Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die Tour de France
Deutschland feiert sich als Radsportnation

Wenn der Erfolg von Jan Ullrich Deutschland zu einer „Radsportnation“ macht, zeigt das einiges über den Zusammenhang von Sport und Nation(alismus).

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Die Tour de France
Deutschland feiert sich als Radsportnation

Im Juli führt ein Deutscher, Jan Ullrich, die Tour de France an und gewinnt sie am Ende auch noch. Deutschland im Radfahrfieber melden sofort die Gazetten.

Ohne Zweifel und für niemanden ein Geheimnis: Ein nationales Großereignis, das als solches gefeiert und inszeniert wird. Jeder ist sich sicher: Deutschland hat einen Sieg errungen. Nur: Inwiefern gibt es auf dem Feld des Radsports für eine Nation eigentlich etwas zu gewinnen? Hat das, worauf es einer Nation ankommt, nicht etwas andere Erfolgskriterien? Macht sich eine Nation nicht lächerlich, die von sich behauptet, sie wäre erfolgreich, weil sie einen vorzuzeigen hat, der sich auf zwei Rädern schneller als die Konkurrenz fortbewegt? Den Erfolg verzeichnen die Anhänger der Nation. Probieren wir es also umgekehrt: Woher die plötzliche Begeisterung der Deutschen für den Radsport kommt, ist kein Rätsel. Weil ein Deutscher beim Radfahren gewonnen hat, begeistern sich die Deutschen für den Radsport. Nur: Dann begeistern sie sich halt für den. Wie kommt es, daß Leute in ihrer Begeisterung für den Radsport Deutschland hochleben lassen? Sie begeistern sich als Deutsche für diesen Sport. Daß in diesem Sport einer von ihnen erfolgreich war, stiftet ihr Interesse für diesen Sport. Wäre er in einem anderen Sport erfolgreich gewesen, wären sie Anhänger einer anderen Sportart geworden. Das „Wobei“ ist austauschbar. Die Sportereignisse, denen sie nachfiebern, sind – das beweisen die Sportsendungen, die zu nationalen Erfolgsstatistiken geraten, in denen nur noch interessiert, wo ein Deutscher gewonnen hat – das gleichgültige Material für das Bedürfnis nach Bestätigungen, daß man als Deutscher „wer ist“. Dieses Bedürfnis ist dauernd und überall – nicht nur im Sport – unterwegs. Gesucht wird nach Vorbildern, nach Deutschen, die „es“ in tugendhafter Selbstaufopferung „geschafft“ haben: z.B. im Radsport möglichst viel Arbeit pro Zeit abzuliefern; und zwar mehr als die Konkurrenz aus den anderen Nationen. Solchen Vorbildern wird geistig oder durch Betätigung des jeweiligen Sportgeräts nachgeeifert, so daß es nicht lange ausbleibt, daß sich die Nation von unten als Sportnation neugründet und zu begreifen lernt. Die politischen Sachwalter der wirklichen Nation haben dafür einiges übrig. Sie pflegen den jeweiligen Sportsgeist, der ihr Volk befallen hat, indem sie sich selbst als Anhänger ihres sportbegeisterten Volks präsentieren.

So schließen sich die Untertanen mit ihrer Nation zusammen und umgekehrt. Und das geht völlig in Ordnung: Für die nationale Identität, die einer in sich verspürt, gibt es zwar noch andere Gründe als den Sport – wir sind auch noch eine Kulturnation, eine Raumfahrtnation etc. –, aber keine vernünftigeren.