Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Erste Runde der NATO-Osterweiterung
Die Allianz feiert den Zuerwerb von Gelände und Bürgern in Uniform

Die Nato vergrößert ihre Macht über Land und Leute um drei ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten – und für die hat sich „ein Traum erfüllt“. So sind sie uns recht die Ostler, denn die Nato hat schließlich ein anspruchsvolles Programm. Da ist mehr Kanonenfutter samt Kanonen nur recht.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Erste Runde der NATO-Osterweiterung
Die Allianz feiert den Zuerwerb von Gelände und Bürgern in Uniform

Fast zehn Jahre nach dem Fall der Mauer ist es endlich soweit: Die Außenminister der Polen, Tschechen und Ungarn dürfen der Eisernen Madame Albright (USA) feierlich die unterschriebenen Beitrittsdokumente überreichen. Und die hiesige, gewohnt kritische Öffentlichkeit teilt ihrem Publikum in Wort und Bild mit, daß die drei sich wie Honigkuchenpferde gefreut haben. Für sie habe sich „ein Traum erfüllt“, der Traum, frei zu sein und sich der errungenen Freiheit sicher zu fühlen – durch die Aufnahme in das gewaltige Kriegsbündnis der westlichen Siegermächte des Kalten Krieges.

Das heißt: genauer gesagt, haben wir ihnen diesen Traum erfüllt. Wir haben unseren exklusiven Club für diese Völker geöffnet trotz ihrer „offenkundigen Defizite“ in Sachen demokratischer Kultur und Marktwirtschaft. Denn erstens gehören wir nun einmal zusammen, „Mitteleuropäer“, die sie genau wie wir sind, schon ewig durch die „Werte des christlichen Abendlandes“ unwiderruflich vereint, auch wenn Adolf Hitler das einst falsch verstanden hat. Und zweitens haben sie es sich redlich verdient, daß wir sie belohnen. Dafür, daß sie 40 Jahre unschuldig in einem „kommunistischen Völkergefängnis“ saßen; dafür, daß wir ihnen leider nicht helfen konnten, obwohl sie doch stellvertretend für uns alle das falsche System bekämpft haben; kurz: dafür, daß sie als Betroffene die authentischen Zeugen und lebendigen Berufungsinstanzen für die Kriegserklärung der NATO nach Osten waren – dafür holen wir sie jetzt heim.

Richtige Gründe für die Osterweiterung der NATO gibt es im übrigen auch. Die liegen im strategischen Gewinn, den die drei neuen Mitglieder für das Bündnis darstellen. Es verfügt

  • erstens über mehr Raum. Daß feindliche russische Panzerarmeen xmal 100 Kilometer zusätzlich zurückzulegen haben, um im Fulda-Gap die Freiheit des Westens zu ermorden, ist zwar längst nicht mehr so wichtig wie zu den Zeiten, als die BRD noch Frontstaat gegen das realsozialistische „Reich des Bösen“ und die NATO allen Ernstes verkündet hat, täglich einen solchen Überfall verhindern zu müssen. Denn mittlerweile findet nach Osten hin bekanntlich bloß noch „Partnerschaft für den Frieden“ statt. Frieden ist aber, wer wüßte das besser als die NATO, ein schwieriges Geschäft; er verlangt zu seiner Sicherung Abschreckung und diese eine immer wache Kriegsbereitschaft, von der Fähigkeit zur überlegenen Kriegsführung ganz zu schweigen. Oder anders gesagt: Frieden ist nur, wenn das westliche Kriegsbündnis ihn produziert. Und dafür ist es nicht bloß gut, sondern notwendig, daß es selber stark und unangreifbar ist und alle möglichen Friedensstörer schwach sind und in leicht zu erledigende Einheiten zerlegt werden. Von diesen potentiellen Friedensstörern steht fest, daß sie jedenfalls nicht im Westen Europas angesiedelt sind – da steht ja schon die NATO. Weil sie sich also im Osten befinden, man nennt ja keine Namen und hat das auch bei den antirussischen Neu-Mitgliedern nicht so gern, ist „strategische Tiefe“ nach Osten hin auf alle Fälle ein Gewinn für die Sicherheit der eigenen friedenssichernden Abschreckung. Denn allen im Osten, die eventuell einmal abgeschreckt werden müssen, geht mit der Erweiterung der NATO ein Großteil der „strategischen Tiefe“ verloren, an der zum letzten Mal selbst Hitlers Blitzkrieger gescheitert sind. Insofern also ein doppeltes Plus für den NATO-Frieden. Und nicht bloß den Russen, sondern auch allen andern Osteuropäern mit ihren unstabilen Krisenstaaten rückt die NATO-Macht rein räumlich ganz nahe. So nahe, daß sie sich jeden anderen strategischen Stellenwert als den eines NATO-Vorfelds und jede andere nationale Option als die auf Fügsamkeit gegenüber dem Westen abschminken können – sofern sie überhaupt in ihrem Elend auf den völlig abartigen, friedensstörenden und unruhestiftenden Einfall verfallen sollten, es einmal mit einer Alternative zu versuchen. Mit der Aufnahme dieser Staaten in seine feine Kriegsallianz braucht der Westen sich da gar nicht zu belasten: Mit der Erweiterung um die drei Neuerwerbungen Polen, Tschechien und Ungarn – weitere eventuell noch stattfindende Aufnahmen dienen bestenfalls der Frontbegradigung – hat die NATO Europa in der Hand; mindestens bis zur einstigen sowjetischen Grenze. Von wirklich neuer strategischer Bedeutung wäre die gnädige Bereitschaft, dem Drang der baltischen Staaten entgegenzukommen und die westliche Friedensindustrie auch noch am Ostrand der Ostsee auf ehemaligem SU-Gelände zu stationieren – doch davon ist in der momentanen Erweiterungsrunde noch keine Rede. Man kann sich daran nur sehr schön klarmachen, inwiefern die Geographie nicht bloß eine, sondern eine entscheidende strategische Größe ist. Das ist also die Hauptsache. Daneben verfügt die NATO aber immerhin
  • zweitens auch über mehr militärische Ressourcen Das Material der drei Ex-Ostblockstaaten kann man zwar vergessen; die Waffen, vor denen sich die NATO bis neulich noch so sehr gefürchtet haben will, daß sie zu taktischen Atombomben Zuflucht nahm, sind nach einhelliger Expertenmeinung nichts wert. Williges, lernfähiges, einsatzbereites Menschenmaterial steht jedoch bereit für den Beruf NATO-Soldat – angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt der drei neuen NATO-Länder sogar mehr als genug. Und das ist von Vorteil für eine Kriegsallianz, die mit ihrem Produkt Frieden im Grunde die ganze Welt, jedenfalls absehbarerweise ein gutes Stück davon versorgen will. Und was die Ausrüstung betrifft, so freuen sich die erfolgreich eingeführten Hoflieferanten der Allianz schon schwer auf, konkurrieren um und mißgönnen einander die in Aussicht stehenden Geschäfte, für die den Polen, Tschechen und Ungarn einstweilen zwar noch das Geld fehlt. Ein Problem damit, daß mit diesem gewaltigen Schritt in die Freiheit ein Gutteil ihres mangelhaften Sozialprodukts als Beitrag für die Kriegsmaschinerie der NATO fest verbucht ist, haben die Staatenlenker dort allerdings nicht. Als NATO-Mitglieder haben sie bei Rüstungsfirmen allemal Kredit; irgendwo – und sei es zu Lasten anderer nationaler Entwicklungsposten – werden die Beitrittsländer dann schon die nötigen materiellen Ressourcen haben, um für den Kredit einstehen zu können.

Also sind sie willkommen. Außenministerin Madeleine Albright begrüßt sie mit einem herzhaften „Hallelujah“ im Club der freiheitlichen Friedensstifter. Die abschreckende Kriegsdrohung, die der Westen über die Staatenwelt verhängt, hat drei Paten mehr.