Die Pflegeversicherung
Der Sozialstaat stockt seine Finanzquellen auf

Die Familie, „größter Pflegedienst der Nation“, funktioniert immer weniger, die Sozialpolitik will die für Pflege beanspruchten Budgets von Sozialhilfe bzw. Krankenversicherung schonen und erweitert die Sozialversicherung um eine neue Abteilung. Die bewährte Methode, die Opfer des Kapitalismus gezwungenermaßen für sich sorgen zu lassen, widerspricht allerdings dem laufenden Kampf gegen die sozialen „Nebenkosten“ des Lohns. Diesem wird die Pflegeversicherung durch das Prinzip der „Deckelung“ gerecht, d.h. die Ausgaben für Pflege richten sich nach den knapp bemessenen Einnahmen; außerdem wird den Unternehmen ein Recht auf Kompensation des von ihnen (nominell) gezahlten Sozialversicherungsbeitrags zugebilligt; eine Wertedebatte über eine „Kultur des Helfens“ und die gehörige private Opferbereitschaft entlastet den Staat moralisch.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Die Pflegeversicherung
Der Sozialstaat stockt seine Finanzquellen auf

Nachdem im März 1994 der „Pflegekompromiß“ zwischen der Koalition und der SPD zustandegekommen war, war die Verabschiedung des Pflegeversicherungsgesetzes durch Bundestag und Bundesrat nur noch Formsache. Rechtzeitig zum 1.1.1995 kann die „fünfte Säule der Sozialversicherung“ nun in Kraft treten. Die Bonner Herrschaften waren sich nach ihre Beschlüssen einig, daß sie mit diesem Gesetz Großes für die Nation geleistet haben: Nach der Zustimmung des Bundesrats sprach Bundesarbeitsminister Blüm von „einem historischen Datum in der Sozialgeschichte“; Scharping sah „einen Gewinn für die, die Pflege brauchen und für die, die Pflege leisten“; und sämtliche maßgeblichen Politiker sprachen von einem „eindrucksvollen Beweis der Funktionsfähigkeit unserer Demokratie“.

Tatsächlich hat mit diesem Gesetz ein jahrelanger Streit seinen Abschluß gefunden, bei dem nicht nur die Parteien involviert waren. Beteiligt waren auch die zuständigen sozialen Träger, die soziale Fachwelt, die Länderregierungen, die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften, ja schließlich auch noch die Kirchen. Gegenstand der Auseinandersetzung war dabei zum wenigsten die Versorgung der Pflegebedürftigen; von öffentlichem Interesse waren ganz andere Themen: Ob das System der Sozialversicherung heute noch zeitgemäß ist? Wie weit und an welcher Stelle die Lohnkosten in Deutschland gesenkt werden müssen? Ob die Arbeitnehmer in Deutschland zuviel blau machen? Ein wie hohes Gut die Tarifautonomie ist? Ob die Kirchen ein Recht auf einen arbeitsfreien Pfingstmontag haben? Ob Arbeit nicht die würdevollste Art ist, den 3. Oktober, den „Tag der deutschen Einheit“, zu feiern? Wer herzloser ist, die Kirchen oder die Gewerkschaften? Ob Stoiber sich nicht endgültig als Arbeiterfeind entlarvt hat, wenn er keinen Feiertag opfern will? Ob Scharping sich immerzu über den Tisch ziehen läßt, um seine Regierungsfähigkeit zu beweisen? Ob Widerstand nicht besser für die Glaubwürdigkeit der SPD wäre? Welche Partei und welche gesellschaftliche Gruppe jeweils schuld am Scheitern des Kompromisses war? Wer also der Politikverdrossenheit im Lande auch noch Nahrung gebe?…

Die öffentlichen Meinungsmacher hielten es angesichts dieser – ihrer eigenen! – Diskussionen für nötig, darauf hinzuweisen, daß ihnen der Zusammenhang zum Pflegethema ein wenig abhanden komme. Sie befürchteten gar, daß diese Art, das Problem zu behandeln, geradezu unwürdig sei, schließlich gehe es doch eigentlich um die Linderung ernster Notlagen…

Immerhin: In der Auseinandersetzung um die Pflegeversicherung wurden die Prinzipien deutlich, nach denen heutzutage in der Bundesrepublik soziale Versorgungsfragen gehandhabt werden. Nicht zu Unrecht wird die Pflegeversicherung offiziell als Prototyp für den „Umbau des sozialen Netzes“ gehandelt. Und nicht zu Unrecht haben die Politiker am Ende der Debatte darauf hingewiesen, daß die Diskussion ein gutes Beispiel für demokratische Streitkultur war.

Pflegebedürftige haben einen Anspruch auf Versorgung

Es gehört zu den sozialstaatlichen Prinzipien, allen Bürgern ein „Recht auf eine menschenwürdige Existenz“ zu sichern. Auch wer krank, alt und pflegebedürftig ist, hat in der Bundesrepublik also einen Anspruch darauf, existieren zu dürfen.[1] Bei der Erfüllung dieses Auftrags drohte der Staat aber – folgt man den Klagen des Bundesarbeitsministers – zu versagen. Blüm ließ in den letzten Jahren keine Gelegenheit aus, in Presse, Funk und Fernsehen auf die Tränendrüsen zu drücken: „Ausgerechnet die Schwächsten der Schwachen werden von unserer herzlosen Gesellschaft im Stich gelassen.“ Hinsichtlich der Pflege entdeckte er eine „Lücke im sozialen Sicherungssystem“, die der Gesetzgeber unbedingt schließen mußte.

Diese „Lücke“ war allerdings nichts als eine Erfindung der Sozialpolitiker. Bisher wurden nämlich durchaus auch alle möglichen Pflegeleistungen erbracht, und Entschädigungen für Pflegepersonen gab es ebenfalls längst. Zuständig dafür war einerseits die Sozialhilfe, andererseits die gesetzliche Krankenversicherung. Deren Leistungen waren im Prinzip durchaus vergleichbar mit denen der nun beschlossenen Pflegeversicherung. Die Lüge von der Versorgungslücke wurde deswegen aufgebracht, weil die maßgeblichen Sozialpolitiker das bisher geltende System nicht mehr weiterführen wollten: Die Sache wurde ihnen zu teuer.

Als Haken an dem bisherigen Verfahren stellten sie nämlich fest, daß die Familie als „der größte Pflegedienst der Nation“ zunehmend weniger in dieser ihr sozialpolitisch zugewiesenen Rolle funktioniert.[2] Konnte sich bisher der Sozialstaat darauf verlassen, daß die „lieben Angehörigen“ sich kostenlos der Alten und Behinderten annehmen – die Instanz Familie verpflichtete sie ja auch moralisch und rechtlich dazu –, so scheitert diese Sorte Versorgung der Pflegebedürftigen heute daran, daß es erstens immer weniger Familienangehörige gibt, die zu verpflichten wären; zweitens fallen zunehmend mehr von ihnen aus, weil sie die damit verbundenen Pflichten überhaupt nicht auf sich nehmen können. Besorgt muß der Sozialminister also feststellen, daß er nicht mehr ohne weiteres den Leuten die Opfer – er ist der letzte, der nicht wüßte, was das für die Leute bedeutet[3] – weiter zumuten kann, auch wenn er es noch so gerne täte. Also ahnt er – sozialpolitisch gesehen – Schreckliches:

„Deshalb (wg. erwähnter Umstände) droht die Bereitschaft zur häuslichen Pflege zurückzugehen mit der Folge, daß die Pflegebedürftigen zunehmend auf stationäre Pflege angewiesen sind. Die Pflegebedürftigen und ihre Familien sind aber in der Regel nicht in der Lage, die Kosten der stationären Pflege aufzubringen. In den alten Bundesländern müssen deshalb rund 80% der stationär versorgten Pflegebedürftigen Sozialhilfe in Anspruch nehmen, in den neuen Bundesländern sind es fast 100%.“ (a.a.O.)

Blüm hält dies für eine untragbare Entwicklung, und zieht den Schluß:

Die Versorgung der Pflegefälle nach dem bisherigen Verfahren kommt den Staat zu teuer.

Nachdem das bisherige System auf den Einsatz der Familie berechnet war, diese aber nicht mehr wunschgemäß funktioniert, muß – so Blüms Konsequenz – das ganze System geändert werden. Das zweite Prinzip der staatlichen Betreuung von Sozialfällen lautet nämlich: Sie soll den Staat in seinen Vorhaben nicht behindern. Die registrierte Tendenz, daß immer mehr Pflegefälle stationär betreut werden müssen, durchkreuzt aber genau die politischen Ziele, die die Bundesregierung sich zur Zeit vorgenommen hat: die Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung zu „dämpfen“ (damit die Lohnnebenkosten nicht steigen), die Kommunen zur Senkung ihrer Ausgaben zu veranlassen, damit sie nicht höhere Anteile vom Steueraufkommen für sich beanspruchen; schließlich will der Staat an seinen Bürgern sparen.[4]

Blüm – der eher für tränenreiche Inszenierungen von sozialem Mitleid zu haben ist – sagt natürlich nicht einfach, die bisherige Pflegeregelung paßt nicht mehr ins finanzpolitische Konzept der Regierung, sondern beruft sich lieber auf die Logik des sozialen Sicherungssystems der Bundesrepublik:

„Dieser hohe Anteil von Sozialhilfeempfängern bei den Pflegebedürftigen widerspricht den Grundsätzen unseres Systems der sozialen Sicherung. Die Sozialhilfe soll nur subsidiär, im Ausnahmefall, zur Behebung individueller Notlagen eintreten, wenn die übrigen Sozialleistungssysteme im Einzel-Fall keinen ausreichenden Schutz gewährleisten und keine ausreichenden Eigenmittel zur Verfügung stehen. Die Sozialhilfe soll bei sozialen Risiken aber nicht – wie gegenwärtig bei Eintritt der Pflegebedürftigkeit – zur Regel-Leistung werden.“ (a.a.O.)

Als wenn die Politik sich nach politischen Gestaltungsprinzipien richten würde. Wenn sie ihr nicht mehr passen, stößt sie diese jedes Mal leichten Herzens um – wie gerade die Pflegeversicherung zeigt (dazu später). Warum ersetzt Blüm also nicht einfach das Strukturprinzip der „Einzelfallhilfe“ durch das der „Regelfallhilfe“; dann paßte doch alles wieder in „unser System“? Sein „Problem“ ist offensichtlich ein anderes:

„Diese systemwidrige Finanzierung führt zu hohen, ständig steigenden Aufgaben der Sozialhilfe, die die Finanzkraft der Sozialhilfeträger, insbesondere die Kommunen, überfordern.“ (a.a.O.)

Die „überforderten Kommunen“ müssen wieder einmal dafür herhalten, daß die Politik an unüberwindliche Schranken gestoßen ist. Daß deren (aus dem Bonner Finanzausgleich zugewiesenen) Mittel hinten und vorne nicht reichen, die (ihnen staatlich übertragenen) Aufgaben zu erfüllen, hat sich im öffentlichen Bewußtsein nämlich längst als Topos dafür eingebürgert, daß die öffentliche Hand zu entlasten ist, bisherige Leistungen nicht mehr selbstverständlich sind, der Bürger dafür zumindest noch einmal zur Kasse gebeten werden muß.

Der Zweck der neuen Pflegeregelung lautet also: Die „Sparpolitik“ der Bundesregierung auch auf diesen Bereich auszudehnen. Die bisherige Finanzierung der entsprechenden Sozialleistungen soll möglichst weitgehend entfallen, der Bürger soll selber für seine „Lebensrisiken“ aufkommen, d.h. für den expandierenden Bereich der Pflege: erst einmal Geld abführen. Mit der Einführung von Zwangsbeiträgen für die Pflegeversicherung, so rechnet die Bonner Mannschaft, werden erhebliche Summen frei, die sie dann neu verplanen kann:

„Die Urheber des Gesetzentwurfs gehen davon aus, daß wegen des Übergangs der Leistungen zur häuslichen Pflegehilfe auf die Pflegeversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 1994 Ausgaben in Höhe von rund 4 Mrd. DM eingespart werden. Durch Umwidmung und Abbau von heute mit Pflegebedürftigen fehlbelegten Krankenhausbetten würden darüber hinaus langfristig rund 2,7 Mrd. DM eingespart. Länder und Gemeinden würden als Träger der Sozialhilfe durch die Pflegeversicherung ab 1996 schätzungsweise in Höhe von 7 bis 8 Mrd. DM entlastet.“ (Woche im Bundestag 14/93-III/150)

So macht die Entdeckung der „Lücke im System der Sozialen Sicherung“ und der „systemwidrigen Abdeckung“ des „Pflegerisikos“ also durchaus einen Sinn. Der Staat teilt seinen Bürgern mit: Wenn ihr als Pflegebedürftige künftig versorgt werden wollt, müßt ihr jetzt erst einmal zahlen, die alte Finanzierung entfällt. „Ordnungspolitisch“ überhöht heißt das, die Politik legt mehr Wert auf „Eigenverantwortung“, oder wie Blüm sich ausdrückt: „Leistung für Beitrag ist besser als Versorgung aus einem anonymen Staatstopf.“ Als Kampf gegen Bevormundung läßt sich eben auch verkaufen, wenn der Staat wieder einmal das Portemonnaie seiner Bürger als seine Finanzquelle entdeckt.

Die Organisationsform dieser neuen Pflegeversicherung war lange umstritten: FDP und Arbeitgeber befürworteten eine rein private Zwangsversicherung, während Blüm das Konzept bevorzugte:

Die Pflegeversicherung als „fünfte Säule der Sozialversicherung“

Die Form der Sozialversicherung ist nämlich die bewährte Tour des deutschen Sozialstaates, alle diejenigen, die sich – mangels finanzieller Möglichkeiten – nicht privat gegen die „Lebensrisiken“ absichern können, dazu zu bringen, dennoch für „Notzeiten“ vorzusorgen.

Bei privaten Versicherungen „nach dem Kapitaldeckungsprinzip“ begründen Prämien (individuelle Geldleistungen) bestimmte Gegenleistungen – gemäß den versicherungstechnischen Kalkulationen hinsichtlich der Abdeckung des gesamten Risikos und des Gewinns des Unternehmens. Sie existieren als Verträge, die sich einer kapitalistischen Geschäftskalkulation auf der einen und dem zahlungsfähigen Bedürfnis nach der angebotenen „Dienstleistung“ auf der anderen Seite verdanken. Der einzelne Beitragszahler „spart“ hier „an“, und erwirbt sich damit ein Recht, im „Leistungsfall“ die entsprechende vertraglich vereinbarte Leistung zu erhalten.[5]

Sozialversicherungen beruhen dagegen auf einem ganz anderen Prinzip. Sie sind in jeder Hinsicht eine staatliche Zwangsveranstaltung, die die Mitglieder zur Solidarität untereinander verpflichtet:

  • Erstens kassiert der Staat bei denen, die er qua Gesetz[6] zu „beitragspflichtigen Personen“ erklärt, einen fixen Prozentsatz von ihrem Lohn ab. Sozial an diesem Einzugsverfahren ist, daß der Staat die Besserverdienenden darauf verpflichtet, mit ihren höheren Beiträgen die niedrigen Beiträge derjenigen, denen nicht so viel vom Lohn abgeknöpft werden kann, zu kompensieren. Dabei geht diese erzwungene Solidarität bis zu einer „Beitragsbemessungsgrenze“ (bei der Pflegeversicherung: 5700 DM in den alten, 4425 DM in den neuen Ländern), die dafür sorgt, daß das – im Vergleich zur privaten Versicherung – schlechte Preis-/Leistungsverhältnis bei Besserverdienenden nicht allzu eklatant wird.
  • Zweitens sind die Leistungen der Versicherung nicht beitragsbezogen, sondern für alle Versicherten gleich. Die Höhe des Prozentsatzes, der vom Lohn abgezogen wird, ist so kalkuliert, daß die Summe der Beiträge möglichst die gesamten anfallenden Kosten für die Leistungen abdeckt, die von Anspruchsberechtigten gegenüber den Sozialversicherungsträgern geltend gemacht werden können. Umgekehrt sind die Leistungen so kalkuliert, daß sie aus dem beitragsmäßig zustandekommendem Topf gezahlt werden können.
  • Dabei ist der Kreis der Anspruchsberechtigten gesetzlich definiert und keineswegs identisch mit dem der Beitragszahler. Mitversichert sind z.B. auch nicht beitragspflichtige Ehegatten und Kinder. Darüber hinaus müssen die Kassen auch für die derzeit schon anfallenden Pflegefälle („Bestandsfälle“), die vorher nie in ihrem Leben Beiträge in die Versicherung eingezahlt haben, aufkommen. Auch die Kriegsopfer und Hinterbliebenen, die früher aus dem Sozialetat versorgt wurden, hat der Gesetzgeber der Pflegeversicherung zugeschlagen.
  • Drittens wird das von den Beitragszahlern entrichtete Geld nicht „angespart“; vielmehr gilt das „Umlageverfahren“. D.h., was die Sozialversicherung auf der einen Seite einnimmt, wird auf der anderen gleich wieder für die gerade anfallenden Leistungsfälle ausgegeben. Deswegen ist bei Sozialversicherungen auch nie genug Geld da, wenn mal mehr Leistungen als vorausberechnet anfallen. Und weil der Leistungskatalog nach dem jeweils geltenden sozial- und haushaltspolitischen Kalkül festgelegt wird, kann niemand sicher sein, ob und wieviel er jemals an Leistungen erhält, wenn er einmal auf sie angewiesen ist.

Der sozialpolitische Vorteil der Sozialversicherungs-Lösung gegenüber konkurrierenden Modellen besteht also darin, daß von einem Teil des Lohns, den die arbeitende Bevölkerung verdient, die gesamten Kosten abgedeckt werden, die für die Pflege aller pflegebedürftigen Bürger anfallen (soweit sie nicht vom Staat alimentiert werden – Beamte – bzw. wegen ihres hohen und anders gearteten Einkommens berechtigt – und nun auch verpflichtet – sind, sich privat abzusichern).[7]

CDU-Fraktionschef Schäuble faßt die Gründe für die Entscheidung zugunsten der umlagefinanzierten Pflegeversicherung darum auch so zusammen:

„Wir hätten bei jedem anderen System als dem der Umlagefinanzierung keine Lösung für die Menschen, die heute schon pflegebedürftig sind, und ihre Familien geschaffen. Wir können ja jetzt nicht die Pflegeversicherung einführen, damit sie in 30 Jahren für künftige Pflegebedürftige und ihre Familien Leistungen erbringt. Wenn man diese heute einbeziehen will, mußte man auf die Umlage kommen.“ (BT-Debatte vom 11.3.94, Das Parlament 25.3./1.4.94)

Er hätte hinzufügen müssen: Und gleichzeitig kommen die Lohnbezieher für sämtliche Pflegefälle auf, die sonst dem Staat zur Last fallen würden.

„Systemgemäß“ sorgt also auch diese neue Abteilung in der Sozialversicherung dafür, daß der Lohn für die Reproduktion der gesamten Klasse der Lohnabhängigen einzustehen hat.

Dabei hat die Regierung auch an der hälftigen Zahlung des Beitrags durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer festgehalten. Für sie hat sich das System, das so sinnfällig den Gedanken der „Sozialpartnerschaft“ ausdrückt, bewährt. Blüm ist ganz angetan von dieser Einrichtung, die auch das Zusammenwirken der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter bei der Selbstverwaltung der Sozialversicherung einschließt:

„In der Selbstverwaltung unserer Sozialversicherung ist noch immer ein hohes Maß von Verantwortung investiert. Die Selbstverwaltung ist eine Schule der Partnerschaft.“ (BT-Debatte, a.a.O.)

An diesem System, das er mit für einen Garanten des „sozialen Friedens“ hält, ließ Blüm nicht rütteln. Biedenkopf, der vorschlug, beim Umbau des Sozialstaates Klarheit zu schaffen und gemäß dem „Prinzip der Eigenverantwortung“ die Arbeitgeber von den lästigen Lohnnebenkosten zu entbinden, schoß darum – seines Erachtens – über das Ziel hinaus. Das heißt nicht, daß der Sozialminister dem Anliegen seines Parteigenossen nicht im Prinzip aufgeschlossen gegenübergestanden hätte. Sein Weg, die Abgabenquote für die Arbeitgeber möglichst niedrig zu halten, sollte aber mit dem bewährten Sozialpartnerschaftsprinzip vereinbar sein. Also setzte er die Quote der zu zahlenden Beiträge auf ein Minimum fest: 1995 1%, 1996 1,7%. Diese Rücksichtnahme auf die Lohnnebenkosten[8] der Arbeitgeber impliziert allerdings einen neuen Umgang mit der Leistungsseite der neuen Sozialversicherung.

Gestaltung der Leistungen nach dem „Deckelungsprinzip“

Dieses von Gesundheitsminister Seehofer zum Zwecke der „Kostendämpfung im Gesundheitswesen“ erfundene Verfahren wird bei der Pflegeversicherung zum Prinzip des Leistungswesens überhaupt. Der Sozialminister formuliert das folgendermaßen:

„Wir begeben uns auch auf Neuland, weil wir zum erstenmal eine einnahmeorientierte Ausgabenpolitik festlegen. Nicht die Beiträge folgen den Ausgaben, sondern die Ausgaben dem festgelegten Beitragssatz.“ (Blüm in der BT-Debatte, a.a.O)

Neuland ist gut gesagt; sein Beschluß lautet: Wegen der Ziele „niedriges Beitragsniveau“ und „Beitragsstabilität“ haben die Leistungen entsprechend niedrig auszufallen.[9] So muß z.B. die Summe der 1%igen Beiträge (1995) für die Abdeckung der gesamten Leistungen im Bereich häuslicher Pflege ausreichen. Das sieht dann folgendermaßen aus: In der „Pflegestufe I“ („Hilfsbedarf mindestens einmal täglich für wenigstens zwei Verrichtungen“) zahlt die Pflegekasse bis zu 750,- DM monatlich an „Sachleistungen“ (z.B. Pflegeeinsätze durch ambulante Dienste) – wobei der Gesetzgeber durchaus weiß, daß „die Entgelte je Pflegeeinsatz bei 30,-DM liegen“ (Begründung des Entwurfs). Der Gesetzgeber erhebt also gar nicht den Anspruch, daß die Pflegekassen die tatsächlichen Pflegekosten abdeckt, der Betroffene soll durchaus zuzahlen:

„Wer sein Leben lang gearbeitet, Steuern und Beiträge gezahlt und eine durchschnittliche Rente erworben hat, ist im Regelfall künftig in der Lage, die Kosten bei Pflegebedürftigkeit selbst zu bestreiten und zwar mit den Leistungen der Pflegeversicherung und einem Teil seiner Rente.“ („sozialpolitische informationen“, a.a.O.)

Eine bessere Verwendung der Rente, als damit den Sozialstaat zu entlasten, kennt Blüm sowieso nicht. Ein beträchtlicher Teil der Pflegefälle wird also nicht umhin können, – falls vorhanden – sein Vermögen zu opfern, seinen Angehörigen auf der Tasche zu liegen und, wenn hier wie da nichts zu holen ist, Sozialhilfe zu beantragen.

Der Sozialminister hat für diese Art des Leistungswesens den Begriff „Grundversorgung“ geprägt. Die Kasse soll ihre Fälle – die entsprechende Eigenbeteiligung natürlich vorausgesetzt – mit dem unbedingt „Nötigsten“ (was dazugehört, ist stets neu definierbar) ausstatten. Letzteres ist auf jeden Fall streng wörtlich zu nehmen; der Gesetzgeber legt nämlich fest:

„Der Hilfebedarf erstreckt sich auf die Bereiche der Körperpflege, der Ernährung, der Mobilität und auf die hauswirtschaftliche Versorgung.“ (a.a.O.)

Verrecken muß der Pflegefall also nicht, hat er jedoch weitere Bedürfnisse, hätte er beizeiten eine private Zusatzversicherung abschließen sollen:

„Die Pflegeversicherung hat nicht zum Ziel, eine ‚Rund-um-Pflege‘ und Betreuung sicherzustellen. Ergänzende private Versorgungsanstrengungen sind wünschenswert und sollen durch das Pflegegesetz gefördert werden.“ (Umfassende Erleichterungen des Lebens sind also weder wünschenswert noch Ziel des Pflegegesetzes.)
„Das Pflegegesetz sieht dazu vor, daß zur Stärkung der freiwilligen Vorsorge für die Geburtsjahrgänge 1958 und jünger ein zusätzlicher Sonderausgabenabzug im Rahmen der Versorgungsaufwendungen in Höhe von 360,-DM pro Person und Jahr für eine freiwillige Zusatz-Versicherung eingeführt wird.“ (a.a.O.)

So räumt der Sozialstaat auch noch dem privaten Versicherungsgeschäft seine Chancen ein; dafür verzichtet er gerne auf ein paar Steuergroschen.

Für denjenigen, der beabsichtigt, künftig ein stationärer Pflegefall zu werden, empfiehlt sich die private Vorsorge ohnehin. Nicht nur, daß die Pflegesätze der Kassen hier gleichermaßen knapp bemessen sind, für die sogenannten „Hotelkosten“ (Kosten für Unterbringung und Verpflegung), die im Schnitt zwischen 2000 und 3000 DM im Monat liegen, kommt die Pflegeversicherung ohnehin nicht auf.

Blüm sieht darin, daß die Pflegekosten durch die Versicherung gar nicht gedeckt werden, nicht etwa eine Schwäche seines Gesetzes, sondern ist stolz darauf, mit leuchtendem Beispiel beim Umbau des Sozialstaats vorangegangen zu sein und einem alten Grundsatz der christlichen Soziallehre neue Aktualität und eine zeitgemäße Anwendungsform verschafft zu haben:

„Die Sozialversicherung verträgt sich auch mit der Idee der Subsidiarität: Sie ist auf private Ergänzung angewiesen.“ (BT-Debatte, a.a.O.)

Versicherungsleistungen, die zur normalen Abdeckung der für den Betroffenen anfallenden Kosten nicht hinreichen, zeichnen also die „Grundversorgung“ – auf die der umgebaute Sozialstaat „abgespeckt“ werden soll – aus. Im Bereich der Pflege sind die Sozialpolitiker sich dabei sicher, daß zur Kompensation der zu geringen staatlichen Hilfe in vielen Fällen private aufgebracht wird. Ein wenig will der Gesetzgeber dabei auch nachhelfen: Um der „vorschnellen Entscheidung“ der Pflegebedürftigen vorzubeugen, sich stationär verwahren zu lassen, hat er sich folgende Bestimmung ausgedacht:

„Der Pflegebedürftige hat in Ausübung des personellen Selbstbestimmungsrechts die freie Wahl zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Wählt ein Pflegebedürftiger jedoch stationäre Pflege, obwohl diese nicht erforderlich ist, dann hat er nur Anspruch auf die Sachleistung, die ihm die häusliche Pflege entsprechend der Stufe der Pflegebedürftigkeit zustünde. Damit ist gewährleistet, daß die Ausübung des Wahlrechts nicht die Solidargemeinschaft belastet.“ („sozialpolitische informationen“, a.a.O.)

Ein verantwortungsbewußter Pflegebedürftiger wird sich also – notgedrungen – dazu frei entschließen, seinen Angehörigen, Nachbarn oder Bekannten zur Last zu fallen.

Pflegeversicherung als Anstoß für eine neue „Kultur des Helfens“

Blüm möchte diese Angelegenheit freilich nicht so profan gesehen haben:

„Trotz der Pflegeversicherung werden auch weiterhin viel Idealismus und Engagement gefordert, damit Menschlichkeit und Freundlichkeit in unserem Sozialstaat Platz haben. Mit Geld allein ist Not nicht zu lindern. Vielleicht ist Einsamkeit eine neue Form von Not; sie läßt sich nicht mit Geld verhindern. Diese Pflegeversicherung soll einen Anschub für eine nachbarschaftliche Sozialpolitik, für eine neue Kultur des Helfens geben. Es bleibt die Familie, die dabei gestützt wird, die Familie als Schule der Solidarität.“ (BT-Debatte, a.a.O.)

Ist erst einmal die Einsamkeit als die neue Not ausgemacht, ist die Verordnung materieller Not eine segensreiche Angelegenheit. Sie ist der heilsame Zwang, daß Solidarität in der Nachbarschaft und der Familie geweckt wird. Das ist natürlich kein Zynismus eines Politikers, der das Programm „Der Staat spart.“ gegenüber den Bedürfnissen der Bürger durchzieht, sondern christlich-sozialer Humanismus.

Allerdings weiß „der Vater der Pflegeversicherung“, daß es nicht nur an der richtigen Einstellung der Bürger hapert, sondern daß es auch ernsthafte materielle Hindernisse gibt, die die Familien- und Nachbarschafts-Solidarität unmöglich machen (s.o.). Blüm hat darum tief in die Tasche gegriffen, so daß sich beim Pflegegeld die höchsten Leistungssteigerungen gegenüber den bisher geltenden Regelungen finden. Eine Pflegeperson kann z.B. künftig bis zu 1300 DM im Monat beziehen – bisher höchstens 400 DM. Freilich muß sie sich dafür einen Pflegefall der Kategorie III an Land ziehen („Schwerstpflegebedürftig = Hilfsbedarf rund um die Uhr“). Die Pflegekasse zahlt ihr dann auch einen kleinen Beitrag in die Rentenversicherung; gegen Unfall versichert wird sie auch. Urlaubsgeld bekommt sie zwar nicht, aber immerhin wird ihre Urlaubsvertretung von der Kasse mitfinanziert. Der Minister für Arbeit und Sozialordnung spekuliert mit diesen finanziellen Anreizen darauf (auch Teilzeitjobs sind möglich in den Pflegestufen I und II bei entsprechend geringerer Bezahlung), daß Verwandte oder Bekannte darin eine Alternative zum Arbeitengehen entdecken. Als Motivation sollten das moralische Pflichtgefühl, die schlechte Lage auf dem Arbeitsmarkt, die drohenden Kosten professioneller Pflege und der damit verbundene Verlust jeglicher Aussichten auf ein bißchen Erbschaft ausreichen. Je mehr das Angebot angenommen wird, desto mehr freut sich die Sozialkasse: Diese Geldleistungen für häusliche Pflege kosten die Kasse nämlich die Hälfte bis ein Drittel dessen, was sie für ambulante Dienste zahlt.

Der Sozialminister, der sich vorgenommen hat, den Anforderungen des Standorts Deutschland und der Devise „Der Staat spart.“ Rechnung zu tragen, verlangt von seinen arbeitenden Bürgern also nicht nur mehr Abgaben an die Sozialkasse, mehr Bescheidenheit bezüglich der eigenen sozialen Ansprüche, sondern auch mehr aufopfernden Einsatz und Dienstbereitschaft für die „Lösung sozialer Probleme“. Darüber hinaus soll der Umbau des Sozialstaats auch ein Beitrag dazu sein, den Kostenfaktor Arbeit den Bedürfnissen der Wirtschaft besser anzupassen.

Die Pflegeversicherung als Vehikel und Anlaß, Lohnkosten zu senken

Die Sache wurde dadurch in Gang gebracht, daß die Sozialpolitiker bei der Pflegeversicherung das entsprechende „Finanzierungsproblem“ aufwarfen:

„Der Wirtschaftsstandort Deutschland verkraftet keine weitere Verteuerung der Arbeitskosten.“ („sozialpolitische informationen“, a.a.O.)

Das ist schon seltsam: Ein zusätzlicher Sozialbeitrag von 1% 1995 und 1,7% 1996 – zur Hälfte von den Arbeitgebern zu entrichten – würde den Wirtschaftsstandort Deutschland ruinieren! Das vertritt Blüm, der zum 1.1.94 die Beiträge zur Rentenversicherung um genau 1,7% erhöht hat und vor zwei Jahren erst eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 2,5% verordnet hat. Genau jetzt soll also der Punkt erreicht sein, wo ein weiteres Prozent die Wirtschaft überfordert?! Es geht also um etwas anderes. Blüm will einen Präzedenzfall dafür schaffen, daß die Unternehmer, wenn sie schon Sozialabgaben zahlen müssen – und von diesem Prinzip wollte Blüm ja nicht abgehen –, dafür auch per Lohnkostensenkung entschädigt werden. Dafür wurde der Begriff „Kompensation“ eingeführt. D.h., die Arbeitnehmer werden für die neue Abteilung in der Sozialversicherung gleich zweimal zur Kasse gebeten: einmal in Form von Beiträgen, das andere Mal in Form von Lohneinbußen. An welcher Stelle das geschehen soll, hat sich der Staat zu entscheiden vorbehalten. Heutzutage gilt derartiges Schröpfen nicht als Zumutung; Blüm kann es sich vielmehr leisten, diese Regelung als Dienst am Arbeitnehmer anzupreisen:

„Unverzichtbar ist im Zusammenhang mit der Einführung einer sozialen Pflegeversicherung eine ausreichende dauerhafte Kompensation der Beitragsbelastungen der Wirtschaft…
Eine ausreichende und dauerhafte Kompensation ist … kein Geschenk in die Privatschatulle der Arbeitgeber, sondern ein wichtiges Element zur Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland.“ (a.a.O.)

Was unter dem Stichwort „Kompensation“ besprochen wurde, war nicht das Bedürfnis, dem einzelnen Unternehmer genau den Betrag, den er an die Sozialversicherung abführen muß, auf andere Weise wieder zugute kommen zu lassen[10] – dann hätte man ja gleich den gesamten Beitrag vom Lohn abziehen können. Es ging um Prinzipielleres: der Sozialstaatsumbau zugunsten des Standorts Deutschland soll dazu genutzt werden, die Arbeitgeber von Lohnkosten zu entlasten.

Dieses Ziel erst einmal vorgegeben, wurden alle Sozialpolitiker, die einschlägigen Verbände und insgesamt die Öffentlichkeit sehr erfinderisch; lauter „Tabus“ wurden gebrochen. Die Vorschläge zu Lohnkosteneinsparungen reichten von der Einführung von Karenztagen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall über die Streichung von Urlaubstagen und/oder Urlaubsgeld, längere Arbeitszeiten, Wegfall von Überstundenzuschlägen bis zur Streichung von Feiertagen bzw. prozentualen Lohneinbußen je Feiertag. Müßig war der Streit schon deswegen nicht, weil sämtliche Vorschläge vorhandene Möglichkeiten von Lohnsenkung aufzeigten und bisher übliche soziale Standards in Frage stellten. Die Projekte wurden somit auch nicht wertlos, selbst wenn sie als Kompensation für die Pflegebeiträge erst einmal abgelehnt wurden. Nützlich war der Streit auch darin, daß er die Einigkeit sämtlicher Disputanten in der entscheidenden Frage bewies: Daß für die Unternehmen am Standort Deutschland die Soziallasten eigentlich unzumutbar sind und höchstens dann verkraftbar erscheinen, wenn die Lohnkosten sinken.

Der Streit um die Pflegeversicherung als Wertedebatte

Diesen Standpunkt teilt auch die Arbeitnehmervertretung, wenn sie auch darüber mosert, daß die Arbeitnehmer allein die Soziallasten tragen müssen. Für die Senkung der Lohnnebenkosten hat sie aber durchaus auch etwas übrig, zumal wenn das Argument lautet, daß dadurch die Arbeitsplätze sicherer werden – wie auch immer das zusammenhängen soll.

Auf die Barrikaden geht der DGB allerdings, wenn in seine Rechte eingegriffen wird. In der Frage der Karenztage verteidigte er unerbittlich die Tarifautonomie und drohte mit dem Gang vors Verfassungsgericht. Im übrigen kann er es gar nicht leiden, wenn man den deutschen Arbeitern nachsagt, sie würden zu viel blaumachen. Für Pflichterfüllung sind die Gewerkschaften allemal, deswegen lassen sie ihren Mitgliedern auch nicht übel nachreden.

Bei der Feiertagslösung zur Kompensation des Arbeitgeberanteils gab es gleich mehrere Vereine und Personen, die darum kämpften, daß die Werte, für die sie stehen, in dieser Gesellschaft nach wie vor hochgehalten werden: Die Gewerkschaften verteidigten den 1. Mai, schließlich ist er das Symbol für die Ehre der Arbeitnehmer und die anerkannte Rolle der Arbeitervertretung in unserem Gemeinwesen. Die Kirchen wollten ihre kirchlichen Feste nicht opfern und verteidigten ihre Ehre mit dem Argument, sie würden ohnehin schon am meisten für die Pflegebedürftigen tun.

Als perfide mußten der Kanzler und die CDU den Vorschlag ansehen, den 3. Oktober auf den 1. Sonntag im Oktober zu verlegen, auch wenn er noch so faschistisch begründet wurde:

„Eine ‚neue soziale Idee‘, an einem nationalen Feiertag zugunsten der Pflegeversicherung zu arbeiten“ (Sozialminister Glück, CSU, SZ 16./17.4.94)

Jeder weiß, daß die Wiedervereinigung eine geschichtliche Glanztat Kohls war und die „deutsche Einheit“ ganz oben auf der nationalen Werteskala rangiert.

Mit der Debatte um die gerechteste Kompensationslösung war es endgültig geschafft, alle möglichen disparaten Gesichtspunkte und Maßstäbe durcheinander zu mischen: Die Zwecke des Sozialstaats, die Fragen der sozialen Zumutbarkeit, Aspekte der sozialen und politischen Moral, die Fragen der Lohngerechtigkeit, die Ansprüche auf Anerkennung gesellschaftlicher Gruppen und Interessen, die Achtung vor religiösen und nationalen Gefühlen…

Damit taugte auch

Das Thema Pflegeversicherung als Gegenstand des Wahlkampfs

Jede Partei und jeder Politiker konnten an diesen Fragen die eigene politische Glaubwürdigkeit vorführen; und davon machten sie auch reichlich Gebrauch. Blüm präsentierte sich als der Sozialminister, der keine Angst hat, sich – wenn es sein muß – mit den berufenen Arbeitervertretern anzulegen, weil er weiß, was der kleine Mann wirklich braucht und will: „Wir müssen gegen den Egoismus der Tarifparteien vorgehen, die Pflegebedürftigen haben keine Lobby.“ Die bayerische SPD-Landeschefin Renate Schmidt greift die Weigerung Stoibers, einen Feiertag zu streichen, als Skandal auf: „In Bayern sollen die Arbeitnehmer – im Unterschied zu allen anderen Bundesländern – die gesamten Beiträge für die Pflegeversicherung zahlen.“ Das sei doch eine „Schnapsidee“ (SZ 17.3.94), die wunderbare Wahlkampfmunition für die SPD liefere (weil die bekanntlich mit dem Markenzeichen wirbt: mit einem Feiertag mehr Arbeit für die Interessen der kleinen Leute). FDP-Graf Lambsdorff bringt es sogar zu wahren Sätzen, nur weil er die Sozialversicherungs-Lösung als nicht marktwirtschaftlich (sein Markenzeichen) empfindet:

„Lambsdorff wiederholte, die Pflegeversicherung werde im Gegensatz zu vielen öffentlichen Behauptungen den älteren Menschen nicht helfen. Sie bringe keinem Pflegeheim auch nur eine Mark. Entlastet würden nur die Kommunen, und das sei ‚Sinn der Veranstaltung‘.“ (SZ 17.3.94)

Für die FDP-Fraktion, die ja dann doch mehrheitlich dem Pflegekompromiß zugestimmt hat, faßte Frau Babel die Leistung ihrer Partei zusammen:

„Wir Liberalen verbuchen es als Erfolg und unser Verdienst, daß es erstmals in der Geschichte des Sozialstaates Deutschland gelungen ist, überhaupt das Bewußtsein geweckt zu haben, daß heute sozialer Fortschritt nicht im Draufsatteln, sondern im Umschichten bestehen muß.“ (BT-Debatte, a.a.O.)

Genauso erfolgreich waren aber auch die Sozialdemokraten:

„Unsere Standfestigkeit für die Pflegebedürftigen hat sich gelohnt. Gleichwohl haben wir in den langen Verhandlungen das Fenster der Verwundbarkeit unseres Sozialstaates nichts ganz schließen können. Dieses Fenster vollends zu schließen, ist Sache eines nächsten Bundestages.“ (a.a.O.)

Die Partei Bündnis 90/Grüne befand sich in der Sonderrolle, an dem Pflegekompromiß nicht beteiligt gewesen zu sein. Darum stellte sie sich – angesichts der Lobeshymnen auf die gelungene Fortentwicklung des Sozialstaates durch die Altparteien – sehr kritisch zum vorliegenden Ergebnis. Dabei interessierte sie weniger der Inhalt der Gesetzesbestimmungen als die Frage, wie denn die Würde der Pflegebedürftigen abgeschnitten hat und was das für die Glaubwürdigkeit der debattierenden Politiker bedeutet:

„Ich finde es beschämend, wie in der Pflegedebatte mit dem Ehrgefühl und der Würde alter und behinderter Menschen umgegangen wurde. Ich habe die Sorge, daß durch den Kostenpoker die soziale Verantwortung und das Verständnis für Pflegebedürftige in unserer Gesellschaft nicht gewachsen, sondern geschwunden ist. Wir haben zu sehr die Menschen, um die es uns geht, aus den Augen verloren.“ (Weiß, Bündnis 90/Die Grünen, a.a.O.)

Die so angegriffenen Kollegen fühlten sich freilich keineswegs blamiert. Im Gegenteil – auf der Ebene „politische Glaubwürdigkeit“, „Ansehen des Parlaments“ geradezu in ihrem Element – gaben sie sofort zurück:

„Es wurde uns vorgeworfen, wir hätten ein Gezerre veranstaltet. Ich glaube, daß diejenigen, die mit diesem Begriff in den letzten Jahren leichtfertig Inflation betrieben haben, übersehen haben, daß es um das Ringen unterschiedlicher politischer Standpunkte für einen Kompromiß und für eine gesellschaftliche Fortentwicklung gegangen ist.“ (Dreßler, a.a.O.)

Wer statt „Ringen um Lösungen“ „Gezerre“ zum Parteienstreit sagt, entlarvt sich selbst. Will so einer doch nur die harte Sacharbeit des Parlaments in den Schmutz ziehen. Letztlich schürt er damit nur die Politikverdrossenheit, die ein ehrenwerter Parlamentarier zu bekämpfen hat.

Unterm Strich ist auf alle Fälle Zufriedenheit angesagt:

„Ich glaube, daß es ein Erfolg für die Demokratie ist, daß die klassischen Parteien gezeigt haben, daß sie über alle Unterschiedlichkeiten hinweg in der Lage sind, die Gemeinsamkeiten zu erkennen und notwendige Lösungen gemeinsam zu beschließen. Das ist es, was diese klassischen Parteien vereint. Nur dadurch können eine Stärkung der Demokratie und eine Stärkung unseres erfolgreichen Systems der repräsentativen Demokratie gelingen.“ (FDP-Solms, a.a.O.)

Es sollte sich also niemand beschweren: Das Gesetz über die Pflegeversicherung ist ein Erfolg, weil die klassischen Parteien hier eindrucksvoll bewiesen haben, daß sie in der Lage sind zu regieren.

[1] So selbstverständlich finden Demokraten das nicht. Darum fehlt nie der Hinweis, daß dieses Recht eine Gnade des Staates ist. Der einschlägige „Ratgeber“ zum Pflegerecht beginnt z.B.: „Je älter das Leben wird, je mehr es verfällt, um so mehr bedarf es des Beistandes, und zwar auch des Beistands des Rechts. Um dies zu belegen, muß man nicht die Geschichte des Alters bemühen, aus der wir wissen, daß in manchen Gegenden Europas, in denen die bäuerliche Drei-Generationen-Familie vorherrschte, das hochgiftige Arsen Altenteil-Pulver hieß.“ (Beck-Rechtsberater, Alt – krank – behindert) Andere Einführungsbücher verweisen auf das Euthanasie-Programm der Nazis, um die Demokratie als besonders humanes Staatswesen herauszustreichen. Der so aufgemachte Vergleich stellt auf jeden Fall klar, an welchem Maßstab der demokratische Umgang mit Alten und Behinderten sich messen lassen will: Er läßt sie leben.

[2] „Rund 90 v.H. der lebenden pflegebedürftigen Menschen werden von Familienangehörigen versorgt. Damit ist die Familie nach wie vor der ‚größte Pflegedienst der Nation‘. Die Pflege durch die Familie wird aber durch folgende Entwicklungen zunehmend gefährdet: – Immer weniger Menschen der älteren Generation haben Nachkommen im mittleren Lebensalter, die die Pflege der Eltern übernehmen können. – Die hohe Lebenserwartung der älteren Menschen in Kombination mit einer geringen Kinderzahl führt häufig dazu, daß eine Pflegeperson die eigenen Eltern oder die des Ehepartners nacheinander oder gleichzeitig pflegen muß. – Immer mehr alte Menschen leben nach dem Tode des Ehegatten oder wegen Ehelosigkeit oder Scheidung allein… – Berufstätigkeit und gleichzeitige Pflege von Angehörigen führen auf Dauer zu einer kaum tragbaren Belastung der Frauen. – Der Arbeitsmarkt verlangt eine hohe Mobilität der Arbeitnehmer. Mögliche Pflegepersonen aus dem Kreis der Familie leben deshalb häufig räumlich getrennt von ihren pflegebedürftigen Angehörigen und fallen für die Pflege ganz aus. – Viele Wohnungen sind für die Versorgung Pflegebedürftiger nicht geeignet. Entweder steht für die Pflege eines alten Menschen kein geeigneter Raum zur Verfügung, die Miete geeigneter Räume ist wegen der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt zu teuer oder die vorhandenen Räume… lassen sich nicht pflegegerecht umbauen.“ (Begründung zum Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vom 24.6.93, BT-Drucksache 12/5262) Siehe zu diesen Argumenten auch den Artikel „Die Rolle der Demographie“ in diesem Heft.

[3] Der Pflegebedürftige selbst ist bei lebensnotwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens auf fremde Hilfe angewiesen. Wenn seine Angehörigen diese Hilfeleistungen ganz oder teilweise erbringen, verlangt dies von ihnen erhebliche persönliche Opfer, auch in finanzieller Hinsicht. Häufig müssen die Pflegepersonen wegen des zeitlichen Aufwandes für Pflege eine Erwerbstätigkeit einschränken oder aufgeben. Damit erleiden sie auch Einbußen bei ihrer sozialen Absicherung, nicht zuletzt in ihrer Alterssicherung. (a.a.O.)

[4] Vgl. „Der Staat spart“ an seinen Bürgern, in: Vom Zweck eines „Solidarpakts“, GegenStandpunkt 4-92, S.91

[5] Die Form der privaten Versicherung zur Abdeckung des „Pflegerisikos“ haben neben der FDP der Sachverständigenrat und die Arbeitgeber vorgeschlagen, um die Steigerung der Lohnnebenkosten zu verhindern. (Diesem Interesse hat Blüm in anderer Weise Rechnung getragen – dazu später.) Dabei ist interessant, wie die Befürworter der Privatversicherungs-Lösung für ihren Vorschlag argumentieren. Sie behaupten, es sei die billigste Lösung: Eine „Versicherung nach dem Kapitaldeckungsprinzip“, „in die jeder, der heute in das Berufsleben eintrete, aufgenommen werden solle“, könnte folgendermaßen finanziert werden: „Ein monatlicher Betrag von rd. 20 DM würde versicherungstechnisch voll ausreichen. Das Problem der Bestandsfälle müsse so oder so gelöst werden, hier müsse der Steuerzahler eintreten.“ (Murmann, HB 31.3.94) Es mag schon sein, daß eine private Versicherung billiger zu haben ist. Nur will ja Blüm die Pflegekosten möglichst ganz los sein und das geht nur in der Form der Sozialversicherung. Das Problem der Bestandsfälle muß dann auch keineswegs der Steuerzahler tragen.

[6] Den Versicherungszwang hält der Staat schon deswegen für nötig, weil er weiß, wie schwer es den Leuten mit entsprechend niedrigen Einkommen fiele, auf entsprechend große Lohnteile zugunsten von Versicherungen zu verzichten. Da Lohnabhängige meist mit ihrem Lohn mehr schlecht als recht über die Runden kommen, kassiert er gleich an der Quelle, so daß der „nominal verdiente Lohn“ einem Arbeitnehmer nur noch vom Lohnstreifen her bekannt ist. Bei hohen Einkommen überläßt es der Staat den Bürgern, entweder freiwillig der Sozialversicherung beizutreten oder gleich die Form der privaten Versicherung mit dem attraktiveren Preis-/Leistungsverhältnis zu wählen.

[7] Bei der Pflegeversicherung müssen außerdem die Rentner einzahlen (die Hälfte geht von der Rente selbst ab, die andere Hälfte zahlt die Rentenversicherung). Ferner wird aus der Kasse der Arbeitslosenversicherung ein entsprechender Beitrag für die Arbeitslosen abgezweigt. So werden die Lohnbezieher über die Beiträge zu diesen beiden Sozialversicherungen noch einmal indirekt für die Pflegeversicherung zur Kasse gebeten.

[8] Auf die Kompensation des Arbeitgeberanteils wird weiter unten eingegangen.

[9] Nach dem Gesetz bleibt es den Verhandlungen der Kassen mit den Versorgungsträgern überlassen zu entscheiden, welche Leistungen sie anzubieten haben. Dabei müssen 3 Kriterien unter einen Hut gebracht werden: Das Versorgungsgeschäft muß sich rentieren (bei öffentlichen Einrichtungen zumindest tragen), eine Mindestversorgung sichergestellt sein (wobei das eine relative Sache ist); vor allem aber ist Beitragsstabilität zu gewährleisten: Die Pflegekassen erhalten den Auftrag, durch Versorgungsverträge und Vergütungsvereinbarungen mit Pflegeheimen, Sozialstationen und ambulanten Pflegediensten die pflegerische Versorgung der Versicherten zu gewährleisten (Sicherstellungsauftrag) … In allen Leistungsbereichen ist der Grundsatz der Beitragsstabilität zu beachten. Vereinbarungen über die Höhe der Vergütung, die diesem Grundsatz widersprechen, sind unwirksam. („sozialpolitische informationen“, 23.3.94, Hrsg.BuMi für Arbeit und Sozialordnung)

[10] Den Arbeitgebern ist jede vorgeschlagene Lohnkostensenkung noch viel zu wenig. Sie haben überhaupt kein Verständnis dafür, daß die „Lohnnebenkosten“ nicht prinzipiell zur Debatte gestellt werden. Darum decken sie am Blümschen „Kompensationsmodell“ auf: „Eine Kompensation durch Verzicht auf Feiertage kann nur Unternehmen gelingen, die … die Produktionsreserve eines Feiertages tatsächlich brauchen können… Mit solchen Mehrwerteffekten kann man nicht kalkulieren.(Murmann, a.a.O.)