Putins Sozialreformen
Die Arbeit an der sozialen Frage im neuen Russland

Der Grund der so genannten demographischen Krise Russlands besteht darin, dass es die sowjetischen, später russischen Führer mit ihrem Beschluss, alles, was sie für die Erfolgsmethode des Westens hielten, zu kopieren und darüber die Herrschaft des Privateigentums einzuführen, soweit gebracht haben, ihre bisherige Produktionsweise schlichtweg zu ruinieren und damit ihren Volksmassen die Existenzgrundlage zu entziehen. Die offizielle Kürzung der Sozialabgaben und der Schutz der sozialen Rechte der Arbeiter passen in Putins Logik so zusammen, dass der Staat ja überhaupt erst dann, wenn der Lohn so weit herabgesetzt worden ist, dass für schattenwirtschaftliche Unternehmungen der Übertritt in legale Verhältnisse attraktiv wird, auf die sozialen Rechte der Arbeiter aufpassen kann.

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Putins Sozialreformen
Die Arbeit an der sozialen Frage im neuen Russland

Das Interesse der westlichen Medien an Russland konzentriert sich in der Regel auf das Unrecht, das höheren Werten, den Anstandsregeln für gutes Regieren sowie dem einen prominenten Opfer aus den Kreisen des großen Geldes angetan wird, und interessiert sich weniger für die gewöhnlichen Opfer. Wenn die allerdings zu Millionen zusammengerechnet eine demographische Kurve nach unten ergeben, ist auch das eine Erwähnung wert. So berichtet der „Economist“ Anfang Oktober unter dem Titel „Russland scheint Selbstmord zu begehen“ von den Statistiken eines American Enterprise Institute, nach denen seit Beginn der 90-er Jahre das russische Bevölkerungswachstum in einen Bevölkerungsschwund umgekippt und das Volk um 3,5 Millionen dezimiert worden ist; die durchschnittliche männliche Lebenserwartung ist seitdem unter das Niveau von vor vierzig Jahren gesunken.

Und das soll uns alle nun insofern etwas angehen, als es die Frage aufwirft, ob ein so großes entvölkertes Gebiet nicht irgendwann einmal unregierbar wird. So offenherzig, wie der Artikel Auskunft gibt über den Humanismus in westlichen Redaktionen, die für russisches Volk sogar eine Daseinsberechtigung ausmachen können, in der Funktion, die russische Landmasse unter Kontrolle zu halten, so vieldeutig/unentschieden ist er allerdings in der Auskunft über Gründe der demographischen Kurve. Zwar ist das Datum, ab dem das russische Bevölkerungswachstum ins Negative umschlägt, das der Einführung von Demokratie & Marktwirtschaft. Dass es aber der Übergang zu dieser herrlichen Gesellschaftsordnung sein könnte, der einen Bevölkerungsschwund hervorruft wie sonst allenfalls Massenemigration oder Krieg, an so einen Zusammenhang mag man doch gar nicht erst denken. Sogar der system-neutrale Titel Armut kommt den Analytikern da schon zu verfänglich vor, ist jedenfalls nur ein Teil der Erklärung, ein anderer ist der Alkohol, der allerdings selber nur als Symptom eines Seelenzustands, der sich aus dem desorientierenden Zusammenbruch des Kommunismus ergibt. Aids und Tuberkulose gibt es dann schließlich auch noch.

Der Kommunismus war aber seinerzeit nicht nur für die Orientierung der russischen Seele zuständig, sondern auch für eine Wirtschaft, und auch wenn die Fachwelt sich dumm stellt: Die Liquidierung des alten Systems hat höchst folgerichtig auch das Überleben der Leute in Frage gestellt. Und was dessen „Zusammenbruch“ betrifft – einfach nur so kollabiert ist es auch nicht. Es war schon der Beschluss, die politische Tat der regierenden Partei, dieses Wirtschaftssystem zu beseitigen und durch das westliche zu ersetzen. Der Grund der sogenannten demographischen Krise Russlands besteht eben darin, dass es die sowjetischen, später russischen Führer mit ihrem Beschluss, alles, was sie für die Erfolgsmethode des Westens hielten, zu kopieren und darüber die Herrschaft des Privateigentums einzuführen, soweit gebracht haben, ihre bisherige Produktionsweise schlichtweg zu ruinieren und damit ihren Volksmassen die Existenzgrundlage zu entziehen.

Ihre hoffnungsfrohe Erwartung dagegen, mit der Marktwirtschaft einen Ersatz einzuführen, und zwar einen weitaus effizienteren; die Absicht, mit der Trennung von Staat und Wirtschaft so viel private Geschäftsinitiative freizusetzen, dass der Staat nicht nur von der Aufgabe entlastet würde, die Versorgung der Bevölkerung zu organisieren, sondern selbst mit reichlichen Mitteln versorgt werden würde: die hat sich nicht erfüllt. Das private Bereicherungsinteresse, dem die Bewirtschaftung der Nation überstellt worden ist, will sich weder als Quelle allseitiger Beschäftigung noch als Hebel für Volks-Versorgung betätigen. Es würdigt nur einen Bruchteil des Volks einer rentablen Anwendung. Mit einer solch durchschlagenden Wirkung der Marktwirtschaft hatte man in den russischen Führungsetagen nicht gerechnet; und auch heute noch herrscht eine gewisse Verständnislosigkeit gegenüber den Verhältnissen, die man eingerichtet hat:

„Es stellt sich heraus, dass die Reichen immer reicher werden und die Armen nicht. Die Lage ist natürlich viel besser als im letzten Jahrzehnt, als die Armen ärmer und die Reichen reicher wurden. Aber all das passt nicht in die ‚Superidee‘ der politischen Macht, eine Gesellschaft aufzubauen, in der sowohl die Armen als auch die Reichen reicher werden.“ (Iswestija, 5.8.04)

An einen Rückruf ist aber keineswegs gedacht. Im Gegenteil: Gegen sinkende Lebenserwartung, eine schwindende Bevölkerung und überhaupt hilft nur: Mehr Reichtum für die Reichen.

„Wir müssen das Sterblichkeitsniveau reduzieren und die Lebensdauer der Menschen vergrößern. Wir müssen den demographischen Rückgang überwinden … Es ist offensichtlich, dass die Anstrengungen des Staates und des Business auf eine weitere Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere in den Regionen mit stagnierender Arbeitslosigkeit, auf die Entwicklung des kleinen und mittleren Business, auf eine effektive Anwendung von Maßnahmen der gezielten sozialen Hilfe gerichtet sein müssen. Aber nur das wirtschaftliche Wachstum kann eine tatsächlich zuverlässige Grundlage für eine langfristige Lösung der sozialen Probleme, auch für die Armutsbekämpfung geben.“ (Ansprache des Präsidenten Russlands W. W. Putin an die Föderative Versammlung der Russischen Föderation, Moskau, Kreml, den 26. Mai 2004; soweit nicht anders vermerkt, stammen alle weiteren Putin-Zitate aus dieser Rede)

Entschieden bekräftigt wird damit das russische Bekenntnis zum Kapitalismus, an dem der Präsident trotz bzw. wegen aller Verheerungen, die dessen Einführung in Russland verursacht hat, nur den einen Mangel entdecken will, dass es davon in Russland zu wenig gibt. In diesem Sinne macht sich die russische Politik unter Putin an die Bewältigung der sozialen Frage.

Sozialpolitik im reformierten Russland: Wie man ein sozialstaatliches Kassenwesen auf eine nationale Lohnsumme gründet, die das nicht hergibt

Große Teile der erwerbsfähigen Bevölkerung erhalten erst gar keine Gelegenheit, sich einen Lohn zu verdienen. Und wo „Beschäftigung“ stattfindet, ist nicht ausgemacht, ob überhaupt gezahlt wird, ob halbwegs regelmäßig gezahlt wird, ob ein Lohn offiziell in Erscheinung tritt oder die Beschäftigten zur Vermeidung einer Erfassung durch die Finanzbehörden unter der Hand mit ein paar Rubeln oder anderen Gratifikationen oder gleich in Naturalform abgespeist werden.[1]

Insofern ist man in Russland schon ziemlich fortgeschritten, was die Herstellung der einen Grundlage eines modernen Sozialstaats betrifft: Armut ist in großem Ausmaß vorhanden, da gäbe es allerhand zu tun. Andererseits ist für die Einrichtung und Alimentierung eines Sozialstaats die Armut auch wieder viel zu groß, respektive: es fehlt an produktiv gemachter Armut, die überhaupt die Bedingungen dafür mitbringt, dass man sie für die allfälligen Lebensrisiken haftbar machen könnte.

Was nicht heißt, dass sich das nicht in Angriff nehmen ließe. So hat die neuere russische Staatskunst durchaus Größen zur Regelung des Lohnarbeiterdaseins in die Welt gesetzt, einen prozentual auf den Lohn abzuführenden Posten Sozialabgaben, die im Prinzip staatliche Kassen für den Unterhalt einer nationalen Arbeiterklasse im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter auffüllen sollten. Wegen des notorischen Mangels an kapitalistisch produktiver Beschäftigung im Land wird an diesen Größen aber unentwegt weiter herumreformiert, mit der eindeutigen Ausrichtung, die an die Lohnzahlung geknüpften staatlichen Bedingungen und Kostenfaktoren fortschreitend zu relativieren, um durch solche und andere Angebote die Arbeitgeber aus ihrem schattenwirtschaftlichen Dasein heraus- und überhaupt zum Zahlen von Steuern und Löhnen anzulocken. Im Juni hat die Duma ein Gesetz verabschiedet, das

„den Höchstsatz der vom Arbeitgeber abzuführenden einheitlichen Sozialabgaben von 35,6% auf 26% des Brutto-Lohneinkommens senkt. Mit den Sozialabgaben werden das öffentliche Gesundheitssystem, die (teilweise nach dem Kapitaldeckungsverfahren gestaltete) Altersvorsorge und die (allerdings minimale) Arbeitslosenversicherung finanziert… Mit der Einführung der vernünftig tiefen ‚Flat Tax‘ reagierten die Wirtschaftsreformer auf die notorisch schlechte Steuermoral in der Bevölkerung. Die nun erfolgte weitere Senkung der Sozialabgaben mindert wirtschaftsfreundlich nicht nur die Lohnnebenkosten, sondern schafft nebst verschärften Sanktionsdrohungen für die Arbeitgeber einen weiteren Anreiz, von der verbreiteten Praxis Abstand zu nehmen, große Teile der Löhne an den Steuerbehörden vorbei ‚schwarz‘ zu zahlen.“ (NZZ, 24.6.04)

Die zuständigen Politiker haben sich also einleuchten lassen, dass zur Förderung der Staatsfinanzen vor allem die Pioniere der russischen Marktwirtschaft behutsamer Pflege bedürfen, dass deren Inanspruchnahme für den Bedarf der restlichen Gesellschaft gar nicht „vernünftig tief“ genug sein kann und dem Einsatz von Arbeitskraft kaum die Rücksicht auf die daran hängenden Existenzen aufgebürdet werden darf. Das bestätigt die russische Regierung auch auf die Weise, dass sie die 2002 im neuen Arbeitsgesetzbuch beschlossene Bindung von Minimallöhnen an ein Existenzminimum wieder aufgehoben hat. In eben diesem Sinne kündigt der Präsident in der Rede zum Antritt seiner zweiten Amtsperiode höchstoffiziell die Notwendigkeit an, „die soziale Einheitssteuer zu reduzieren. Wir müssen einen bedeutenden Teil der Entlohnung aus der ‚Schattenwirtschaft‘ herausholen, die sozialen Rechte der Arbeiter schützen und die Bürger dazu anspornen, sich um ihre Rentenversorgung zu kümmern, indem wir die Steuerlast für das Business herabsetzen.“

Die offizielle Kürzung der Sozialabgaben und der Schutz der sozialen Rechte der Arbeiter passen in Putins Logik so zusammen, dass der Staat ja überhaupt erst dann, wenn der Lohn so weit herabgesetzt worden ist, dass für schattenwirtschaftliche Unternehmungen der Übertritt in legale Verhältnisse attraktiv wird, auf die sozialen Rechte der Arbeiter aufpassen kann. Worin die dann bestehen, ist eine andere Frage. Auch die Wirkung auf die Renten lässt sich als Dienst am Arbeitsvolk betrachten, nämlich als „Ansporn“, sich um sich selbst zu „kümmern“. Allerdings hat die Verschlankung der Sozialabgaben wiederum arithmetische Folgen für ein anderes Gesetzesprojekt, mit dem Bürger zur vorausschauenden Selbstversorgung angehalten werden sollten: die „kapitalgedeckte Rente“. Die staatliche Rentenkasse und neuzugelassene private Versicherungen sollten Rentengelder anlegen und Zinsen erwirtschaften dürfen. Dieses prächtige Angebot ist jetzt erst einmal für alle vor 1966 geborenen Beitragszahler wieder aus dem Verkehr gezogen worden, nachdem feststeht, dass sich aus den bisherigen und den künftigen gekürzten Rentenbeiträgen gar keine solchen Summen abzweigen lassen, aus denen sich bis zum absehbaren Rentenalter dieser Generation irgendetwas Nennenswertes erwirtschaften ließe:

„Da man kürzlich die Sozialabgaben der Arbeitgeber, die sogenannte einheitliche Sozialsteuer, gesenkt hat, gehen dem Rentenfonds Gelder in Millionenhöhe verloren, die den Bürgern auf ihren Rentenkonten gutgeschrieben werden sollten. Alle Bürger, die im Jahre 1966 oder früher geboren wurden, werden an dem neuen System nun nicht mehr teilhaben und sind weiter allein von der staatlichen Basisrente abhängig … Die durchschnittliche Rente beträgt derzeit 60 Euro. Das reicht kaum für die nötigsten Lebensmittel.“ (FAZ, 12.8.04)

Die Frage ist nur, ob da nun echte Gelder verloren gehen oder nicht eher die Löhne erst gar nicht gezahlt werden, aus denen Rentenbeiträge abgeführt werden könnten, die auch nur annähernd für einen Lebensunterhalt der Rentner ausreichen würden. Die einschlägige Gesetzgebung lässt sich insofern also durchaus als fortlaufendes Experiment verstehen: als Test, ob der russische Kapitalismus überhaupt einen Lohn verträgt, von dem sich dessen Bezieher ein durchschnittliches Leben lang ernähren können. So ist von anderen Vorschlägen in Sachen Rentenreform zu hören, nach denen das Rentenalter für Männer von 60 auf 68 Jahre und für Frauen von 55 auf 63 Jahre angehoben werden sollte.

„Doch das wird sich kaum durchsetzen lassen in einem Land, in dem die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer gerade einmal 58 Jahre beträgt. Der durchschnittliche Russe stürbe dann nämlich 10 Jahre, bevor er ins Rentenalter käme.“ (FAZ, 12.8.04)

Wieso der Konjunktiv, wenn der Indikativ schon ein Beitrag zur Entlastung der Rentenkasse ist? Außerdem lässt sich die gute Idee, das Rentenalter endgültig jenseits der landesüblichen Sterbegrenze anzusiedeln, ja auch auf freiwilliger Basis verwirklichen. Der Finanzminister arbeitet an einem Gesetzentwurf, der die Bürger Russlands auffordert, sich selbst um die Höhe ihrer künftigen Rente zu kümmern. Die einfachste Variante für die Lösung dieses Problems wäre eine Anhebung des Rentenalters. Diese auf der Oberfläche liegende Idee wurde aber abgelehnt. Damit liegt die Alternative auch schon auf der Hand:

„In einer erweiterten Kollegiumssitzung der beiden Wirtschaftsministerien wurde vor einem Monat ein milderes Schema als Grundlage ins Auge gefasst, das dazu bestimmt ist, Russlands Bürger materiell zu stimulieren, auch nach dem Überschreiten des Rentenalters weiter zu arbeiten. Wie Alexej Kudrin schätzte, würde ein Bürger, der fünf Jahre über das Rentenalter hinaus arbeitet, eine Rente bekommen, die um 50 bis 65 Prozent höher sein soll als diejenige, die ihm ursprünglich zustehen würde.“ (Wremja Nowostej, 20.4.04)

Alle „Probleme“ der russischen Sozialgesetzgebung spiegeln allein die Tatsache wieder, dass die effektive nationale Lohnsumme das Kassenwesen, das auf ihr errichtet werden soll, eine solche staatliche Organisation der Überlebensbedürfnisse der vorhandenen Bevölkerung nicht trägt. Insofern handelt es sich dabei nur um verschiedene Ausdrucksweisen dafür, dass das russische Volk vom Lohnarbeiterdasein, auf das es nunmehr verpflichtet ist, nicht leben kann.

Reform der sozialen Vergünstigungen: Noch ein Stück Enteignung der Massen zwecks Herstellung marktwirtschaftskonformer Armut

Auf dieser Grundlage existiert eine Einrichtung des Vorgängerstaats, das System der sogenannten sozialen Vergünstigungen, bis heute fort: ein Komplex von Rechten auf kostenlose Leistungen in Sachen Transport, Medizin, Wohnen und kommunale Dienstleistungen, dem Putin jetzt mit seinem großen Reformwerk zu Leibe rückt.

Ursprünglich waren diese Rechte Vergünstigungen für Verdienste um Staat und Volk im Großen Vaterländischen Krieg, an der Produktions- oder anderen politischen Fronten,[2] in ihren Genuss kamen Kriegsteilnehmer, Arbeitsveteranen und sonstige Helden der Sowjetunion, sowie Waisen und Invaliden. Unter Präsident Jelzin wurde dieses System fortgeführt und auf weitere Kreise der Bevölkerung sowie neue Kategorien vaterländischer Helden ausgedehnt, auf politisch Verfolgte in der UdSSR, Tschernobyl-Betroffene, Veteranen der Kriege in Afghanistan und Tschetschenien; die Schätzungen bewegen sich zwischen 32 und 100 Millionen „Begünstigten“. Die politische Führung konnte ja schlecht dem praktischen Urteil des Kapitals einfach recht geben und ihr Volk abschreiben. Außerdem kam es auch darauf an, die Massen politisch bei der Stange zu halten, jedenfalls vom KP-Wählen abzubringen.

Unter den neuen kapitalistischen Verhältnissen ist der Stellenwert dieser Rechte allerdings ein anderer: Die Ansprüche auf Gratisleistungen stellen keine „Vergünstigung“ mehr dar, keinen bescheidenen Zusatz zu einer gesicherten Reproduktion, sie sind nun zu Notbehelfen beim Kampf um eine irgendwie geartete Subsistenz gediehen. Den zahlreichen Opfern der Transformation, die den jetzt gültigen Rechnungen ohne nennenswertes Geldeinkommen ausgesetzt sind, versprechen die alten Vergünstigungen da immerhin noch den Zugang zu ein paar notwendigen Lebensmitteln.

Das System kollidiert aber mit der geltenden Rechnungsart. Den Inhabern solcher Anrechte auf Gratis- oder verbilligte Leistungen stehen Geschäftssubjekte gegenüber, die gar nicht daran denken, ihre Ware oder Dienstleistung gratis abzugeben, wenn sie sie an anderer Stelle gewinnbringend, z.B. auch gegen Bestechungsgelder veräußern können. Und wenn umgekehrt Betriebe oder Versorgungseinrichtungen versuchen, ihre ererbten sozialen Dienstleistungen, so gut es geht, fortzuführen, dann geraten sie in Gegensatz zum jetzt gültigen Wirtschaftsprinzip der Gewinnmacherei, müssen mit ihren Versorgungsleistungen „Verluste“ bilanzieren, werden als „unrentables“ Unternehmen auffällig und von dritten Instanzen mit ihren Zahlungsverpflichtungen konfrontiert. So haben z.B. die kommunalen Versorgungsbetriebe mit lauter Kunden zu tun, die nicht imstande sind, ihre Rechnung für Strom, Heizung und Wasser zu zahlen. Wenn sie dann ihrerseits ihre Rechnungen nicht zahlen können, wird ihnen mit der Einstellung von Stromlieferungen gedroht. Der Staat wiederum hat das Zurechtkommen mit diesen Kollisionen über weite Strecken den überkommenen Versorgungseinrichtungen überlassen; und wenn er Zahlungen zugesagt hat, sind die oft genug ausgeblieben.

„Die Hauptsache war, dass über die Hälfte der Vergünstigungen schlicht nicht finanziert und angeboten wurde.“

Zwar hat der Staat entsprechende Posten in seinen Haushalt eingestellt, aber die sind wie viele andere gesetzlich übernommene Verpflichtungen angesichts seiner eigenen Haushaltsprobleme des öfteren zu Luftnummern geraten:

„Die in den föderalen Gesetzen festgeschriebenen Verpflichtungen belaufen sich auf rund 200 Milliarden Euro pro Jahr. Aber die Einnahmen des ausgeglichenen Haushalts von 1999 lagen nur bei 50 Milliarden Euro.“ (Soziale Konterrevolution in Russland, Wostok Nr. 3-04)

Den Gegensatz einer Geldwirtschaft, von der sich nur ein Bruchteil der Nation regulär ernähren kann, zur überwiegenden Masse des Volks, das auf Grundlage von ein paar verbliebenen staatlichen Leistungen, Schrebergärten, Tauschgeschäften aller Art das Überleben unterhalb des gesetzlichen Existenzminimums übt, löst Putins Reformwerk jetzt zielstrebig nach der einen Seite hin auf. Zur parlamentarischen Beschlussfassung liegt „ein Paket von Gesetzentwürfen über die Monetisierung der Ermäßigungen und Vorzugsleistungen“ vor. Diese Dokumente gelten weitgehend dem Ersatz der gegenwärtigen Naturalform dieser Vorzugsleistungen durch Ausgleiche in der Form von Bargeld. (Rossijskaja Gaseta, 7.7.04) Anfang August werden in einem Generalaufwasch in der Duma 155 Gesetze geändert und 41 annulliert. Geändert werden soll die Form, in der der Staat sein Sozialwesen organisiert: Die staatliche Unzufriedenheit richtet sich darauf, dass hier noch ein Sektor der Gesellschaft dem Gelderwerb entzogen und damit selber eine Schranke fürs Geldverdienen ist, ganz nach der Logik, mit der die Herrschaft in Russland seit Gorbatschow den herbeiregierten ökonomischen Notstand mit der Suche nach „Bremsen“ beantwortet. Zumindest was den Gebrauch von Zahlungsmitteln angeht, soll sich der nutzlose Anteil der Bevölkerung jetzt auch in ein marktwirtschafts-konformes Element verwandeln, die soziale Rolle übernehmen, die ihm das neue System zuweist: Käufer, Manövriermasse zur Realisierung von Gewinnen. Deshalb soll sich der Staatshaushalt in Zukunft auch nicht mehr fiktiv, sondern mit reellen Zahlungen zur Herstellung einer gewissen Zahlungsfähigkeit verbürgen. Besprochen wird das Gesetz daher auch wie eine staatliche Anschubfinanzierung:

„Wir müssen sicherstellen, dass das Gesetz wie geplant erfüllt wird und eine positive Rolle für die Wirtschaft des Landes spielt.“ (Regierungschef Fradkow, RIA Nowosti, 29.7.04)

Andererseits ist klar, dass der Staatshaushalt keine Belastungen aushält, weswegen der „Ausgleich in der Form von Bargeld“ selbstverständlich kein Ausgleich in dem Sinn, die „Monetarisierung“ keine Umrechnung der materiellen Rechte anhand der geltenden Preise sein kann, sondern eine Reduktion der Ansprüche einschließt. Erstens über das Quantum der Kaufkraft, die der Staat seinen Rentnern zugesteht; ob die zur Beschaffung des Lebensnotwendigen ausreicht, ist jetzt endgültig deren Problem – schließlich bekommen sie jetzt ein Geld, dessen Wert ebenso variabel ist wie die Warenpreise. Gleichzeitig mit der Reform werden schließlich auch umfassende Preiserhöhungen im Bereich der kommunalen Dienstleistungen genehmigt. Zweitens wird eine Reduzierung der Anspruchsberechtigten ins Auge gefasst – die russische Regierung will einerseits von ihrem realsozialistischen Veteranenberg loskommen und andererseits unter ihren politischen Gesichtspunkten neu definieren, wem sie warum Vergünstigungen zuteilt.[3] Und die geplante Verschiebung des Finanzierungsproblems vom Föderal- auf die Regionalhaushalte, die erst recht keine Belastung vertragen, tut ein übriges.[4] Nachdem erst einmal die Betroffenheit groß ist, nimmt die Sache mit dem Beschluss einer Übergangsregelung ihren Gang.[5]

Daneben bedarf es zur ideologischen Durchsetzung einer gewissen argumentativen Betreuung. Als erstes wird eine systemgemäße Definition von Gerechtigkeit ausgegeben:

„Wenn man das System der sozialen Vergünstigungen vom Standpunkt der Interessen von Haushalt und Wirtschaft aus betrachtet, ist es ungerecht.“

Eine für die hiesigen Breiten eher ungewöhnliche Betrachtungsweise, die Staatshaushalt und Wirtschaft als Interessen benennt, welche zu kurz kommen. Auch die russische Öffentlichkeit hat es freilich mittlerweile gelernt, das, was diese Interessen gebieten, als anonyme Sachnotwendigkeit vernünftigen und erfolgreichen Wirtschaftens zu besprechen:

„In Wirklichkeit ist das System der sozialen Vergünstigungen … in erster Linie undurchsichtig, ineffektiv und hat mit Marktwirtschaft herzlich wenig zu tun. All das verzerrt das reale Wirtschaftsbild. Beim heutigen System ist es praktisch unmöglich, zu berechnen und zu erfassen, wer und in welchem Zeitraum wie viele Vergünstigungen in Anspruch genommen hat, welches Amt sie zu bezahlen hatte und in welchem Umfang, ob eine Vergünstigung von der berechtigten Person oder jemandem anders benutzt wurde, usw. usf.“ (RIA Nowosti, 7.6.04)

Und spätestens nach dem Klartext vom möglichen Missbrauch durch nicht-berechtigte Personen versteht schon jeder, was mit dem angeblichen Rechenproblem gemeint ist. Je mehr der Staat den Bedürftigen zusetzt, umso wichtiger ist es offensichtlich, „echte“ von „falschen“ Bedürftigen zu scheiden. Die Regierung steuert zur Begründung ihrer Reformen noch die Auskunft bei, dass das alte System der Vergünstigungen ja ohnehin nicht mehr gehalten hat, was es versprochen hatte:

„Die Regierung gibt zu, dass die vorgesehenen Entschädigungen die bisherigen theoretischen Anrechte nur rund zur Hälfte kompensieren werden, gibt aber zu bedenken, dass für die meisten Berechtigten manche Rechte nur theoretischer Natur waren.“ (NZZ, 3.7.04)

Ein wunderbarer Zynismus: Diejenigen, die die Umstellung zum Kapitalismus in Auftrag gegeben haben, berufen sich darauf, dass der das alte Versorgungswesen schon längst untergraben hat, damit die Opfer einsehen, dass sie auf die paar Naturalleistungen gleich ganz verzichten und mit Geldzuschüssen besser bedient sein sollen. Unter Berufung auf den Sachzwang, was alles nicht mehr geht, weil Kapitalismus gewollt wird, verweisen die Regierenden darauf, was der mit der Ermächtigung des Privateigentums installierte Interessengegensatz aus den materiellen Rechten gemacht hat; der umgekehrte Schluss angesichts dieser Wirkungen, das Versorgungswesen wieder zu reparieren, wäre selbstredend fehl am Platz.

Und schließlich dürfen die Massen die Beschneidung ihrer Lebensmittel auch noch als Dienst am Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und Regierten begreifen.

„Das Schlimmste ist, wenn der Staat Verpflichtungen auf sich nimmt und diese nicht einhält. Das ist schlimmer, als bescheidene Verpflichtungen auf sich zu nehmen, aber deren Einhaltung unter allen Umständen zu erzielen. Dann geht wenigstens nicht das Vertrauen des Volks in die Staatsmacht und alle anderen Institutionen, die eng mit der Staatsmacht verbunden sind, verloren.“ (Putin auf einem Treffen mit Gewerkschaftsvertretern, 28.11.01)

Der Staat soll sich nur an Erfüllbarem messen lassen; deswegen muss eine Regierung selber die Maßstäbe ausgeben, woran sie sich messen lassen will und woran nicht mehr. So funktioniert demokratische Vertrauensstiftung. Und da behauptet die hiesige Öffentlichkeit immer noch, dass die Russen nicht kapiert hätten, wie Demokratie geht.

Die nächsten sozialen Reformanliegen: Mit Krankheitskosten und Wohnungsnot zu neuen Wachstumserfolgen

Auch beim Umkrempeln des Gesundheitssektors haben die neuen Rechnungsweisen längst ihre Wirkung getan, so dass dort viele Leistungen, die der Gesetzeslage nach eigentlich noch kostenlos verabreicht werden müssten, gar nicht mehr oder nur noch gegen Bestechungsgelder zu haben sind. Nachdem also die alte Zugänglichkeit unter den Bedingungen der Marktwirtschaft kaputtgemacht worden ist, präsentieren sich die regierenden Reformer als Freund und Helfer:

„Das Hauptziel der Modernisierung des russischen Gesundheitswesens besteht darin, die Zugänglichkeit und die Qualität der medizinischen Hilfe für breite Bevölkerungsschichten zu verbessern. Garantien der kostenlosen medizinischen Betreuung tragen oft einen deklarativen Charakter. Die Menschen wissen nicht, was sie kostenlos bekommen können und wofür sie zahlen müssen.“

Da kann Abhilfe geschaffen werden – durch die staatliche Festlegung, für was alles in Zukunft auf gesetzlicher Basis gezahlt werden muss. Selbstverständlich – nur – für zusätzliche medizinische Hilfe und erhöhten Komfort. Gleichzeitig muss man Anreize für die Entwicklung von freiwilliger medizinischer Versicherung schaffen. (Putin)

Schließlich soll auch in dieser Sphäre ein kapitalistisches Geschäft überhaupt erst noch in Gang gebracht werden. Und weil die Herrschenden nur allzu gut wissen, wie wenig die Zahlungsfähigkeit der Benutzer des Gesundheitswesens für solche Geschäfte vorerst hergibt, tritt der Staatshaushalt als Abnehmer für die Pharmaindustrie in Erscheinung:

„Russlands Pharma-Markt kann im nächsten Jahr um 50 Prozent statt der geplanten zehn Prozent wachsen … Einen solchen Durchbruch soll ein ‚Föderationsprogramm zur Arzneimittelversorgung einzelner Kategorien von Bürgern‘ sichern, für das der Staat 1,8 Milliarden Dollar aus dem Föderationshaushalt bereitstellen will. Wie ein Vertreter des Pressedienstes des Finanzministeriums gegenüber ‚Wedomosti‘ mitteilte, wird die Föderationsbehörde für die Aufsicht im Gesundheitswesen der Endabnehmer sein.“ (Wedomosti, 26.8.04)

Im Wohnungssektor ist die russische Politik darauf gestoßen, dass die dort geltenden rechtlichen Regelungen der Umwandlung zur Geschäftssphäre entgegenstehen. Und mit derselben Entschiedenheit, die Lebensnotwendigkeiten ihrer Untergebenen soweit umzuwälzen, bis sie zum Inventar einer ergiebigen Marktwirtschaft taugen, werden auch die dort vorfindlichen Hindernisse angegangen. Die argumentative Reihenfolge, die der Präsident wählt, geht allerdings genau umgekehrt und beweist zielstrebig, dass ohne die Zugriffsmöglichkeiten einer Klasse, die damit ihr Geld vermehrt, Bauen und Hausen eigentlich gar nicht geht.

„Für eine der wichtigsten Aufgaben halte ich die Versorgung der Bürger mit Wohnungen. Das ist immer noch ein großes Problem … Die Schlussfolgerung ist offensichtlich: Die alten Methoden und Herangehensweisen haben dieses Problem auch früher nicht gelöst, heute funktionieren sie ganz einfach nicht … Und wir müssen die Möglichkeit schaffen, dass man sich Wohnungen über den Markt besorgen kann … Wir brauchen finanzielle Mechanismen, die es ermöglichen, Wohnraum nicht nur auf der Grundlage von vorhandenem Einkommen und Ersparnissen zu kaufen, sondern auch auf Kredit. Wir brauchen klare rechtliche Bedingungen für langfristige Wohnungskredite sowohl für Privatleute als auch für professionelle Bauherren. Die Hypothek soll auch für Menschen mit durchschnittlichen Einkünften ein Mittel zur Lösung dieser Probleme werden.“

Bauherren und Banken müssen endlich am Wohnungswesen verdienen können – darin besteht der neue Hebel zur Versorgung, die dann allerdings auch nicht mehr viel mit Versorgung zu tun hat:

„Bisher war die Hypothek infolge von Widersprüchen im russischen Recht nicht effektiv. So hat es das Gesetz nicht zugelassen, dass Menschen aus ihren Wohnungen exmittiert werden. Diese Norm dient dem sozialen Wohl. Keine Bank würde aber einen Kredit gewähren, wenn sie das gebaute Haus bzw. die erworbene Wohnung nicht als Pfand dafür bekommen darf. Ein entsprechender Abänderungsvorschlag liegt bereits dem Parlament vor.“ (RIA-Nowosti)

Denn wenn es darum geht, Kredit für Wohnungskäufe locker zu machen, für den dann wiederum die Wohnungen als Pfand dienen sollen, dann stehen die jetzigen Bewohner ein bisschen im Weg. D.h. die unter Jelzin geschaffene Rechtslage bei der Privatisierung der Wohnungen, bei der sich die Bewohner für wenig Geld das Eigentum an ihren Wohnungen verschaffen konnten. Damit also Wohnungen überhaupt in nennenswertem Ausmaß als käufliche Gegenstände in Erscheinung treten können, gilt es die ‚formalen Eigentümer‘ von ihrem Eigentum freizusetzen:

„Viele russische Wohnungen gelten formal als Eigentum der Bewohner, diese müssen aber für die kommunalen Dienstleistungen bezahlen. Veränderungen im Wohnungsgesetz ermöglichen es seit dem 1. April, Wohnungen zu räumen, wenn die Bewohner kommunale Dienstleistungen wie Telefon, Gas, Elektrizität usw. nicht bezahlen.“ (Sergej Gerasin: Das russische Bodenrecht in Gesetz und Praxis, Russlandanalysen 30/04)

Mit dieser Änderung der Gesetzeslage und Preissteigerungen im Bereich der kommunalen Dienstleistungen hat man nun Handhaben geschaffen, fehlende Zahlungsfähigkeit gegen die Wohnungsinsassen zu verwenden; in Moskau und St. Petersburg leistet zudem eine auf Immobilienbesitz erhobene Steuer denselben Dienst.

„Ab dem 1. April erlauben die Änderungen am Wohnkodex, Leute, die ihre Wohn- und Kommunaldienste nicht bezahlen, aus ihren Wohnungen zu werfen. Dafür werden eiligst Zimmer in Wohnheimen frei gemacht … Die Umsiedlung von ‚Schuldnern‘ in Wohnheime ist allem Anschein nach jedoch nicht die ganze Sache. Die übrig gebliebenen Rentner und die Intelligenz werden das Zentrum von Moskau verlassen. Viele Familien werden gezwungen sein, sich eine bescheidenere Unterkunft zu suchen. Zu diesen Folgen wird die von der Regierung vorgesehene rapide Erhöhung der Besitzsteuer führen.“ (Aleksej Uljanow: Soziale Konterrevolution – Russland entzieht sich allmählich seinen sozialen Verpflichtungen, Nowaja Gaseta, 29.4.2004)

P.S.

Mit dem Ende der Gängelung durch den Vorsorgestaat und der Einführung eines gediegenen Elends ist ja nun in Russland auch Raum für private Mildtätigkeit geschaffen. In dem entfaltet sich jetzt nicht mehr nur westliche Prominenz, wie Thekla Carola Wied und Gerd Ruge auf Besuch in russischen Kliniken oder bei Tschernobyl-Opfern, es entwickeln sich auch schon einheimische Wohltäter. Das „bisness“, wie der moderne Russe sagt, ist nämlich darum bemüht, vom schlechten Image der vaterlandslosen Oligarchen wegzukommen. In diesem Geist hat es die Einführung einer Art freiwilliger Selbstkontrolle gelobt:

„Der Vorstand des Russischen Industriellen- und Unternehmerverbandes (RIUV), der das Großunternehmertum vertritt, schlug im Vorfeld seines Treffens mit Präsident Putin vor, die russischen Unternehmer nach einem neuen Prinzip einzustufen. Als ‚sozial verantwortungsbewusst‘ sollen danach jene anerkannt werden, deren Geschäftstätigkeit den ‚hohen Standards der interkorporativen Arbeits- und Sozialverhältnisse‘ gerecht wird. Dagegen werden jene, die von unfairen und gesetzwidrigen Methoden wie bestelltem Bankrott, Aneignung von Unternehmen und Steuerhinterziehung Gebrauch machen, als ‚von den Problemen der Gesellschaft parasitierende‘ eingestuft. Durch die Trennung der ‚verantwortungsbewussten‘ von den ‚parasitierenden‘ Unternehmern will der Industriellen- und Unternehmerverband ein ‚positives Unternehmer-Image‘ schaffen.“ (Gaseta, 1.7.04)

Um den politischen Machthabern die gesellschaftsdienliche Qualität und Staatstreue seiner Mannschaft unter Beweis zu stellen, kündigt der Chef des Unternehmerverbands außerdem an, dass seine Mitglieder bereit wären, Geld in Projekte im sozialen Bereich, in die Kommunalwirtschaft zu stecken.

„Der russische Industriellen- und Unternehmerverband will Objekte der Sozialinfrastruktur in den Verantwortungsbereich der Unternehmer zurück übertragen. Das sagte Verbandspräsident Arkadi Wolski nach der Unterzeichnung eines Abkommens über die Gründung des Koordinierungsrats russischer Unternehmerverbände am Donnerstag. In den 90er Jahren gingen Objekte der Sozialinfrastruktur massenweise aus dem Verantwortungsbereich der Betriebe in den der lokalen Behörden über, so Wolski. Die Behörden hätten aber oft kein Geld für die Unterhaltung dieser Objekte. ‚Nun versuchen wir um jeden Preis, Wohnungen und soziale Objekte in den Verantwortungsbereich der Unternehmen zurück zu übertragen, obwohl das zusätzliche Ausgaben erfordert‘.“ (RIA Nowosti, 29.7.04)

Ganz umsonst funktioniert so viel Selbstlosigkeit freilich auch nicht:

„Die russische Aktiengesellschaft Einheitliches Energiesystem Russlands (EES Rossii) hat beschlossen, ein Mehrheitsteilhaber des Unternehmens Russische Kommunalsysteme zu werden – das größte Privatunternehmen, das in der Kommunalwirtschaft tätig ist. Nach Ansicht von Analytikern könnte die Kommunalwirtschaft in Zukunft einträglicher sein als das Geschäft mit der Energie, stellt die Zeitung fest.“ (Gaseta, 21.6.04)

Nur von der neuen sozialen Verantwortung für die Vermehrung von Kapital auch in der Kommunalwirtschaft erfüllt, Leute fair aus der Wohnung zu werfen – einen schöneren Dienst an der Zukunft des Vaterlands kann es für einen Unternehmer im modernen Russland gar nicht geben.

[1] Es zeichnet sich die Tendenz ab, dass weite Teile des Landes von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt werden, da die dortige Bevölkerung, die weitgehend als Selbstversorger und von Tauschwirtschaft lebt, in den Statistiken weder als Produzenten noch als Konsumenten erfasst wird. Ein weiterer Sektor ist die Schattenwirtschaft mit einem Anteil von immer noch 25% der Umsätze. (Stiftung Wissenschaft und Politik, Arbeitskreis Russische Außen- und Sicherheitspolitik, Bericht über die 12. Plenartagung 6/2004, S.21) Die dreiseitige Kommission (Regierung, Arbeitgeber, Gewerkschaften) für die Regulierung von Sozial- und Arbeitsverhältnissen… erachtet es für zweckmäßig, einen gemeinsamen Maßnahmeplan der Regierung der Russischen Föderation, der gesamtrussischen Gewerkschaftsvereinigungen und der gesamtrussischen Arbeitgeberverbände zum Schutz der Rechte der Arbeitnehmer auf rechtzeitige und vollständige Auszahlung der Löhne und Gehälter auszuarbeiten. (RIA Nowosti, 2.11.04) Solche Maßnahmen stehen schon in dem 2002 neu erlassenen Arbeitsrecht – Der Arbeitgeber ist jetzt verpflichtet, an den Arbeitnehmer Zinsen für die nicht rechtzeitig ausgezahlten Gehälter und Löhne zu zahlen. (Mehr Rechte für Arbeitnehmer – In Russland tritt heute das neue Arbeitsgesetzbuch in Kraft. Moskau, Strana.ru 1.2.02) –, lassen den russischen Kapitalismus also offensichtlich ziemlich kalt.)

[2] Ein Hinweis auf den Fehler des alten Systems: Wenn das, was eigentlich der Zweck der ganzen Veranstaltung sein sollte, nämlich eine solide und reichliche Versorgung, als Instrument eingesetzt wird, als Belohnung für besondere Leistung, die als Hebel zur Nachahmung solcher Leistungen wirken soll, ist es mit der Planung des ersteren nicht weit her gewesen. Was sich dann auch wieder daran bemerkbar gemacht hat, dass die sogenannten besonderen Vergünstigungen den Kreis ziemlich gewöhnlicher Bedürfnisse gar nicht überschritten haben. Den Prinzipien der materiellen und moralischen Stimulierung entsprechend wurde das knapp bemessene Materielle in Gestalt von Naturalleistungen moralisch umso mehr aufgedonnert und mit viel Ehre, Orden und Titeln kombiniert.

[3] Bis auf weiteres unangetastet bleiben sollen die Sonderrechte der in Sibirien und im Fernen Osten wohnenden Bevölkerung, welche u.a. frühere und höhere Rentenzahlungen erhält und Anrechte auf Gratisreisen in den europäischen Teil Russlands hat. Vorläufig von der Reform ausgenommen wurden zudem alle Beamten und Parlamentarier. (NZZ, 5.8.04)

[4] Die Personen, die Anspruch auf soziale Vergünstigungen haben, werden in zwei Gruppen aufgeteilt: die einen werden aus dem föderalen Zentrum, die anderen von den Regionen finanziert. (ITAR-TASS, 3.8.04) Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Gesetzes über Geldzahlungen in der fernöstlichen Region … Allein in der Region Chabarowsk werde die Umwandlung zu einem Defizit von 1,4 Mrd. Rubel führen … Natürlich fragen die Leiter der Regionen, wie dieses Defizit ausgeglichen werden soll. (Interfax, 3.8.04)

[5] Vorgesehen ist eine Erhöhung der Renten zwischen 15 und etwa 100 Euro je nach Kategorie. Außerdem bekommen die Personen, die Anspruch auf Vergünstigungen haben, die Möglichkeit, sich eines sogenannten ‚sozialen Pakets‘ zu bedienen, dessen Kosten auf 450 Rubel gestiegen sind. Dieses Paket enthält eine vergünstigte Fahrkarte für Regionalbahnen, die Versorgung mit Medikamenten sowie eine Kur und die kostenlose Fahrt zum Kurort. Ab 2006 dürfen die Bürger, die Anspruch auf Vergünstigungen haben, zwischen den Sozialvergünstigungen und einer Geldzahlung wählen. Die Vergünstigungen bei der Bezahlung von Wohn- und Kommunaldiensten werden auch 2006 noch beibehalten. (ITAR-TASS, 4.8.)