Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der praktische Zynismus demokratischer Wahlpropaganda
Politiker werben mit den Zumutungen des von ihnen verwalteten Kapitalismus um Zustimmung der Betroffenen zu ihrem Regierungsauftrag

Der Bundespräsident schaltet sich in den Wahlkampf ein. Er sorgt sich um die Wahlbeteiligung und ermahnt das Wahlvolk mit einer interessanten Begründung zur Stimmabgabe ...

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog

Der praktische Zynismus demokratischer Wahlpropaganda
Politiker werben mit den Zumutungen des von ihnen verwalteten Kapitalismus um Zustimmung der Betroffenen zu ihrem Regierungsauftrag

Der Bundespräsident schaltet sich in den Wahlkampf ein. Er sorgt sich um die Wahlbeteiligung und ermahnt das Wahlvolk mit einer interessanten Begründung zur Stimmabgabe:

„Viele Menschen sagen, dass keine Partei sie völlig überzeugt. Das kann schon vorkommen. Aber es gibt einen sehr einfachen Weg in dieser Situation: Wer nicht weiß, was das Beste ist, wählt das weniger Schlechte. Also: Gehen Sie zur Wahl!“ (www.Bundespräsident.de – 2. Rede Bürgerfest)

Natürlich hat der Präsident mit keiner Silbe gesagt, was denn an Parteien und Politikern tatsächlich das Schlechte ist, was einen vom Wählen abhalten könnte – er will den Bürgern mit seiner Einlassung ja nur sagen, dass der Wahlakt an sich so wichtig ist, dass man für ihn nicht wirklich einen guten Grund braucht. Aber man kann ihn ja mal beim Wort nehmen und der Frage auf den Grund gehen, was das Schlechte an den Politikern ist, die sich dem Wahlkampf stellen. Die größte Werbeveranstaltung der beiden Kanzlerkandidaten Merkel und Steinbrück, das auf allen Kanälen ausgestrahlte TV-Duell (alle folgenden Zitate daraus), bot dafür genügend Anschauungsmaterial.

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Die amtierende Kanzlerin Merkel ist sich des besten „Arguments“ für ihre Wiederwahl sicher. Sie verkündet gleich zu Beginn den 17 Millionen Zusehern eine unschlagbare Rekordmeldung:

„Wir haben soviel Beschäftigte, wie wir noch nie hatten… Die Zahl der Erwerbstätigen bewegt sich auf Rekordniveau, im Juli 2013 waren 41,8 Millionen erwerbstätig. Auch die Zahl der Beschäftigten ist mit mehr als 36 Millionen so hoch wie noch nie seit der deutschen Einheit.“

Arbeit auf Rekordniveau – in der deutschen Gesellschaft arbeiten so viele Leute so lange wie noch nie…Für wen ist das eigentlich eine Erfolgsmeldung? Etwa für diejenigen, die sich da unter fixen Leistungsvorgaben abschuften, sei es im Niedriglohn- oder Normallohnsektor, mit oder ohne Überstunden, eben dem, was deutsche Arbeitsplätze so an „Gemütlichkeiten“ bereithalten? Oder ist es nicht doch eher ein Erfolg für die kleine Minderheit derjenigen, die 2013 zu einem billigeren Preis denn je Arbeit kaufen können und sie für die Vermehrung ihres Vermögens verrichten lassen und deswegen gar nicht genug von dieser rentablen Arbeit kriegen können? Und nicht doch eher ein Erfolg für die noch kleinere Minderheit der politischen Machthaber, die sich per Steuern auf Profite und Löhne einen Teil der Gelderträge aus Arbeit aneignen und damit ihre Machtmittel vermehren? Die oberste Chefin, Kanzlerin Merkel, buchstabiert mit ihrem Arbeitsplätze-Argument jedenfalls den abhängig Beschäftigten klar vor, was sie von dieser Rekordmeldung haben: Für Menschen ohne eigenes Vermögen gilt im Deutschland von 2013 mehr denn je eine wirklich üble Vergleichsrechnung, nämlich: Ohne jede Arbeit ist man allemal noch schlechter dran als mit jeder Arbeit, auch wenn die noch so schlecht bezahlt ist. Und die Kanzlerin muss es ja wissen – sie hatte in ihren acht Jahren Regierung genügend Zeit und politische Macht, um im Verein mit der privaten Macht, die Unternehmer über die Arbeit haben, die absolute Gültigkeit dieser schlechten Alternative zu erzwingen. Das Ergebnis: die Unternehmer haben mehr Geschäfte denn je mit billigerer Arbeit gemacht – präsentiert Merkel nun als Errungenschaft, die sie für die Menschen, die auf Arbeit angewiesen sind, herbeiregiert hat.

Die materiellen Nöte, welche sich die Menschen mit ihrer Beschäftigung einhandeln, werden im Wahlkampf 2013 nicht verschwiegen, im Gegenteil. Dafür sorgt der Kandidat der Opposition – ausgerechnet. Steinbrück, einer der sozialdemokratischen Macher der Agenda 2010, wirft die Konsequenzen des Lohnsenkungsprogramms seiner Partei der Kanzlerin als politisches Versagen vor, um für sich daraus einen Regierungsauftrag zu schmieden: Seine Zahlen sind Auftakt für das Versprechen, dass er als Kanzler Deutschlands Beschäftigte am unteren Rand der Lohnskala nicht allein lässt, sondern ihnen mit der Alternative gesetzlicher Mindestlohn beispringt. Er übersetzt die Not der Menschen mit ihrer Arbeit in einen Antrag auf Beihilfe durch Politik: In voller Verantwortung vor dem Interesse „der Wirtschaft“ an niedrigen Löhnen verspricht Steinbrück 8,50 Euro in der Stunde als allgemeinverbindliche Lohnuntergrenze. Das ist doch mal eine Perspektive für die Millionen Arbeitnehmer, die mit ihren jetzigen Löhnen darunter liegen: Unter 8,50 Euro muss offiziell keiner mehr arbeiten, so geht dann das Regime des deutschen Niedriglohnsektors weiter, auf das die etwa zehn Millionen Billiglöhner festgenagelt werden, nun sozialdemokratisch verwaltet und ins Recht gesetzt durch den Mindestlohn. Dreizehnhundert Euro im Monat – das ist die aktuelle sozialdemokratische Definition, wie im bundesdeutschen Kapitalismus von 2013 Menschen von ihrer Hände Arbeit leben können und damit für ihre Familien selbst einstehen können. Und Steinbrück sagt gleich noch dazu, wer davon auch noch ganz gut leben kann: der deutsche Staatshaushalt, der von der Last des hundertausendfachen Aufstockens befreit wird.

Die Kanzlerin schmettert den allgemein verbindlichen Mindestlohn der SPD ab: Die Tarifpartner sollen dies (die Regelung des Mindestlohns) selbst tun, weil sie es am besten können und wir nichts tun dürfen, was Arbeitsplätze in Gefahr bringt. Im Klartext: Wenn das aktuelle Machtverhältnis zwischen Kapital und Arbeit dermaßen gut funktioniert, dass dabei Branchenmindestlöhne von 5 Euro rauskommen, dann hat sich der Staat da nicht einzumischen. Außerdem – so die Kanzlerin – löst Steinbrücks Mindestlohn noch nicht einmal das Problem der Altersarmut, weil „selbst bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro 40 Jahre Arbeit nicht ausreichen, um eine Rente zu bekommen, die oberhalb sozialer Zuschüsse liegt.“ So frech sprechen Wahlkämpfer das Elend einer Lohnarbeiterexistenz an, wenn sie den politischen Konkurrenten miesmachen wollen: Die Kanzlerin rechnet den Arbeitsuchenden vor, dass sie der Mindestlohn der SPD in die Arbeitslosigkeit stürzt, weil er zu hoch ist. Und denselben Leuten teilt sie als zukünftigen Rentnern ganz locker mit, dass sie nach 40 Jahren Arbeit unterm SPD-Mindestlohn nichts als Armut erwartet, weil er so niedrig ist! Zu niedrig jedenfalls in der Rentenlogik, die sie, Merkel, mit ihrer Rentenreform produziert hat; und auf dieses Rentenproblem hat Merkel natürlich die richtige politische Antwort: Das Geschenk der Lebensleistungsrente – also 15 bis 20 Euro im Monat mehr. Natürlich ist damit nichts von der Armut der Alten weg, aber das ist ja auch nicht im Programm von Politikern, die sich die trostlosen Zustände der Bevölkerung gegenseitig um die Ohren hauen, wenn sie sich um Zustimmung zu ihrem Regierungsauftrag balgen. Mit 850 Euro Rente nach etwa 40 Jahren Lohnarbeit inkl. aller Mütterrenten hat Merkel sich als wählbare Adresse für Millionen Alte aufgestellt, das neue Rentenarmutsniveau festgeklopft und eine rentenpolitische Gerechtigkeitslücke geschlossen: Die Menschen können jetzt wieder sauber zwischen Sozialhilfe und einer Rente, die ehrlich durch Arbeit erworben ist, unterscheiden.

Solche Lücken kann man auch von der anderen Seite her schließen und für die Abschaffung ungerechtfertigter Privilegien kämpfen. Steinbrück sagt, dass „es nicht sein kann, dass die Pensionen für diejenigen im öffentlichen Dienst besser behandelt werden oder stärker steigen als die aus der Umlage finanzierten gesetzlichen Renten.“ Ein sozialdemokratischer Demagoge weiß genau, zwischen welchen sozialen Gruppen er Zwietracht und Neid säen muss, um sich als hart durchgreifender Kanzler der Gerechtigkeit zu qualifizieren: Alten Staatsdienern Geld wegnehmen, damit die von den Rentenreformen Betroffenen die moralische Genugtuung verspüren, dass auch alle andern hoheitlich geschädigt werden. Das soll man dem Kandidaten als Wähler hoch anrechnen. Prompt tritt die Kanzlerin als Anwalt der armen Beamten auf: Das sind oft Menschen, die oft sehr sehr wenig verdienen… Wenn man Pensionen hört, denkt man immer an Staatssekretäre oder Ähnliches. Es sind aber Menschen, die ein sehr kleines Gehalt haben und die müssen jetzt mal aufmerksam bei der SPD nachfragen… Kaltlächelnd erinnert sie daran, dass die öffentlichen Arbeitgeber ihre Angestellten schon in der Dienstzeit und damit erst recht im Alter entsprechend kurzgehalten haben.

Merkel und Steinbrück beschäftigen in ihrer Wahlpropaganda die Menschen auch noch mit den höheren Sorgen der Politik. Die Kanzlerin wirbt beim Wahlvolk, wie sehr sie sich um die Verringerung der Staatsschulden verdient gemacht hat: Wir wollten es die letzten vier Jahre mit 262 Mrd. Schulden machen. Wir haben es mit 100 geschafft, ich würde mal sagen, das ist ein sensationelles Ergebnis … wir können beginnen, Schulden zurückzuzahlen. Allen Ernstes trägt sie Millionen Leuten, welche sich damit herumschlagen, Marktwirtschaft und Sozialstaat ein Leben abzuringen, an, sich den Kopf der Herrschenden über deren Machtmittel zu zerbrechen. Die Wähler, die in ihrer Rolle als abhängig Beschäftigte oftmals von den Sozialleistungen des Staates leben müssen, sollen es der Regierungschefin hoch anrechnen, dass sie es mal wieder geschafft hat, mehr aus ihren Bürgern herauszuholen, und die Steuereinnahmen sprudeln. Und sie will es honoriert haben, dass sie jede Geldleistung an die Bürger unter den Vorbehalt der stocksoliden Staatsfinanzen stellt. Merkel vereinnahmt die Menschen als deutsche Steuerzahler für die Überlegenheit deutscher Finanzmacht und stellt mit dem knappen Verweis auf Griechenland oder Portugal, die über ihre Verhältnisse gelebt hätten, noch klar, dass diese Finanzmacht wirklich jeden Bürger etwas angeht: Der Vergleich mit den Krisenstaaten ist der sachdienliche Hinweis ans Wahlvolk, was ihm alles blüht, wenn die in Deutschland erfolgreiche Kumpanei zwischen Finanzinvestoren und staatlichen Schuldenmachern mal nicht mehr klappen sollte. Dann – und das ist der harte Kern der Werbung Merkels mit der von ihr betriebenen Finanzräson Deutschlands – opfern Politiker wie sie den normalen, alltäglichen Lebensprozess ihres Volks der staatlichen Anstrengung, das Vertrauen der Finanzmärkte wieder zu erringen. Und Steinbrück? Der beschwert sich, dass die Kanzlerin seine Partei, die das alles mitträgt, in den Ruf der europapolitischen Unzuverlässigkeit bringt.

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Noch eines lässt sich die Amtsinhaberin, die Kanzlerin, am Ende der 90-minütigen Propagandaveranstaltung nicht nehmen: Wenn sie mit ihrem politischen Machwerk schon so zufrieden ist, dann hat sie auch Anspruch darauf, dass es alle anderen Deutschen gefälligst auch sind und sie wieder wählen: Wir hatten vier gute Jahre für Deutschland. Naturgemäß sieht das Steinbrück, der ihr unbedingt das Regieren abnehmen will, anders: Wir hatten vier Jahre Stillstand, vieles ist liegen geblieben. Deutschland, da geht noch mehr!