Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Das Bundesverfassungsgericht schafft das neue Computer-Grundrecht:
Eine Lehrstunde über das hohe Gut der privaten Freiheit und ihre Schranken

Das politisch liberale Deutschland freut sich: Karlsruhe hat mit seinem ersten Streich gegen die jüngsten Gesetze und Maßnahmen der Innenpolitiker aus Bund und Ländern nicht nur den Klägern Recht gegeben und das nordrhein-westfälische Verfassungsschutzgesetz aus 2007 zu Fall gebracht. Nach einmütiger Auffassung aller Freunde des liberalen Rechtsstaates haben die Verfassungsrichter mit ihrem „historischen Urteil“ (SZ, 28.2.2008) die Bürger ziemlich generell und umfassend beim Nutzen ihrer Computer vor dem Zugriff des Staates geschützt – indem sie deren digitales Treiben zum „wertvollen Gut der privaten Freiheit“ erhoben und ein komplettes, neues Grundrecht aus der Taufe gehoben haben: das Grundrecht „auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ vulgo Computer-Grundrecht.

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Das Bundesverfassungsgericht schafft das neue Computer-Grundrecht:
Eine Lehrstunde über das hohe Gut der privaten Freiheit und ihre Schranken

Hurra, wir haben ein neues Grundrecht!

Das politisch liberale Deutschland freut sich: Karlsruhe hat mit seinem ersten Streich gegen die jüngsten Gesetze und Maßnahmen der Innenpolitiker aus Bund und Ländern nicht nur den Klägern Recht gegeben und das nordrhein-westfälische Verfassungsschutzgesetz aus 2007 zu Fall gebracht. Nach einmütiger Auffassung aller Freunde des liberalen Rechtsstaates haben die Verfassungsrichter mit ihrem historischen Urteil (SZ, 28.2.2008) die Bürger ziemlich generell und umfassend beim Nutzen ihrer Computer vor dem Zugriff des Staates geschützt – indem sie deren digitales Treiben zum wertvollen Gut der privaten Freiheit (A. Hölscher, FR, 28.2.) erhoben und ein komplettes, neues Grundrecht aus der Taufe gehoben haben: das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (aus dem BVerfG-Urteil, zitiert nach SZ, 28.2.), vulgo Computer-Grundrecht: Auf Karlsruhe können sich die Bürger da verlassen, wo sie Politikern misstrauen: Sein Urteil zu Online-Durchsuchungen bietet Schutz vor ausufernden Gelüsten zum Ausspähen im Netz. Es bindet Schäuble und Co. (FR, 28.2.)

Auffallend genug, dass dieser angebliche Schlag gegen die Phalanx jener Innenminister in Bund und Ländern, in deren Amtsverständnis die Ordnung stets vor Freiheit und Gesetz rangiert (FR, 28.2.), nicht nur bei den erfolgreichen Klägern und ihren Anhängern Zufriedenheit und Genugtuung ausgelöst hat. Auch die Riege der Politiker, die mit innovativen Techniken der Kontrolle und Ausspähung inkl. der gesetzlichen Lizenzen dafür Deutschland immer sicherer machen, sieht sich im Schnitt mit dem Urteil gut bedient und will die Vorgaben rasch umsetzen (Schäuble, in: SZ, 28.2.), selbst wenn sie dafür ihre Entwürfe in den Schubladen etwas umschreiben müssen.

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Die allermeisten ‚user‘ dürften es vermutlich gar nicht bemerkt oder auch gleich wieder vergessen haben, dass ihnen der Staat am 27.2.2008 das wertvolle Gut der privaten Freiheit im Umgang mit ihrem Computer und allem, was daran hängt, geschenkt hat.

Ist auch kein Wunder, schließlich haben sie sich dieses großartige Geschenk von höchster Stelle weder gewünscht noch bestellt, noch unterstützt es sie irgendwie in ihrem alltäglichen Kampf mit der modernen Technik unter den Bedingungen der freien Marktwirtschaft. Das grundrechtlich erhebliche Schutzbedürfnis, das die Karlsruher Richter da entdeckt haben (s. BVerfG-Urteil, zitiert nach SZ, 28.2.) rührt gar nicht aus den Zudringlichkeiten, welche die Bürger normalerweise so unangenehm erfahren, wenn sie ihren Kram speichern, durch die weite digitale Welt surfen, kaufen und verkaufen, arbeiten und über Gott und die Welt per Mausklick kommunizieren, mit wem sie eben gerade wollen. Vor Störfällen, welche ungebetene Geschäftemacher, Kriminelle oder alberne Hacker mit ihren Würmern und Viren verursachen, haben sie sich schon selber zu schützen mit mehr oder weniger guten technischen Maßnahmen. Und wenn es zu vertraglichen Kollisionen zwischen ‚usern‘ und ‚providern‘ welcher Dienste auch immer, zu Schädigungen durch Dritte aus dem Netz usw. usf. kommt, regelt das mittlerweile die Rechtspflegeabteilung des Staates mit ihren einschlägigen Zivil- und Strafrechtsparagrafen, in denen sie, wie in den anderen Sphären der modernen Zivilgesellschaft auch, zwischen juristisch erlaubtem und unerlaubtem Tun scheidet.

Was Innenminister schon immer an Computer-Festplatten interessiert

Die Schutzlücke, welche für Deutschlands Bürger geschlossen werden soll, haben die Richter aufgrund staatlicher Praktiken ausgemacht. Seit die Segnungen der Informationstechnologie in Beruf und Freizeit Einzug gehalten haben, interessiert sich nämlich noch eine weitere Abteilung staatlicher Behörden ganz gehörig für die bits und bytes der Bürger. Kaum dass der moderne Mensch mühsam gelernt hat, sich über diese Art von Medium flott und bequem auszutauschen und auf ihm alles, was ihm mehr oder weniger wichtig ist, fein säuberlich zu dokumentieren, haben auch die Innenministerien längst gehandelt und ihre verbeamteten Techniker angewiesen, mit dem allgemeinen technischen Fortschritt in ihrer Zivilgesellschaft Schritt zu halten. Wie weiland beim Brief, später dem Fernsprecher oder überhaupt der Wohnung, deren Tür der Bürger hinter sich zusperren kann, bleibt eine bürgerliche Staatsmacht eben auch heute, im Zeitalter der informationstechnischen Systeme, auf der Höhe der Zeit und will sofort und überall dort nachschauen können, wo ihre Bürger Gedanken und Absichten ablegen und anderen mitteilen. Schließlich interessiert sich da eine herrschende Gewalt für Tun und Vorhaben ihrer Untertanen, denen sie am liebsten immer einen Schritt voraus sein will. Sie will sie ja allesamt präventiv im Griff behalten, rechnet von vornherein mit Missbrauch der Technik, also einem der Herrschaft unliebsamen Gebrauch, und will zumindest im Prinzip hinter allen Bürgern sitzen können, wenn die sich vor ihren Bildschirmen was auch immer ausdenken. Wache Sicherheitspolitiker und ihre Dienste warten deshalb auch nicht auf die rechtsförmliche Erlaubnis und Vorgaben von Verfassungshütern, sondern sie lassen immer umgehend die Kontrollmaßnahmen entwickeln, welche sie entsprechend dem Stand der Technik in ihrer Gesellschaft brauchen, und stampfen die dafür nötigen Abteilungen bei Verfassungsschutz und Polizei aus dem Boden – alles andere wären „unverzeihliche Versäumnisse“ der Politik. Vorausschauende Politiker exekutieren eben das oberste Grundrecht einer Herrschaft, das auf ihre Sicherheit und damit Kontrolle über ihr Volk.

Davon legt der Vorlauf des Urteils, die zahlreichen polizeitechnischen Initiativen von Schäuble und Co. für die präventive und straftatverfolgende Ausspähung von PCs, die Erfassung von Autokennzeichen usw., ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Darüber hinaus, wie in NRW bereits geschehen und anderswo geplant, besorgen sie sich und ihren Behörden auch noch die rechtlichen Grundlagen dafür: ein Gesetz, welches den staatlichen Zugriff auf private Daten regelt. So arbeiten, kommunizieren und spielen die Bürger an Computern, dass die Schwarte kracht, und die Staatssicherheit spioniert, so wie Sicherheitspolitiker es eben für nötig halten und sich deshalb per Gesetz erlaubt haben.

Die Klarstellung des BVerfG: Zuerst kommt das neue Grundrecht ...

Bestandteil solch säuberlich rechtsstaatlicher Regelungen ist es allerdings auch, dass sie der verfassungsgerichtlichen Überprüfung durch klagebefugte Rechtssubjekte zugänglich sind, die sich in ihren grundgesetzlich garantierten Rechten verletzt fühlen. Dieses Gefühl haben im vorliegenden Fall ein liberaler Bundesinnenminister a.D. und andere besorgte Bürger. Sie erheben deswegen vor dem Bundesverfassungsgericht Klage und bekommen Recht mit der Folge, dass das Ländergesetz für nichtig erklärt wird. Die Auskunft des Gerichtes ist eindeutig: So wie sich die Minister das Spionieren und Kontrollieren da freihändig genehmigen, so geht das nicht. Die roten Roben sind sich nämlich mit den Klägern darin einig geworden, dass das NRW-Gesetz und die zahlreichen anderen Gesetzesentwürfe, so wie sie im rechtsstaatlichen Gebäude der BRD bislang oder demnächst herumstehen, sich mit ihren umfassenden Erlaubnissen zum Ausspähen privater Daten wie eine große und ganz grundsätzliche Misstrauenserklärung des Staates gegenüber seinen Bürgern ausnehmen. Die Bürger werkeln mehrheitlich ohne jeden staatsfeindlichen Gedanken an ihren PCs, entfalten in Beruf und Freizeit vermittels ihrer datentechnischen Systeme konstruktiv ihre Persönlichkeit – und die Politik denkt immer nur an das Eine: Wie können wir die PCs der Leute ausspionieren? Das haben freie Deutsche in den Augen der Richter wie Kläger nicht verdient. Wenn es denn heutzutage so ist, dass

„die Nutzung der Informationstechnik für die Persönlichkeit und die Entfaltung des Einzelnen eine früher nicht absehbare Bedeutung erlangt hat ..., dass die jüngere Entwicklung der Informationstechnik dazu geführt hat, dass informationstechnische Systeme allgegenwärtig sind und ihre Nutzung für die Lebensführung vieler Bürger von zentraler Bedeutung ist“ (BVerfG-Urteil),

und der Staat deren informationstechnische Systeme ausspähen kann, dann haben die vielen Bürger in ihrem täglichen Gehorsam schon auch ein Anrecht auf ein gewisses Grundvertrauen von Seiten ihres Staates. Der hat ihnen dieses Vertrauen auch bereits auf grundgesetzlich verbindliche Art erklärt: in der Form des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und der allgemeinen Handlungsfreiheit des Artikels 2 Abs. I GG, weshalb eine korrekte rechtsstaatliche Ordnung, mit der anspruchsvolle Bürger und Verfassungsrichter zufrieden sein können, nicht mit dem in Polizeigesetze gefassten staatlichen Generalverdacht gegen die Bürger losgeht. Sondern vielmehr mit einem ausdrücklichen Vertrauensvorschuss des Staates für das systemkonforme Tun der Bürger, der eben auch – wenn das Zeug jetzt schon so wichtig und allgegenwärtig ist – eine Art von allgemeiner Lizenz zum freien IT-Gebrauch umfasst. Der deutsche Staat hat also das digitale Klicken und Surfen erst einmal als Rechtsgut der privaten Freiheit seinen Bürgern zu schenken und es wie die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Post- und Fernsprechgeheimnis ... zu gewährleisten. Und weil das Computerwesen aus der Sicht der Richter heutzutage eben auch von zentraler Bedeutung ist, haben sie seinen Nutzern neben den alten Schutzgütern, die Wohnung und das Telefon betreffend, ein eigenes und spezielles Grundrecht gestiftet, das künftig die Vertraulichkeit datentechnischer Systeme vor Übergriffen schützen soll. Ist mit dieser Konkretisierung eines eigenständigen Kernbestandes des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. I GG das neue Spezial- Grundrecht für die privaten IT-Nutzer erst einmal in der Welt, dann können – wie stets – Gesetze das Nähere regeln: Mittels einfachem Gesetz, im Rang unter dem Grundgesetz, werden jetzt die Ausnahmen definiert, die Polizei und Verfassungsschutz von der grundsätzlich gewährleisteten Vertraulichkeit privater Datenströme erlaubt sein sollen. Diese Klarstellung von den Verfassungshöhen herab ist nun mit dem jüngsten Urteil passiert: Ab jetzt achtet die deutsche Staatsgewalt das grundrechtlich erhebliche Schutzbedürfnis (BVerfG-Urteil) ihrer Bürger, wenn sie diese vor dem PC antrifft und dringend etwas nachsehen muss.

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Die Gewährleistung, auf welche das Bundesverfassungsgericht die deutsche Legislative und Exekutive mit diesem Computer-Grundrecht gegenüber ihren Bürgern verpflichtet, ist nicht mehr und nicht weniger als eine generelle Erlaubnis. Die Menschen benutzen Computer, so wie es ihre Fähigkeiten erlauben und ihre Interessen verlangen, und die staatliche Gewalt stellt in einem hoheitlichen Akt klar, dass sie das – von ihr aus – auch dürfen. Von einer Art Desinteresse der staatlichen Gewalt gegenüber dem bunten Treiben der Menschen vor ihren Computern zeugt das neu geschaffene Grundrecht auf private Vertraulichkeit des eigenen PC also nicht gerade, im Gegenteil. Private Freiheit herrscht im bürgerlichen Staat nicht dann, wenn die Leute mehr oder weniger sich selbst überlassen ihren Interessen, in diesem Fall vor dem PC, nachgehen. Freiheit herrscht erst dann, wenn die monopolistisch über allen thronende Gewalt klarstellt, wie sehr sie das Ganze etwas angeht: Sie dekretiert von oben herab, dass alle Bürger ausschließlich von ihren Gnaden on- und offline unterwegs sind. Nun surft, speichert und löscht der moderne Bürger nicht mehr einfach nur, sondern er genießt, ohne dass er sich das bestellt hat, ein hohes staatliches Rechtsgut: Er darf es, weil es der Staat will. Und er darf es privat, weil und solange der Staat das Computern als Beitrag zur grundgesetzlich geschützten Entfaltung der Persönlichkeit anerkennt. Deshalb genehmigt er den Bürgern in einer großartigen Geste der Zurückhaltung, dass sie im Normalfall ihre vielen und schönen Sachen auf den Festplatten für sich behalten können. Vollkommen egal, ob da einer seine intimsten Erlebnisse in „YouTube“ ausstellt, ein anderer seinen Browser-Verlauf wirklich für sich behalten möchte oder einem Dritten gar nicht in den Sinn kommt, dass seine Festplatte etwas Geheimnisvolles sein könnte – nun haben alle das Recht auf ihre privaten Geheimnisse vor der Staatsgewalt.

... und dann seine Schranke

Selbstverständlich ist diese schöne Konzession, die der deutsche Staat seinen Bürgern zu verleihen hat, nur der Auftakt im 106-seitigen BVerfG-Urteil. Ein paar Sätze weiter wird derselben Gewalt ihr Kontrollinteresse höchstförmlich genehmigt:

„Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme ist nicht schrankenlos. Eingriffe können sowohl zu präventiven Zwecken als auch zur Strafverfolgung gerechtfertigt sein.“ (BVerfG-Urteil)

Was auch sonst. Natürlich rangiert der staatliche Lizenzgeber mit seinem Interesse an Zuständigkeit für und Kontrolle über sein Volk von Persönlichkeiten an Computern an oberster Stelle. Und dieses höchste Sicherheitsinteresse ist nun gefasst in die Form einer Ausnahme vom Regelfall, dass die Bürger ihre private Freiheit als Grundrecht genießen. Ab jetzt darf die Exekutive in Bund und Ländern nur noch so auf dieser und jener Festplatte nachschauen, wie es die Richter nun aufgeschrieben haben: Ganz bestimmte Anforderungen müssen erfüllt sein, damit die staatlich verordnete Spionage in Ordnung geht: Staatlicher Zugriff auf private Computer nur dann, wenn bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen, selbst wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr schon in näherer Zukunft eintritt. (ebd.)

Dann darf man nachschauen, aber andererseits nur dann, wenn diese drohende Gefahr schon so konkret ist, dass im Einzelfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ohne Eingreifen des Staates ein Schaden für die Schutzgüter verursacht wird. (ebd.) Und die konkrete Gefahr ist wiederum fein säuberlich durch drei Kriterien bestimmt, nämlich den Einzelfall, die zeitliche Nähe des Umschlagens einer Gefahr in einen Schaden und den Bezug auf individuelle Personen als Verursacher. – usw. ...

Vielleicht etwas kompliziert formuliert, aber klar im sachlichen Auftrag: Die viel gerühmte Bremse aus Karlsruhe für wild gewordene Sicherheitsfanatiker, die hohen Hürden gegen den ausufernden Präventionsstaat, welche die Richter aus Karlsruhe errichtet haben, verpflichten die agilen Sicherheitspolitiker auf nicht weniger als deren eigenes staatliches Sicherheits- und Ordnungsinteresse: Online-Untersuchung gibt’s juristisch einwandfrei nur dann, wenn eine konkrete Gefahr für Verbrechen gegen Personen oder den Staat vorliegt; sonst nicht, einfach so ‚auf Vorrat‘ ausspähen, das geht nicht. Das BVerfG erinnert mit seinen Anforderungen an Online-Untersuchungen die versammelten Innenminister in aller Deutlichkeit an den Zweck ihrer Maßnahmen, womit die vermutlich ganz gut leben können: Mit belanglosem, privatem Scheiß auf den Festplatten haben sich die Ermittler gefälligst nicht zu befassen – das bleibt das heilige Reich der Persönlichkeit! Es geht allein um die Sicherheit der Staatsmacht vor Verbrechern und Feinden, spioniert wird also nur dann, wenn es von Staats wegen wirklich nötig ist; und um das herauszufinden, mahnen die Richter eine Art Garantie an: ein rechtsstaatliches Verfahren, in dem künftig jede Online-Untersuchung als Abwägung von konkurrierenden Rechtsgütern abzuwickeln ist: Persönlichkeitsrecht vs. Staatssicherheit.

Das schafft bei den Ermittlungsbehörden einige Arbeitsplätze. Erstens bleibt denen kaum ein Fall erspart, schließlich haben sie nach wie vor gemäß ihrem Sicherheitsauftrag jedem Anfangsverdacht nachzugehen. Ob der sich zu einer konkreten Gefahr erhärtet, ist sowieso nur nach einer Festplattenuntersuchung zu entscheiden: Im Zweifelsfall wird der betreffende Computer untersucht. Wie sollte man denn sonst wissen, ob man ihn wirklich zu Recht untersuchen darf? Und in dieser Genehmigungsfrage werden sich Ermittlungsbeamte und Richter schon einig werden. Das bekommen sie beim „Großen Lauschangriff“ und den Eingriffen in das Post- und Fernsprechgeheimnis ja auch hin, und dies, je nach staatlichem Sicherheitsbedürfnis, auch in steigender Zahl.

Zweitens haben die Behörden mit dem nun festgelegten Verfahren eine schöne Zusatzaufgabe erhalten. Stäbe von Polizisten und Juristen dürfen sich beim Sichten des Materials bis hinunter zu den einzelnen Festplatten-Verzeichnissen in einen schönen Wust von Abgrenzungen hineinarbeiten: Gehört der gespeicherte Liebesbrief eines mutmaßlichen Terroristen an seine Freundin nun zu den schriftlichen Verkörperungen des höchstpersönlichen Erlebens, welche tabu bleiben für die Ermittler, absoluten Schutz genießen und deswegen unverzüglich nach der Durchsicht zu löschen sind? (BVerfG-Urteil) Oder ist er etwa ein Hinweis auf mögliche Komplizen, und man muss und darf dem nachgehen? Vielleicht absurd, aber die juristisch penible Scheidung zwischen privaten und für den Straftatbestand relevanten Daten bleibt bis zum bitteren Ende der Ermittlung erhalten: Der Delinquent gerät nur wegen seiner Verbrechen und Vergehen in die Mühlen der Strafjustiz. Sein Grundrecht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit und auf die Vertraulichkeit seiner gesetzestreu verwendeten Hard- und Software bleibt dabei selbstverständlich unangetastet.

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Umsonst und verschwendet ist diese staatliche Mehrarbeit also wirklich nicht: Die Restriktionen und Umständlichkeiten beim Ermitteln sind eine Art rechtlicher Qualitätskontrolle des staatlichen Gewalteinsatzes auf seine Funktionalität. Außerdem wirft die zynisch-pedantische Abarbeitung der Karlsruher Beschränkungen beim staatlichen Spionieren noch einen zweiten Ertrag ab: Die Gewalt, die da herumspioniert, ist kraft des angeordneten Verfahrens legitim – in wohltuender Abgrenzung von staatlicher Willkür: Wer von den liberalen Verteidigern von Grundgesetz und Rechtsstaat will da noch etwas gegen das ziemlich schrankenlose Kontrollbedürfnis der exekutiven Obrigkeit einwenden, wenn es durch grundgesetzliche Schutzrechte, auf die das höchste Gericht des Landes ein wachsames Auge hat, eingehegt ist? Jetzt ist alles in Ordnung, weil die grundsätzliche Vertrauenserklärung des Staates an seine Bürger erneut bekräftigt wurde und die misstrauische Ausspähung ihrer privaten Dateien nur als Ausnahme erlaubt ist. Schäuble und Co. haben mit dem neuen Grundrecht jedenfalls den verfassungsrechtlich einwandfreien Auftrag, ihre Staatssicherheitsdienste technisch und gesetzgeberisch auf den neuesten Stand zu bringen. Das lassen sie sich nicht zweimal sagen.