Vom UNO-Mandat zum NATO-Krieg in Bosnien
Konkurrierende Imperialisten einigen sich auf eine Gemeinschaftstat

Die Aufsichtsnationen über Bosnien verlangen unter dem Titel des UNO-Mandats unbedingten Respekt von den Kriegsparteien. Die beschlossene schnelle Eingreiftruppe richtet sich gegen die serbische Seite, darüber fühlt sich die kroatische Armee zum Blitzkrieg in der Krajina berechtigt. Mit konkurrierenden Friedensplänen und Aufsichtsansprüchen betreuen die Nato-Mächte gegeneinander einen Bürgerkrieg, dessen Parteien gegenüber sie zugleich die Unwidersprechlichkeit ihrer Macht vorführen

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Vom UNO-Mandat zum NATO-Krieg in Bosnien
Konkurrierende Imperialisten einigen sich auf eine Gemeinschaftstat

Mit ihren „Bomben für den Frieden“ (ZDF am 30.8.) haben die in der NATO verbündeten Kontrollmächte des post-jugoslawischen Staatsgründungskriegs klargestellt, wie sie ihren selbsterteilten Auftrag verstehen, die Serben zu stoppen. Über der eindrucksvollen Entfaltung militärischer Gewalt sollte allerdings nicht vergessen werden, über welche letzte Stationen sie sich zu dieser Lesart ihrer imperialistischen Aufsichtspflicht hingearbeitet haben. Der politische Sinn und Zweck dieses neuesten militärischen Auftritts wird dann auch besser kenntlich.

1. Akt: ‚Die Blamage des UNO-Mandats verhindern!‘

Unter diesem Motto steht die von Frankreich und Großbritannien beinahe ultimativ durchgesetzte Entscheidung der Londoner NATO-Konferenz im Juli dieses Jahres, den UNO-Truppen in Bosnien eine schwerer bewaffnete britisch-französische ‚Schnelle Eingreiftruppe‘ an die Seite zu stellen, die, gegebenenfalls unterstützt durch NATO-Luftschläge – allerdings ohne die von Frankreich gewünschte Hilfe amerikanischer Kampfhubschrauber –, auf Anforderung des französischen UNO-Kommandanten für Ex-Jugoslawien, also ohne Behinderung durch höhere UNO-Stellen, die Armee der bosnischen Serben zur Zurückhaltung von weiteren Aktionen zwingen soll.

Militärisch ist dieser Beschluß, der zielstrebig in die Tat umgesetzt wird, also eindeutig gegen die serbische Seite gerichtet. Deren Armee hat kurz zuvor die Offensive der bosnischen Regierungstruppen gegen die Belagerung verschiedener, von der UNO zu „Schutzzonen“ erklärter Exklaven auf bosnisch-serbischem Gebiet einschließlich Sarajewos zurückgeschlagen, mit der Einnahme von Zepa und Srebrenica beantwortet – und ist damit einmal mehr endgültig zu weit gegangen. Zu weit, was die Zahl der Opfer betrifft – aber dieses Kriterium spielt in einem Krieg ohnehin nur insoweit eine Rolle, wie die Leichen in die Stoßrichtung der Kriegspropaganda hineinpassen, und das ist in Bosnien schon gleich nicht anders. Zu weit, gemessen am bosnischen Staatswillen, der sich mit weniger als den alten jugoslawischen Provinzgrenzen um keinen Preis zufriedengeben will – aber auch dieser Standpunkt ist nicht der maßgebliche; weder lautet das UNO-Mandat auf Durchsetzung des bosnischen Staatsgründungsprogramms, noch sind die westeuropäischen Großmächte auch nur im geringsten darauf aus, Izetbegovics Krieg zu führen. Eher schon geht es um das Recht, das „die Völkergemeinschaft“ dessen Gründungsprojekt zuerkannt hat; aber auch dessen kriegerische Durchsetzung ist weder UNO-Mandat noch NATO-Kampfauftrag. Der UNO-Auftrag geht vielmehr vom unerbittlichen Kampf der völkischen Parteien um diesen formell ins Recht gesetzten Staatswillen und von der Unentschiedenheit dieses Kampfes aus und lautet auf Sicherung dieses „Schwebezustands“ – mit dem Ziel, die Kriegsparteien zur freiwilligen Unterwerfung unter das Diktat der auswärtigen Ordnungsmächte zu bringen, was vornehm „Verhandlungslösung“ heißt. Gegen diese Vorgabe, den Krieg unentschieden zu lassen, haben die Serben immer wieder einmal verstoßen, sich dann auch wieder daran gehalten; aber selbst in Zepa und Srebrenica ist das nicht eigentlich der Gesichtspunkt, unter dem sie zu weit gegangen sind. Das Kriterium dafür ist noch eine Stufe höher angesiedelt, und die laut propagierte Sorge um eine Blamage des UNO-Mandats drückt das auch ganz sachgerecht aus: Die Mächte, die sich für das UNO-Mandat stark machen – nachdem sie es sich zuvor ja eigens als anerkannten Rechtstitel für ihren Auftritt vor Ort als blau behelmte Ordnungsinstanz beschafft haben –, verlangen von den Kriegsparteien bedingungslosen Respekt, auch ohne sie vorher besiegt zu haben. Sie verlangen diesen Respekt von allen, den größten freilich von der Seite, die den wenigsten Grund dazu hat, weil sie die relativ stärkste und erfolgreichste ist, in dem Fall also von der serbischen. Verlangt ist dieser Respekt formell für das UNO-Mandat, aber nur dem – allgemein durchschauten – diplomatischen Schein nach vor der „Völkerfamilie“, in Wahrheit vor den Nationen, die sich unter dem UNO-Mandat für ihr Recht auf Grenzziehung anderswo engagieren und die über den Respekt, den sie sich verschaffen, zu der maßgeblichen Macht avancieren wollen, die allen anderen UNO-Mitgliedern die Linie vorgibt. In diesem Anspruch finden sich Frankreich und Großbritannien durch das serbische Vorgehen herausgefordert.

Daß sie sich entschließen, ihn militärisch gegen die Serben zu verteidigen, ist aber nur ein Aspekt der Londoner Konferenz und keineswegs der ganze Sinn und Zweck der Schnellen Eingreiftruppe. Wenn es nämlich um die Respektierung gewisser Nationen als Ordnungsmächte geht, dann ist deren militärisches Engagement gegen widerspenstige Eingeborene politisch etwas viel Bedeutenderes: eine Waffe im Konkurrenzkampf verschiedener ambitionierter Friedensstifter um das Recht der letzten Entscheidung. Der politische Kontrahent im Kampf gegen die Blamage des britisch-französischen UNO-Mandats sitzt also gar nicht in Pale oder Belgrad; er sitzt hauptsächlich in Washington. Dort arbeitet der US-Kongreß nämlich schon seit längerem an einer viel gründlicheren „Blamage“ des UNO-Einsatzes, als die serbischen Kämpfer sie zuwege bringen könnten: Die gesamte Konstruktion – blau behelmte anglo-französische Intervention in einen Krieg, um dessen gesicherte Unentschiedenheit zur Basis für seine Entscheidung von außen zu machen – wird da als untauglich verworfen, stattdessen als einzig angemessene „Lösung“ die gewaltsame Entscheidung zugunsten der von außen ins Recht gesetzten bosnischen Regierung verlangt und deren Ausstattung mit den zum Sieg nötigen Mitteln vorbereitet.

Mit dieser radikalen Alternative zur einschränkenden Betreuung des Kriegsgeschehens kalkuliert die bosnische Regierung schon seit langem. Speziell ihren – alsbald mißglückten – Befreiungsschlag gegen die serbischen Belagerer von Sarajewo, Bihac und anderen Exklaven hat sie in der Berechnung unternommen, auch durch eine Niederlage nur gewinnen zu können, nämlich das lange geforderte Mandat sowie amerikanische Mittel zu einer auf Entscheidung angelegten Eskalation des Krieges. Diese Alternative, die den Ordnungsanspruch der beiden westlichen EU-Mächte entkräften würde, soll die Schnelle Eingreiftruppe verhindern, indem sie die Serben militärisch stoppt. Politisch soll sie also Frankreichs und Großbritanniens Führungsanspruch im Balkankrieg gegen einen ganz neuen Zugriff der USA auf die maßgebliche Rolle verteidigen.

Die Serben lassen sich sogar bremsen. Gerettet ist das UNO-Mandat damit aber nicht: Gleich nebenan wird es ziemlich gründlich ausgehebelt.

2. Akt: ‚Die Krajina befreien!‘

Die Schnelle Eingreiftruppe der Briten und Franzosen wird politisch durch den Blitzkrieg der kroatischen Armee überholt. Die unterwirft nämlich, nach ihrer Generalprobe im Frühjahr in Westslawonien, innerhalb weniger Augusttage die ohne Lizenz selbsternannte serbische Republik Krajina dem von außen zuerkannten Selbstbestimmungsrecht des kroatischen Volkes. Bis auf einen kleinen Rest im Osten füllt die Staatsmacht des Feldherrn und Präsidenten Tudjman nunmehr effektiv die Grenzen aus, die das kommunistische Jugoslawien seinem Landesteil Kroatien gezogen hatte und die „internationale Gemeinschaft“ als diejenigen einer souveränen kroatischen Nation anerkannt hat. Zugleich wird sie bis auf Restbestände den Volksteil los, den sie an den Schriftzeichen, der Religion und anderen unveränderlichen Kennzeichen als nicht genuin ihr zugehörig erkannt und deswegen für die Rolle der ethnischen Minderheit vorgesehen hatte. Mit Gewalt, wie auch sonst, kann die völkische Staatsgründung insoweit beendet werden.[1]

Eine Blamage der UNO, die immerhin 30000 Mann zur Überwachung der Waffenstillstandslinien zwischen Kroaten und Serben abgestellt hatte, liegt nicht vor: Es gibt keine auswärtige Macht, die durch den kroatischen Blitzkrieg ihren oberhoheitlichen Ordnungsanspruch über das Land blamiert sähe – und deswegen auch weiter keine Empörung, als der UNO-Generalsekretär, erleichtert mit Blick auf die Finanzen seines Clubs, die Mission in Kroatien mangels Schutzobjekten für weitgehend beendet erklärt. Im Gegenteil: Unter den mitfühlenden Moralisten breitet sich Genugtuung aus. Denn die für Kroatien Zuständigkeit beanspruchenden Ordnungsmächte Deutschland und USA sind und erklären sich zufrieden mit einer Aktion, zu der sie ihren Verbündeten in Zagreb ermächtigt haben, angefangen bei der Ausstattung des Landes mit einer respektablen Staatsmacht,[2] für die sie „grünes Licht“ gegeben haben und die sie politisch absichern, wohl auch gegen naheliegende Widerstände aus Rest-Jugoslawien.

Klargestellt ist damit, was ein Staat in Gründung von einer Patronage durch diese beiden Schutzmächte hat, nämlich Mandat und Mittel für die unumgängliche gewaltsame Entscheidung über seinen Machtbereich. Und genau darin liegt die weiterreichende politische Bedeutung des kroatischen Säuberungsfeldzugs. Denn hier führen die USA – und an ihrer Seite die Deutschen – konsequent durch, was im Fall Bosnien einstweilen bloß Plan und Drohung des US-Kongresses ist, und setzen der von der UNO lizenzierten Ordnungspolitik der Kriegsbeschränkung, die die Sache mangels gewalttätiger Entscheidung natürlich in die Länge zieht, die Alternative der auf Entscheidung angelegten Kriegsausweitung entgegen – ohne Garantie übrigens, daß die Sache damit vorbei ist; aber darauf kommt es so sehr auch gar nicht an. Entscheidend ist die Demonstration, wie – wenn es schon darum gehen soll – die Serben wirklich effektiv zu stoppen sind: eben durch Waffen und Mandat für einen erfolgreichen Krieg an die von außen ins Recht gesetzte Regierungsmannschaft und nicht durch ein unparteiisches Überwachungswesen, für dessen Wirksamkeit die überwachenden Mächte am Ende sogar immer mehr eigene Truppen abstellen müssen, ohne daß sie doch für irgendeinen der Kriegsgegner dessen Krieg erledigen wollen. Für Bosnien sind damit – neben ein paar neuen strategischen Fakten, etwa die Region Bihac betreffend oder die Not der bosnischen Serben, enorme Flüchtlingsströme durch die Fronten zu schleusen – neue Maßstäbe gesetzt: Was in Kroatien so gut gelungen ist, das will selbstverständlich als Präzedenzfall begriffen sein, der nach seiner Übertragung auf Bosnien als Hauptanwendungsfall förmlich schreit. Politisch ziemlich in Frage gestellt bis entwertet ist damit die Intervention, mit der sich Frankreich und Großbritannien als die entscheidende, den Gang der Dinge bestimmende Ordnungsmacht im Bosnienkrieg beweisen wollen.

3. Akt: ‚Eine Verhandlungslösung erzwingen!‘

Bei allen Verdiensten um die gute Sache: Die Kroaten dürfen nicht in Bosnien gleich weitermachen, was sie in der Krajina begonnen haben. Strenge Ermahnungen auch aus Bonn, verbunden mit der Erklärung, man sei „verstimmt“, nebst einem Stoppsignal aus Washington legen offen, daß das deutsch-amerikanische Interesse, das Kriegsgeschehen mit selbst ausgerüsteten „Stellvertretern“ unter Kontrolle zu nehmen, nur sehr bedingt und teilweise zusammenfällt mit dem Staatsgründungswillen des Zagreber Präsidenten, der sich durchaus nicht auf die alte Tito-Provinz beschränkt. Schon gar nicht wird dem Kroaten gestattet, nach Moskau zu reisen und dort mit seinem serbischen Kollegen die Absicherung und eine eventuelle Abrundung seines Gewinns zu verabreden: Das wäre zuviel der Selbständigkeit – und zugleich eine diplomatische Rückmeldung Rußlands, noch dazu in der Rolle des neutralen Schlichters zwischen zwei auf Kollisionskurs befindlichen Souveränen; und die ist nun wirklich das Letzte, was bei der ganzen Aktion herauskommen soll. Der Rückruf aus Washington und Bonn erfolgt prompt, und Freund Jelzin ist blamiert statt wieder eingeklinkt in den „Friedensprozeß“.

Nach der „Befreiung“ der Krajina sind eben erst einmal die Auftraggeber selbst am Zug; mit einem neuen Friedensplan, an dem überhaupt nichts neu ist – noch nicht einmal die Prozentsätze für die Aufteilung Bosniens zwischen den „Volksgruppen“ – außer dem Entscheidenden: Diesmal stammt er aus Amerika. Die USA setzen ihre Macht, einschließlich der Drohung mit Luftangriffen, hinter ein Befriedungsprojekt, das sie in entscheidenden Momenten immer hintertrieben haben, solange es noch ein EU-Plan und als Musterfall britisch-französischer Ordnungskompetenz gemeint war; jetzt ist er eben Ausweis ihrer Richtlinienkompetenz. Und das hat Folgen: Anders als die Europäer duldet Amerika von vornherein keinen Widerspruch und keine Ausweichmanöver der Serben; es setzt mit eigenen Mitteln oder so wie im kroatischen Fall die nötigen gewaltsamen Veränderungen im Kräfteverhältnis der Kriegsparteien durch. Mit diesem Vorstoß zieht die US-Regierung die Führung in der Konkurrenz der Kontrollmächte an sich.

Gegen die bosnisch-serbische Kriegspartei ist damit alles klargestellt, und die zeigt auch die gewünschte Wirkung: Sie ordnet sich, wie verlangt, dem Präsidenten in Belgrad unter, unterwirft sich dem Verhandlungsgebot aus Amerika, stellt freiwilligen Geländeverzicht in Aussicht. Genau damit tut sich freilich eine neue Diskrepanz an anderer Stelle auf: Für die bosnische Regierung ist der „Friedensplan“ schon allein deswegen, weil er dem serbischen Feind noch eine Verhandlungsposition zugesteht, eine Zumutung; für ihren in langen Kriegsjahren fanatisierten Staatswillen ist ein Pseudo-Gesamtstaat, dessen zwei Bestandteile mehr mit ihren jeweiligen Nachbarnationen konföderiert als unter ihrer souveränen Hoheit zusammengeschlossen wären, schlimmer als endlos fortgesetzter Krieg; und – symbolischer Inbegriff bosnischer Entschlossenheit – Gorazde wird schon gar nicht aufgegeben, nur damit das Land sich besser teilen läßt. Verglichen mit der bisher festgehaltenen Aussicht auf ein amerikanisches Kriegsmandat samt Waffenhilfe ist der Entscheid der US-Regierung, die bosnischen Serben zur Überantwortung ihres Staatswillens an die Anwälte einer gesamtbosnischen Souveränität zu zwingen, für die Izetbegovic-Mannschaft eine einzige Enttäuschung. Auch in Bosnien beruht die Allianz zwischen Staatsgründern und Imperialisten eben keineswegs auf wirklicher Interessengleichheit; sobald es auf ein Ergebnis zugeht, macht sich der aufgeregte Nationalismus als Hindernis, die weltordnerische Aufsicht als Beschränkung bemerkbar.

Und wie noch stets im Balkankrieg vermittelt dieser Gegensatz die nächste Runde in der Konkurrenz der engagierten Kontrollmächte. Jetzt lädt nämlich Frankreich das bosnische Staatsgründungskomitee hochoffiziell nach Paris ein, hofiert dessen Oberhaupt als gleichrangigen Kollegen des französischen Präsidenten und bringt sich mit seiner Schnellen Eingreiftruppe als die bessere Schutzmacht der bosnischen Sache ins Spiel. Auch in Westeuropa versteht man sich eben darauf, konkurrierende Friedenspläne zu hintertreiben, sobald sich für die eine Erfolgschance abzeichnet, um sich selbst als die doch letztentscheidende Aufsichtsinstanz wieder einzuschalten, wo schon Ausschaltung drohte…

Konkurrenzmittel in diesem edlen Friedenswettstreit ist dieses Mal die praktisch bewiesene Kompromißlosigkeit gegen die serbische Seite; praktisch bewiesen durch Eingriffe ins Kriegsgeschehen, die sich als mindestens so wirksam erweisen müssen wie der kroatische Präzedenzfall. Die USA haben das als die maßgebliche Linie durchgesetzt; die Befehlshaber der Schnellen Eingreiftruppe sehen ihre Chance darin, diese Linie zu überbieten. Und so geht mitten in ihrem zähen Ringen um die Führungsrolle die Einigkeit der Imperialisten sehr weit: Es gilt, das Schlachtfeld Bosnien mit überlegener Gewalt zu okkupieren. Da hilft es den Pale-Serben nichts, daß sie Verhandlungsbereitschaft signalisiert haben.

4. Akt: ‚Die Serben bestrafen!‘

Es findet sich das serbische Geschütz, das in terroristischer Absicht in die „Schutzzone“ Sarajewo/bosnischer Teil hineinfeuert und ein Blutbad anrichtet – sei es, weil der Krieg ja allseits noch weitergeht, auch nach dem Verhandlungsbeschluß des Pale-Parlaments, sei es aus Protest gegen diesen Beschluß; jedenfalls wird es von der UNO – gegen russische Zweifel – unparteiisch und einwandfrei identifiziert und gibt einen extrem passenden sowie dringlichen Vorwand her für einen Luftwaffen-Feldzug der NATO, der schon länger beschlossene Sache und dementsprechend vorbereitet ist; selbstverständlich heiligt der gute Zweck, die Verhandlungsbereitschaft der bosnischen Serben zu erzwingen, allemal das Mittel. Die andere Zweckbestimmung lautet ‚Vergeltung‘ und spiegelt den Zynismus wider, mit dem demokratische Nationen für ihre Gewaltaktionen volksnahe moralische Rechtfertigungen in Anspruch nehmen, damit die Bürger auch feste mitbomben, in Gedanken. Als dritter Zweck wird die Dezimierung der bosnisch-serbischen Militärmacht angegeben; und das wird schon das militärische Kriegsziel sein, nachdem die konkurrierenden Alliierten sich darauf geeinigt haben, selber gegen die unbotmäßige Kriegspartei vorzugehen. Der politische Kriegsgrund sind die Serben jedenfalls nicht. Der liegt in der Beweispflicht, die sich die Ober-Kriegsherren in den verschiedenen NATO-Hauptstädten auferlegt haben: daß, wenn sie wollen, gegen ihre Gewalt kein Widerstand geht.

Für diesen Beweis haben sie sich in ihrer altvertrauten Kampfformation als NATO auf den Weg gemacht. Aus gutem Grund: Unwidersprechlich ist ihre Macht nur dann, wenn sie einander nicht an deren Entfaltung hindern, sondern dabei militärisch unterstützen und politisch decken; dann läßt sie allerdings einen geballten Kriegseinsatz zu, der jeden Gegner und gleich auch noch alle Widerstände von dritter Seite niederwalzt. Und darauf haben es die Verbündeten diesmal eben abgesehen.[3] Mit ihrem Einsatz – dem größten in der Geschichte der NATO, wie ihre Brüsseler Exekutive stolz vermeldet – gehen sie bewußt über den moralischen Vorwand und über die militärischen Kapazitäten des unmittelbaren Gegners um ganze Größenordnungen hinaus, überschreiten auch absichtsvoll jede „Schmerzgrenze“ bei den indirekt Betroffenen der Luftschlacht – in der klaren Absicht nämlich, jedem, den es angehen mag, die Kompromißlosigkeit und Unwiderstehlichkeit ihres Abschreckungsregimes vor Augen zu führen. Die Schutzmächte der angegriffenen bosnischen Serben sind für diese Botschaft die erste Adresse: die rest-jugoslawische Serbenrepublik, die es gar nicht erst wagen soll, sich herausgefordert zu sehen und eine Antwort von vergleichbarer Art zu erwägen; dahinter und vor allem die slawische Großmacht Rußland, für die dasselbe gilt. Anders – so müssen die NATO-Mächte kalkuliert haben – wird nie etwas aus ihrer gesamtwestlichen Weltherrschaft nach dem Ende des sowjetischen Dauereinspruchs.

Über diesem einigenden Grund vergessen die Beteiligten freilich durchaus nicht ihren jeweiligen nationalen Zweck. Jede der so heftig engagierten Großmächte ist nämlich darauf aus, aus der alle Verhältnismäßigkeit sprengenden gemeinsamen Gewalttat je für sich den Vorteil einer unbedingt glaubwürdigen und verläßlichen Abschreckungsmacht zu gewinnen. So gibt der US-Präsident aus dem Urlaub betont locker zu verstehen, daß das Ganze im Rahmen der amerikanischen Verhandlungsinitiative seinen Platz hat und daß Amerika damit seiner Führungspflicht in der Allianz nachkommt. Die französische Führung versäumt es nicht, mitten im alliierten Bombenhagel die Granaten der Schnellen Eingreiftruppe zu zählen und den Eindruck zu erwecken, der Einsatz der NATO-Bomber wäre gewissermaßen bloß eine flankierende Maßnahme zum britisch-französischen Geschützdonner; sehr wichtig auch, daß ein französischer General als Instanz auftritt, die über Ziele und Dauer des Bombenterrors zu entscheiden hat. Die Deutschen, deren Tornados in der ersten Phase erst einmal nicht gefragt sind, begrüßen den Feldzug der alliierten Luftwaffe betont als NATO-Bündnisaktion, weil sie, noch vor ihren Einsätzen mindestens schon politisch, als aus der Allianz nicht wegzudenkendes führendes Mitglied mitgebombt haben wollen. So zeichnet sich schon während der laufenden Militäraktion die Konkurrenz der Imperialisten ab, die wieder voll zu ihrem Recht kommt, wenn dann aus den gemeinsam angerichteten Verwüstungen die national zurechenbaren politischen Konsequenzen gezogen werden.

[1] Zur gerechten moralischen Einordnung dieses Kriegsakts mag die kompetente Stimme des übriggebliebenen Kaiserenkels genügen: Herr Otto Habsburg hat sich im kroatisch befreiten Knin umgeschaut und so gut wie keine zerstörten serbischen Häuser gefunden. Daß er auch keine Serben mehr gefunden hat, geht nach der öffentlichen Besichtigung der einschlägigen Flüchtlingsströme als Beitrag zur Einteilung Ex-Jugoslawiens in problemloser regierbare, weil ethnisch homogene Gebiete in Ordnung.

[2] Deren Aufbau haben die Serben hinter dem Kordon der UNO-Schutztruppe nicht gestört, obwohl ihre Vertreibung als erstes Staatsziel der neuen Macht feststand. Soviel zum vielbeklagten „Mißerfolg“ des UNO-Mandats.

[3] Sie wiederholen deswegen auch nicht den Fehler von Anfang vorigen Jahres, ein Ultimatum an die Serben zu formulieren, das zwar gar nicht auf Erfüllung berechnet ist, den Russen aber das Manöver gestattet, die herausgeforderte Kriegspartei zu rechtzeitiger Nachgiebigkeit zu überreden und so den Präzedenzfall einer Gewaltaktion der westlichen Allianz zu verhindern. Vgl. hierzu GegenStandpunkt 1-94, S.72.