbeiten die Bonner Sozialexperten schon seit Jahren an der großen Aufgabe, die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen zu beschränken. Dabei haben sie sich über alle möglichen Zuzahlungspflichten, Leistungsbegrenzungen und Kostendämpfungsrichtlinien bis zu dem Grundsatz vorgearbeitet, daß im Gesundheitswesen eine viel weitergehendere Scheidung zwischen „Kassenversorgung“ und einem wachsenden Bereich „eigenverantwortlicher, privater Selbstvorsorge“ möglich und nötig ist. Vorläufiges Zwischenergebnis des Reformwerks: Die Kassenbeiträge werden einerseits durch steigende Zusatzgebühren ergänzt, andererseits der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen durchsortiert nach dem Prinzip: Nötig ist das, was bezahlt wird; der Rest kann auf Privatrechnung bezogen werden. So kombinieren die Sozialstaatsreformer das Pflichtkassenwesen mit der Verpflichtung des einzelnen, sich finanziell selber um seine Gesundheit zu kümmern und zwischen nötig und unnötig zu sortieren. Sie bitten einerseits die Klasse weiterhin zwangsweise zur Kasse, überantworten aber zugleich bei den Leistungen vieles an die Privatsubjekte. Bisher für notwendig gehaltene Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit werden von Staats wegen zum privat zu zahlenden Luxus erklärt – wenn sie damit zum unbezahlbaren Luxus werden, geht das den Staat nichts mehr an.[3]

Ganz anders als bei der Arbeitslosen- und Rentenversicherung, bei deren Reform der Staat nur von ihm selber geschaffene Rechtsansprüche der Beitragszahler verfassungskonform aus dem Weg räumen muß, ist der Sozialstaat bei seinem Gesundheitswesen allerdings damit konfrontiert, daß er mit der Einschränkung der Kassenleistungen die Verdienstmöglichkeiten von lauter ehrenwerten Wirtschaftszweigen und Berufsständen tangiert. Wirtschaftssubjekte, die sich einerseits des staatlichen Interesses an ihrem florierenden Geschäft sicher sein können und die sich deshalb andererseits, wann immer sie sich von „der Politik“ im Stich gelassen fühlen, mit ihren Lobbies zur Wehr zu setzen wissen. Wo immer die Interessensvertreter derer, die am Geschäft mit der Gesundheit verdienen, sich zu Wort melden, tun sie das ganz selbstverständlich „im Namen des Patienten“. Das ist auch nur logisch; sie berufen sich dabei nämlich auf das Quid pro quo, als das der Sozialstaat sein Gesundheitswesen eingerichtet hat. Er hat ja keineswegs den Standpunkt durchgesetzt, daß Kranke in dieser Gesellschaft nach dem jeweils erreichten wissenschaftlichen Stand optimal versorgt werden, sondern er gewährt den Versicherten als Gegenleistung für ihre Zwangsbeiträge ein Recht auf Leistungen der gesetzlichen Kassen – der Inhalt des Rechts bedarf der weiteren Vereinbarung… Dieses Recht der Versicherten ist auf der anderen Seite für alle, die sich im Gesundheitswesen zu schaffen machen, Mittel ihres Einkommens – und zwar, weil staatlich gestiftet und garantiert, ein marktwirtschaftlich besonders attraktives Mittel. Wie attraktiv, das hängt dann allerdings auch daran, wie und wieweit der Staat die Freiheit der Bedienung und den Zuwachs an Zahlungsfähigkeit garantiert.

Mit ihrem schon einige Jahre zurückliegenden Einfall, die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen durch die Festlegung von „Budgetdeckeln“ zu limitieren, und ihren neuesten Vorschlägen, alles Mögliche aus dem garantierten Leistungskatalog auszunehmen, haben die Bonner Gesundheitspolitiker deshalb für einige Auseinandersetzungen zwischen den Verwaltungsinstanzen der Gesundheitsversorgung und den in Sachen Gesundheit engagierten Geschäftsleuten gesorgt. Die im Dienste der Gesundheit tätige Geschäftswelt sieht sich um ihre bisherigen Geschäftsgarantien – und damit um ihr Recht – gebracht und streitet sich mit diesem Standpunkt um die für sie passende Ausgestaltung der Reform – erstens untereinander, zweitens gegen die „Kassenbürokratie“, und drittens streiten alle miteinander gegen den „verheerenden Sparkurs“ des Ministers. Eine Aushebelung des „bewährten Systems des Sozialstaates“ ist das Ganze deshalb noch lange nicht und mit „Sozialismus“ (so ärztliche Standesvertreter) hat diese Begrenzung der früher automatischen Wachstumsraten im Gesundheitsgeschäft so wenig zu tun wie die verflossene freie Bedienung an einer garantierten Zahlungsfähigkeit mit „Eigenverantwortlichkeit“. Das, was an den bisherigen Vereinbarungen System hatte, die gewohnheitsmäßig ausgenutzte Geschäftsmöglichkeit für eine umfängliche Gesundheitsindustrie, wird sich auf einer neuen gesetzlichen Basis mit „Zuzahlungspflichten“ etc… schon wieder einpendeln. Das eherne Prinzip, daß geschäftlich kalkulierende private Anbieter „medizinischer Dienste“ aus der kollektivierten Zahlungsfähigkeit ihren Verdienst und Profit ziehen, wird nämlich nicht infrage gestellt, auch wenn der Staat ihnen mit seinen Leistungskürzungen eine neue Konkurrenz auf diesem von ihm gestifteten Markt aufoktroyiert.

Ob die geplanten Änderungen dann wieder zu den beabsichtigten „stabilen, kalkulierbaren“ Finanzverhältnissen bei den Sozialkassen führen, ob also die staatlich genehmigten Beitragseinnahmen der Kassen deren Ausgaben wieder einmal übersteigen, weiß natürlich kein Experte. Eines wissen allerdings alle: Die deutsche Wirtschaft wird auch bei steigenden Wachstumsraten weiter Millionen Arbeitslose produzieren, die Alten werden immer älter, die Kranken garantiert nicht weniger, also bleibt die Finanzlage drückend. So berufen sich die Fachleute des Sozialen auf den von ihnen verwalteten Kassenautomatismus, um den staatlichen Fanatismus einer Beschränkung der „Soziallasten“ als einzig denkbare Reaktion erscheinen zu lassen. Das stiftet das passende Klima für ihren Handlungsbedarf. Deshalb vergeht mittlerweile kein Tag, an dem nicht neue wegweisende Vorschläge zur „Sanierung unseres ausufernden Sozialwesens“ produziert werden.

Mit seinen staatlichen Eingriffen in bislang verbriefte Rechtsansprüche, mit ihrer Ersetzung durch neue Rechte und Pflichten und mit den dafür in die Welt gesetzten Rechtfertigungen dementiert der Sozialstaat also die Ideologie, er sei so etwas wie eine Kompensationsveranstaltung gegen drohende Armut. Er agiert haargenau so, wie es ihm bislang nur „ewig-gestrige“ Marxisten nachgesagt haben: Das Überleben der lohnabhängigen Klasse wird als staatliche Last definiert und dann per Staatsgewalt das Ausmaß der Beschränkung geregelt, das diesen Leuten aufgeherrscht werden muß. Verantwortungsbewußte Sozialpolitiker bauen sich bei diesem Geschäft als Verwalter der Schwierigkeiten der „zu knappen Sozialkassen“ auf, geben also zu Protokoll, daß für nicht (mehr) benutzte Lohnabhängige in dieser Gesellschaft einfach nicht genug Mittel vorhanden sind. Gemäß dieser Kassenlogik organisiert der Sozialstaat mit seinen hoheitlichen Neuregelungen eine Senkung des Lebensniveaus der nationalen Arbeiterklasse. Und kaum denken die Politiker weiter und betreiben „aktive Beschäftigungspolitik“, oder was dasselbe ist: „Standortsicherungspolitik“, dann stellen sie klar, wie der „Sachzwang“ von den zu „geringen Mitteln“ der Kassen gemeint ist: Sie verweisen ganz unvoreingenommen darauf, für welchen Dienst die (noch) benutzten Mitglieder der lohnarbeitenden Mannschaft gefragt sind – für die Förderung eines nationalen Kapitalwachstums, für das alles, was an Lohn verausgabt wird, als Kostenbelastung gilt, die auf keinen Fall weiter steigen darf.[4] So gesehen stellt sich heraus, daß für diese Leute immer noch viel zu viel Geld ausgegeben wird. Deshalb sehen sich die Sachwalter des Sozialstaats herausgefordert, die Staatsgewalt nicht nur für die Beschränkung der überflüssig gemachten Arbeiter einzusetzen, sondern auch für Lohnsenkungen des noch aktiven Teils zu nutzen.[5] Es ist also egal, ob Arbeiter ausrangiert sind oder noch gebraucht werden, verantwortliche Sozialpolitiker bescheinigen ihnen immerzu, daß sie auf jeden Fall zu teuer sind. Von wegen also, nur unverbesserliche Kommunisten würden behaupten, daß die freie Marktwirtschaft, dieses „beste aller Wirtschaftssysteme“, auf der Verarmung der Massen beruht.

Ganz in diesem Sinne haben sich den Bonner Sozialexperten bei der Durchforstung ihrer Gesetzeswerke von gestern nach „Standortrisiken“ noch andere Eingriffsmöglichkeiten auf die Lohngestaltung aufgedrängt. Das Gesetz zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bedurfte dringend einer Reform; sie wurde gesetzlich gekürzt. Eine ziemliche Herausforderung an die Arbeiterschaft. Es wird ja nicht nur das bisherige Prinzip gekündigt, daß im Krankheitsfall der arbeitende Mensch nicht gleich entscheidende Lohneinbußen hinnehmen muß; es wird auch eine sozialstaatliche Regelung, die die Gewerkschaft zu den von ihr verantwortlich mitgestalteten Errungenschaften dieser Republik zählt, gesetzlich zurückgenommen und damit programmatisch der soziale Friedenswille der Gewerkschaften auf eine harte Probe gestellt. Kritische Menschen wußten sofort, daß damit Streit und Durcheinander vorprogrammiert seien, weil lauter gültige Tarifvereinbarungen der neuen Gesetzesregelung entgegenstehen. Ein höchst alberner Einwand. Die zuständigen Politiker haben ja überhaupt nicht geleugnet, daß sie mit der gesetzlichen Reduzierung der Lohnfortzahlung auf 80% lauter offene Rechtsfragen geschaffen haben: Welche Arbeitnehmer sind davon betroffen, welche nicht; falls tarifvertragliche Vereinbarungen bestehen, müssen diese dann eine vom Gesetzestext abweichende Formulierung aufweisen, um weiter zu gelten; wenn für Arbeiter durch Tarifvertrag eine 100%ige Lohnfortzahlung vereinbart ist, für Angestellte der gleichen Branche aber nicht, wie steht es dann um den Grundsatz der Gleichbehandlung… Sie haben im Gegenteil offen ausgesprochen, daß das rechtliche „Chaos“ ganz bewußt herbeigeführt wurde, um „die Tariflandschaft in Bewegung zu bringen“ (Norbert Blüm, Mitglied der IG Metall).

Der Streit um die Lohnfortzahlung usw. – die Gewerkschaft organisiert kämpferisch den traurigen Abschied von der alten Rechtslage

Bewegung in der Tariflandschaft hat es dann ja durchaus gegeben. Die Unternehmer haben den Vorstoß der Regierung dazu genutzt, erst einmal alle bisherigen Verträge auszusetzen, nur noch unter Vorbehalt zu zahlen und auf jeden Fall auf schleunigste Anpassung an die neue Gesetzeslage zu dringen. Sie sind dabei auf eine Gewerkschaft getroffen, die dermaßen empört einen Rechtsbruch anklagt, daß allen Betroffenen, deren Tarifvertrag keine förmlich vom bisherigen Gesetzestext abweichende Festschreibung einer 100%igen Lohnfortzahlung enthält, von vornherein das Maul gestopft ist. Eine Gegenwehr – die Gesetzeslage hin, Tarifvertragstext her – darauf beharrt, daß die Leute ihr Geld im Krankheitsfall erst recht weiter brauchen, ist in diesem Lande mit dieser Gewerkschaft ganz offensichtlich nicht zu haben. Die deutsche Gewerkschaft kann nämlich schon lange nicht mehr zwischen einem staatlich gewährten Recht und Arbeiterinteressen unterscheiden. Sonst würde ihren Funktionären eventuell die Dummheit ihres Einwands auffallen, einen Rechtsbruch zu beklagen, wenn der Gesetzgeber selber gerade auf Rechtsveränderung drängt. Dann könnten sie vielleicht auch bemerken, daß ihr eigenes Lamento, ihre Vorväter hätten anno 56 die Lohnfortzahlung doch im „längsten Streik der Geschichte der BRD erkämpft“, bedeutet, daß Arbeiter nur so viele Rechte auf ihrer Seite haben, wie sie dem Staat abringen. Gegen solche Ahnungen ist der DGB allerdings immun. Dieser Verein ist dermaßen konstruktiv, daß er sogar die Dummheit, staatliche Rechtssetzung mit Arbeiterinteressen gleichzusetzen, noch ausbaut. Seine Experten machen sich an die Rechtsexegese des neuen Gesetzes: Sie unterscheiden fein säuberlich zwischen Tarifverträgen, deren Wortlaut vom Gesetz abweicht, und solchen, die denselben Sachverhalt anders formulieren. Im einen Fall liegt dann gemäß gewerkschaftlicher – inzwischen auch vom Kanzler andeutungsweise bestätigter – Interpretation bei der vorzeitigen Anwendung des neuen Gesetzes – also vor neuen Tarifvereinbarungen – ein eklatanter Rechtsbruch vor, im anderen Fall nicht. Das gewerkschaftlich mobilisierte Fußvolk, das sich brav in Tausendermannschaften zu Demonstrationen aufstellte, durfte sich von besagten Experten auch darüber aufklären lassen, daß die Frage, ob und wann ein Streik angesichts der ungeklärten Rechtsfragen überhaupt zulässig ist, ziemlich verwickelt ist… Das sind so die Fragen, die „die Tariflandschaft bewegen“…

Entsprechend sieht der bisherige Fortgang aus: In der Sache hat die Gewerkschaft anerkannt, daß der Gesetzesvorstoß tariflichen Revisionsbedarf stiftet, sie bemängelt die unfreundliche Form, in der die Unternehmer gegen bisherige sozialpartnerschaftlich vereinbarte Lohnbestandteile vorgehen. Die Metallarbeitgeber starten ein „Rückzugsgefecht“, das eine weitere Offensive ist. Sie nehmen den Beschluß, ab 1. Oktober die Lohnfortzahlung auf 80% zu reduzieren, vorläufig zurück und stellen im Gegenzug ziemlich das ganze seit Jahrzehnten manteltarifvertraglich geregelte Lohnsystem zur Debatte: Lohnfortzahlung, Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld, Zuschläge, Altersteilzeit, weitere „Öffnungsklauseln“ in den Tarifverträgen, künftige Lohnnullrunden sowieso… Die Gewerkschaft startet ihrerseits einen Vorstoß, der ein Rückzug ist: Sie besteht erst einmal auf 100%iger Lohnfortzahlung, worauf sich diese 100 Prozent beziehen, das hält sie für extrem diskutabel. Damit ist die nächste Tarifrunde eröffnet. Dabei kann die wie eh und je unverwüstlich konstruktive Gewerkschaft nicht mehr davon ausgehen, daß sie Arbeitgeber vor sich hat, mit denen sie etwas aushandelt, das dann auch gilt. Befördert hat sie diese Lage selbst; sie hat in den letzten Jahren entscheidende Fragen, sowohl die Lohnhöhe als auch die Arbeitszeiten betreffend, auf Betriebsebene delegiert, um die Form eines einheitlichen Flächentarifvertrags zu retten. Die Einhaltung selbst dieser Sorte Tarifvertrag ist mehr und mehr fraglich; sie hat z.B. in der angegliederten Ostzone mittlerweile eher Ausnahmecharakter, weil dort das aufstrebende Unternehmertum die Mitgliedschaft in Verbänden und die damit einhergehende Verpflichtung auf Tarifverträge für eine störende Fessel der freien Lohngestaltung hält und sich deshalb erspart. Die Interessensvertretung der Lohnabhängigen steht jetzt also vor dem aparten Problem, nicht nur überhaupt Tarifverträge zustande zu bringen, sondern solche, die auch – irgendwie – gelten. Sie beabsichtigt diese Doppelaufgabe in ihrer bewährten Art zu lösen: Sie bietet ihre aktive Mitarbeit bei der Liquidation der tarifvertraglichen Absicherungen an, die bis neulich noch für eine funktionierende Arbeitermannschaft in einer Weltmeister-Exportnation als unentbehrlich galten. Als Instanz, die in diesem Land für die Vertretung des sozialstaatlichen Gesichtspunkts einer brauchbaren nationalen Arbeitermannschaft zuständig ist, will sie den nationalen Standortgesichtspunkten und Konkurrenzerfordernissen, hinter denen soziale Bedenken zurückzustehen haben, ihre Anerkennung nicht versagen. Dazu bekennt sie sich öffentlich: Während „die Wirtschaft“ und die Bonner Sozialpolitiker mit Verweis auf die Sachzwänge der „globalisierten Märkte“ der Arbeiterschaft Lebensumstände aufoktroyieren, die alle gewohnten „sozialen Standards“ über den Haufen werfen, gibt sich der DGB ein neues Grundsatzprogramm, in dem er sich zur Errungenschaft einer „sozialen Marktwirtschaft“ bekennt – wie wenn es noch Zweifel an seinem alternativlosen Dafürsein auszuräumen gäbe.

[1] Vgl. „Alltag im deutschen Klassenstaat“, GegenStandpunkt 1-95, S.65 und „Alltag im Klassenstaat – Fortsetzung“, GegenStandpunkt 3-95, S.87.

[2] Vgl. „Politische Krisenbewältigung“, GegenStandpunkt 1/2-96, S.111.

[3] Dem Sachverständigenrat gehen alle staatlichen Korrekturen nicht weit genug. Er könnte sich noch viel mehr „Entlastung“ vorstellen und plädiert deshalb dafür, „die Gewichte zwischen staatlicher Vorsorge und privater Eigenvorsorge“ noch viel mehr „zu letzteren hin zu verschieben.“

[4] Das hindert den Staat nicht an der Auffassung, daß der Lohn für ihn bisher noch viel zu wenig als Finanzquelle zur Verfügung stand. Überall dort, wo der staatliche Zugriff nicht automatisch die Kapitalisten tangiert, hat der Staat keine Probleme, die hoheitlichen Abgaben zu erhöhen – siehe den Artikel zur „Großen Steuerreform“ in dieser Nummer. Deshalb sorgt er auch bei den Sozialkassen vermehrt dafür, daß deren Finanzierungsbedürfnisse möglichst ohne „Arbeitgeberanteil“ bedient werden. Bei solchen Steuer- und Kassenfinanzierungskunststücken rechnen die Inhaber der Gewalt zynisch darauf, daß ihrer Hoheit, die qua Recht automatisch auf den Lohn zugreift, keine gewerkschaftliche Macht gegenübersteht, die den sozialen Frieden kündigt und dem Kapital im Gegenzug entschlossen Lohnerhöhungen abtrotzt. Genauso denkt auch der Sachverständigenrat, wenn er der Politik zu bedenken gibt, ob es nicht überhaupt „zweckmäßig“ wäre, „wenn die Arbeitnehmer als Versicherte die vollen Beiträge aufbringen würden nach einem einmaligen Ausgleich beim Bruttolohn“. Zur Bekräftigung dieser Lohnsenkungsidee dementiert er ohne Bedenken die Ideologie, die für die Sozialstaatsbeschlüsse bemüht wird, daß nämlich den Unternehmern die steigenden „Lohnnebenkosten“ nicht zuzumuten sind: … de facto tragen sie (die Arbeitnehmer) jetzt schon den Arbeitgeberbeitrag, sei es über niedrige Einkommen, sei es über höhere Beschäftigungsrisiken (bei gegebenem Kostenüberwälzungsspielraum der Unternehmen). (Gutachten des Sachverständigenrats, FAZ 16.11.96)

[5] So setzen heutige Sozialpolitiker eine Notwendigkeit des Kapitalismus durch, die bei Marx als ökonomische Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Akkumulation erklärt wird: Eine wachsende Reservearmee und eine konsolidierte Überbevölkerung drücken auf den Lohn der Klasse.