Eine „Münchner Sicherheitskonferenz“ und die EU-Außenminister ziehen erste „Lehren aus Afghanistan“
USA verordnen Konkurrenz unter Kriegsbedingungen – Euro-Staaten sehen sich nicht gerüstet

Die diplomatisch kaum beschönigte gnadenlose Aufrechnung der militärischen Potenzen zwischen den Nato-Partnern signalisiert das Eintreten einer für Europas Staatsgewalten prekären „Lage“: Sie werden schlicht und einfach an ihrer – verglichen mit den USA inferioren – militärischen Potenz gemessen und als Werkzeuge begutachtet, die ihre Tauglichkeit verloren und deshalb das Recht auf eine (mit-)bestimmende weltpolitische Rolle verspielt haben.

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Eine „Münchner Sicherheitskonferenz“ und die EU-Außenminister ziehen erste „Lehren aus Afghanistan“
USA verordnen Konkurrenz unter Kriegsbedingungen – Euro-Staaten sehen sich nicht gerüstet

Jetzt wissen wir es endgültig: Europa ist, militärisch gesehen, ein Zwerg, und das ist gar nicht gut so. Während die nationalen Finanzminister im Zuge der „Wachstumskrise“ eine Haushaltslücke nach der anderen bekämpfen, entdecken ihre Kollegen vom Ressort Verteidigung, die Außenminister und Regierungschefs, die öffentlichen Meinungsbildner, Mister GASP Solana und der NATO-Generalsekretär persönlich ein einziges Rüstungsdefizit der europäischen Staaten. Ein hoffnungsloser Mangel an modernem Gewaltpotenzial sowie an kriegstauglichem Menschenmaterial wird konstatiert. Und dass die Sorge um die Stabilität des Euro eine nachholende Aufrüstung leider verhindert – aber: nicht verhindern darf!

Eine Bedrohungslage neuer Art

Warum fehlt es Deutschland an Waffen? Wofür braucht Europa mehr militärische Schlagkraft? Wer ist der Feind?

Die bösen Russen, der Feind von gestern, sind – fürs Erste jedenfalls – erledigt. „Die Kommunisten“, vor denen wir unsere Freiheit, notfalls per Atomkrieg, schützen mussten, haben friedlich kapituliert. Sie haben die überlegene Macht des Kapitalismus anerkannt und sein System übernommen. Das hat ihre Produktivkräfte in Trümmer gelegt, wovon sie sich so schnell nicht wieder erholen werden! Die Bundeswehr wurde deswegen nicht abgeschafft. Aus dem Verkehr gezogen wurde vielmehr das Jahrzehnte lang kultivierte Märchen, dass wir sie bloß wegen der Russen bräuchten.

Dafür, dass sie bald „echt“ gebraucht wurde, haben das wieder vereinigte Deutschland und seine Freunde dann schnell gesorgt. Ihr Anspruch auf die Vereinigung des bislang „geteilten“ Europa unter ihrem Kommando beurteilte Jugoslawien als unhaltbares „Völkergefängnis“, verurteilte es zur Zerlegung durch ethnische Selbstbestimmung und machte damit den Balkan zu dem „Pulverfass“, zu dessen Befriedung dann Ordnungskriege und militärische Besetzung nötig wurden – wobei sich der Nutzen des NATO-Bündnisses mit der Weltmacht USA bewährte. Zugleich war damit der Beweis erbracht, dass die Verteidigung deutscher und europäischer Interessen künftig vor allem im „Export von Sicherheit“, also in der gewaltsamen Sicherstellung eines „erweiterten“ EU-Besitzstandes besteht. Gemäß den festgestellten Interventionsbedürfnissen, auch „Bedrohungsszenarien“ genannt, wurden eine Reform der Bundeswehr in Auftrag gegeben, ambitionierte europäische Rüstungsprojekte und eine gemeinsame Eingreiftruppe mit 60000 Mann auf den Weg gebracht.

Das sind jetzt plötzlich alles Peanuts. „Zu wenig“, „schon wieder veraltet“, „zu langfristig wirksam“, „untauglich“… Da sind sich die Experten des Kriegshandwerks, die Anfang Februar in München zu ihrer diesjährigen Session zusammengekommen sind, einig, und die kommentierenden Amateurstrategen mit ihnen. Merkwürdig ist allerdings der Grund, den sie einhellig zum Besten geben, wenn sie ein riesiges Defizit an Aufrüstung zu dem Problem der europäischen Staatenwelt erklären. Es ist kein übermächtiger Feind, der sie aktuell „herausfordert“, sondern „der Abstand“ ihrer Rüstung zu derjenigen – ihres Freundes, der amerikanischen Weltmacht. Der Abstand, der „immer größer wird“ und deshalb gar zum „Abgrund“ wird, „der uns trennt“. Die ziemlich konkurrenzlose militärische Stärke der USA, die ein halbes Jahrhundert ein positives Argument für das Bündnis mit dieser unserer „Schutzmacht“ war, wird jetzt zu einer ernsthaften Gefahr erklärt: für das Bündnis, und damit für Europa. Und zwar von beiderseits des Atlantik.

Die Amerikaner: Ehrlich gesagt, konnten wir die Europäer in Afghanistan nicht brauchen. Sie sollten sich nicht wundern, wenn ihr weltpolitischer Einfluss sinkt, da sie militärisch kaum noch kooperationsfähig sind. (Wolfowitz, McCain u.a.)

Die Europäer: Europa muss mehr Geld für die Rüstung aufwenden und den Abstand zu Amerika verringern, um als Partner für die USA attraktiv zu bleiben. (Robertson u.a.)

Die diplomatisch kaum beschönigte gnadenlose Abrechnung der militärischen Potenzen zwischen den NATO-Partnern signalisiert das Eintreten einer für Europas Staatsgewalten prekären „Lage“: Sie werden schlicht und einfach an ihrer – verglichen mit den USA: inferioren – militärischen Potenz gemessen und als Werkzeuge begutachtet, die ihre Tauglichkeit verloren und deshalb das Recht auf eine (mit-)bestimmende weltpolitische Rolle verspielt haben.

Der amerikanische Antiterrorkrieg vernichtet offenbar nicht nur Terroristen, sondern er verändert auch die Weltordnung, und zwar zu Ungunsten der Staaten Europas.

„Alle Macht kommt aus den Gewehrläufen“ (Mao Ze Dong) – aus der erpresserischen Wucht der Waffen eben!

Zum Ersten: Wenn der Vergleich der Rüstung, die ein Staat in die Waagschale zu werfen hat, zum Ausschlag gebenden Argument dafür wird, was er zählt, dann bestimmt Krieg die Tagesordnung der internationalen Konkurrenz. Im Krieg gilt die Gleichung unmittelbar, dass Qualität und Umfang der Gewaltmittel über die Bedeutung, sprich die Reichweite der politischen Macht einer Nation entscheiden. Tatsächlich haben die USA die Welt in einen Dauerkriegszustand versetzt, und sie sehen das auch so. Also wird die interessierte Vorstellung der Europäer, mit der Vernichtung von Al Kaida und Talibanregime sei der Wiederherstellung amerikanischen Rechts Genüge getan und die kriegerische Abteilung des Kampfes gegen den Terror im Prinzip auch wieder zu beenden, als grobes Missverständnis zurückgewiesen. Die amerikanische „Lehre“ aus den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist, dass die USA „nie wieder“ Gegner dulden dürfen, die fähig sind oder werden könnten, sie zu bedrohen:

„Unser Ansatz muss sich auf Prävention und nicht nur auf Bestrafung konzentrieren. Wir befinden uns im Krieg. Selbstverteidigung erfordert Prävention und manchmal Präventivmaßnahmen. Man kann sich nicht gegen jede Bedrohung an jedem Ort zu jeder denkbaren Zeit verteidigen. Die einzige Verteidigung gegen den Terrorismus ist es, den Krieg zum Feind zu bringen.“ (US-Vize-Verteidigungsminister Wolfowitz)

Dass die USA mit diesem Standpunkt Ernst machen, sollen die Kollegen aus Europa endlich begreifen, d.h. begrüßen. Die wollen denn auch vor allem hören, ob der nächste Krieg schon feststeht. Das, so die Botschaft der US-Emissäre, werden sie schon rechtzeitig erfahren. Klar muss ihnen jedenfalls sein, dass die „alten“ Feinde, die Amerika längst vor dem 11.9. ausgemacht hat, unter der neuen Antiterror-Agenda wieder aufmarschieren, und zwar mit neuer Dringlichkeit. Die Umettikettierung der „Schurkenstaaten“ in „Terrorstaaten“, die eine „Achse des Bösen“ bilden, ist gerade erfolgt, die Logik der damit ausgesprochenen Kriegserklärung folgerichtig: Irak, Iran und Nordkorea sind die schlimmeren Terroristen, weil sie über „Massenvernichtungsmittel“ verfügen oder nach ihnen streben. Im Klartext:

„In Bagdad residiert ein Terrorist, dem die Ressourcen eines ganzen Staates zur Verfügung stehen.“ (US-Senator McCain)

Der Totalitarismus des Programms, Amerika unangreifbar und seine weltumspannenden Interessen unanfechtbar zu machen, basiert auf dem Selbstbewusstsein einer militärtechnischen Überlegenheit, die nur noch „asymmetrische Kriege“ kennt – also solche, in denen Amerika das ihm zustehende Weltgewaltmonopol gegen Verbrecher exekutiert, ohne selbst Schaden zu nehmen. Motto:

„Wir können alles sehen, was sich bewegt. Und wir können alles zerstören, was wir sehen.“ (R. Perle, Berater des US-Verteidigungsministers Rumsfeld, Frankfurter Rundschau, 4.2.)

Und um Amerika die konkurrenz- und schrankenlose Rüstung zu sichern, die es ihm erlaubt, auch in Zukunft jeden potenziellen Gegner an jedem Ort der Welt zu vernichten, legt die US-Regierung einen Militärhaushalt auf, der nur im Reagan’schen „Totrüstungs“-Haushalt gegen die sowjetische Atommacht seinen beispielhaften Vorläufer hat. Das erläutert der Vizeverteidigungsminister der USA den in München versammelten Kollegen als „Ansatz zur fähigkeitsorientierten Verteidigungsplanung“. Amerikas Militär muss die Fähigkeiten jedes potenziellen Gegners zerstören können, bevor es sie gibt! Die USA messen ihren Gewaltbedarf einzig und allein an diesem Ziel einer perfekten Abschreckung, die niemandem mehr eine Chance lässt, sich ihnen zu widersetzen. Und sie handeln danach: Der Abstand zu den Kriegspotenzen anderer Staaten wird ausgebaut.

Darum also ist die Konkurrenz der Waffen die Hauptsache, um die es geht: Die Weltmacht Amerika führt einen Krieg für die Gleichschaltung der Staatenwelt unter ihrem Kommando; sie setzt mit ihren Kriegsaktionen neue Erfolgs- und Misserfolgs-Bedingungen für den Rest der Staatenwelt, greift damit den politischen Machtstatus und die polit-ökonomischen Besitzstände der Nationen an; und dabei nimmt sie selbst keinerlei Rücksichten auf niemanden und nichts, auch nicht auf eigene finanzielle Schranken oder auf die Rezession der nationalen Wirtschaft, aus der andere Nationen sogar noch einen Sachzwang zur Sparsamkeit ableiten – auch bei der Aufrüstung.

Die Degradierung der Staaten Europas zu eher untauglichen Helfershelfern

Zum Zweiten (be)trifft der amerikanische Krieg gegen den Antiamerikanismus die europäischen Verbündeten in spezieller Weise. Er setzt nämlich nicht nur den „Weltfrieden“ außer Kraft, durch den sie sich mit den Waffen der polit-ökonomischen Konkurrenz zu Haupt-Nutznießern der weltumspannenden Herrschaft des Kapitals entwickeln konnten. Er macht auch Schluss mit dem einmaligen imperialistischen Sonder-Arrangement, das die eigentliche Grundlage dieses europäischen Erfolgswegs war und bis heute ist: Das in der NATO institutionalisierte Kriegs-Bündnis erhob die europäischen Staaten – zumindest was die entscheidende weltpolitische Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse (= Kommunismus) betraf – in den Rang von politischen Mit-Subjekten, ungeachtet der militärischen Potenzen, die ein jeder von ihnen tatsächlich mobilisiert hat. Sie konnten, mit der amerikanischen (Atomkriegs-)Macht im Rücken, einen weltpolitischen Einfluss gegenüber Freund und Feind entfalten, der durch das Maß der eigenen militärischen Machtentfaltung in keiner Weise „gedeckt“ war. Diese Ermächtigung, diese Gegenleistung für wertvolle europäische Dienste haben die USA mit Beginn des Antiterrorkriegs gekündigt. Praktisch durch eine politische Indienstnahme der NATO, die von den Europäern einen Blankoscheck für ein globales Kriegsprogramm der USA verlangte, der mit einem Verzicht auf eigene Entscheidungs- wie Teilhaberechte identisch war, jedenfalls genau so behandelt wird.[1] Und programmatisch für die weitere Zukunft des Krieges, bekräftigt durch die diplomatische Vorführung und Feier dieses grandiosen „Konzepts“:

„Eines unserer bedeutendsten Konzepte betrifft das Wesen von Koalitionen in diesem Feldzug und die Idee, dass die ‚Mission die Koalition bestimmen muss, und nicht andersherum‘. Ansonsten wird die Mission, wie der Minister (Rumsfeld) sagt, ‚auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner reduziert‘“. (Wolfowitz)

Mit der Reduzierung der NATO auf den alleinigen Nenner amerikanischer (Kriegs-)Freiheit, auf eine Koalition unter anderen, die keinerlei Rechte der Mitglieder einschließt, verbitten sich die USA alle Versuche der Partner, auf ihre weltherrschaftliche „Mission“ Einfluss zu nehmen. Die stören bloß die Effizienz. Das wollen die Amerikaner aus dem Kosovo-Krieg gelernt haben; und diese Lehre beherzigen sie in Afghanistan. Die Europäer müssen um eine Lizenz nachsuchen, um militärische Beiträge zu erbringen, die nur als Hilfsdienste willkommen sind oder gar nicht. Die Amerikaner demonstrieren ihnen, dass sie sie nicht brauchen, so dass ihnen auch dieser Weg, übers Mitschießen Einfluss zu erobern, verwehrt wird. Und wenn der NATO-Chef und die europäischen Minister für Verteidigung sich über mangelnde Nachfrage nach ihren wiederholten Angeboten beschweren, dann werden sie – wie zum Hohn auf den Kollateralschaden, den sie gerade für sich bilanzieren – erst recht auf die Rolle von Hilfsdienern Amerikas verpflichtet:

„… haben wir tatsächlich sehr viel mehr Hilfsangebote erhalten, als wir bisher annehmen konnten. Aber machen Sie sich keine Sorgen – der Feldzug ist noch lange nicht beendet.“ (Wolfowitz)

Der Mann weiß natürlich nur zu gut, dass die Staaten der EU die angekündigte Globalisierung des Feldzuges auf die „Achse des Bösen“ gar nicht wünschen! Er droht auf diese Weise gleich implizit eine Anfrage an: ‚Und was ist, wenn wir euch demnächst um einen ordentlichen Beitrag gegen den Irak bitten, oder gegen den Iran?‘ Die Bedenken der Europäer, den Krieg gegen den Terror auf Staaten auszudehnen, die sie gar nicht als ihre Feinde betrachten, bestätigen den Amerikanern nur, dass sie vollendete Tatsachen schaffen müssen, damit die Welt sich nach ihnen richtet. Motto: „Wenn möglich, unter Zuhilfenahme von Partnern, wenn nötig, alleine!“

Der verlogene Einspruch der Europäer – Eingeständnis imperialistischer Verlegenheit und Anspruch auf eigene Machtentfaltung

Die europäischen Partner legen Einspruch ein gegen die vom US-Präsidenten angekündigte Fortsetzung des Antiterrorkriegs. Und sie tun es nicht unter der vollmundigen Beschwörung einer grundsätzlichen, ganz auf ihrem abendländischen Mist gewachsenen Alternative im Umgang mit dem problembeladenen Rest der Welt. Der Franzose Védrine: Die „europäische Zivilgesellschaft“ teile nicht den „absoluten und simplizistischen Ansatz“ der Amerikaner, die „alle Probleme der Welt auf den Kampf gegen den Terror reduzieren.“ Der Deutsche Fischer: Die „Achse des Bösen“ sei „nicht die Art und Weise, wie wir Politik anlegen“; einen „auf das Militärische verengten Sicherheitsbegriff“ wie von den USA verfochten vertrete die EU nicht, vielmehr eine Weltpolitik, die „mit diplomatischem Dialog, Wirtschaftsbeziehungen und Armutsbekämpfung“ das „Verzweiflungspotential und damit die Sicherheitsrisiken“ auf der Welt, Terrorismus inklusive, reduziert. Auf der Linie werden sich die EU-Außenminister auf ihrer Tagung in Cáceres einig.

Zuständig wissen sie sich also durchaus für „alle Probleme der Welt“, wie die Amerikaner; darin stehen sie ihrem übermächtigen Verbündeten nicht nach. Und auch sie, ganz die verantwortungsbewussten Aufseher über den globalen Gewalthaushalt, interessieren sich für das „Verzweiflungspotential“, das in der globalisierten Welt offenbar von Natur aus enthalten ist, vornehmlich unter dem Aspekt der daraus womöglich entstehenden „Sicherheitsrisiken“. Bei deren Bewältigung wollen sie aber ganz anders zu Werke gehen als die etwas primitiven Kollegen aus Washington: nicht so militärisch verengt! Dieses schöne Versprechen setzen Politiker in die Welt, deren selbstverständliche Anmaßung, die „Probleme der Welt“ maßgeblich zu regeln, ganz und gar auf der Bedeutung beruht, die sich ihre Nationen in Jahrzehnten des „kalten Krieges“ als Teile und Teilhaber einer Weltkriegsfront gegen das seinerzeitige kommunistische „Reich des Bösen“, mit ihrer jederzeitigen Bereitschaft zu einem auch atomar geführten finalen Gemetzel erworben haben. So lieblich reden Staatsmänner daher, die für die Durchsetzung ihrer Staatsgründungs- und Grenzziehungsdiktate im ehemaligen Jugoslawien neulich erst zum Mittel des Bombenkriegs gegriffen haben und aktuell diverse Besatzungstruppen unterhalten. Und wo sie mit ihrem „diplomatischen Dialog“, ihren „Wirtschaftsbeziehungen“ und ihrer „Armutsbekämpfung“ irgendetwas von dem „Verzweiflungspotential“ entschärft hätten, das ihr mit eben diesen Mitteln bewerkstelligter Zugriff auf Land und Leute anderswo erst einmal erzeugt, das würde man auch gerne mal erfahren.

Ausgesprochen verlogen ist ihre Verheißung eines ganz „zivilgesellschaftlichen“ Imperialismus von europäischem Boden aus – und zugleich verräterisch. Ihr albernes Ideal, die Staatenwelt ganz anders als die USA, nämlich mit Hilfe eines „nicht aufs Militärische verengten Sicherheitsbegriffs“ unter Kontrolle zu halten,[2] verrät nämlich überdeutlich ihr weltpolitisches Leiden. Als ambitionierte Imperialisten leiden sie daran, dass die Führungsmacht mit ihrem antiterroristischen Welt-Feldzug all die diplomatischen Kalkulationen und gedeihlichen Wirtschaftsbeziehungen zum Rest der Staatenwelt durchkreuzt, die sie auf Basis des weltumspannenden Abschreckungsregimes der USA, im Rahmen der auf einen rein militärischen „Sicherheitsbegriff“ begründeten Weltordnung, entwickelt haben, – und dass sie nichts dagegen machen können. Die EU-Nationen haben Interessen in und an Ländern, die von den USA schon lange als Sicherheitsprobleme definiert sind und entsprechend unter Kontrolle gehalten werden; sie profitieren genau davon, dass die USA das Gewaltpotential dieser Länder militärisch unter Kontrolle halten – das erledigt ihre Sicherheitsbedenken gleich mit und verschafft ihnen zugleich Vorteile vor der amerikanischen Konkurrenz bei der Ausnutzung dieser Länder. Mit dieser schönen „Arbeitsteilung“ ist es jedoch vorbei, wenn Amerika mit seiner Diagnose einer „Achse des Bösen“ ernst macht und die angesagte Zerstörung von „Störenfrieden“ ins Werk setzt. Betroffen sind dann durchaus nicht nur die Beziehungen zu den drei bereits namhaft gemachten Kandidaten für amerikanische Terror-Prävention. Schon am Fall Afghanistan machen alle interessierten Mächte die Erfahrung, dass die USA mit ihren Bomberflotten die Gewaltverhältnisse einer ganzen Region aufmischen. Geht der große Feldzug fürs Gute weiter, dann bringt das automatisch immer mehr von den einträglichen Beziehungen durcheinander, die die europäischen „Armutsbekämpfer“ zu den Ölländern, Schuldnerstaaten, Kapitalanlagesphären usw. rund um den Globus eingerichtet haben. Und was die Sache erst so richtig schlimm macht: Amerika tut, was es nicht lassen mag, ohne sich um die Interessen und Ansprüche seiner europäischen Partner zu kümmern. Im Gegenteil: Es konfrontiert sie mit der offensiven Umdrehung des „arbeitsteiligen“ Verhältnisses zwischen amerikanisch garantierter Erledigung aller Sicherheitsprobleme auf dem Globus und europäischer Teilhabe am Nutzen dieser Garantie. Es verlangt nämlich alternativlos Gefolgschaft für sein neues antiterroristisches Kriegsregime – alternativlos, sofern eben die einzige Alternative, die die US-Regierung ihren Verbündeten in Aussicht stellt, in einem amerikanischen Alleingang besteht, der die Europäer vollends zu bloßen Betroffenen des militärischen Geschehens degradieren würde.

Gegen diese Alternativlosigkeit legen die versammelten EU-Macher Protest ein – und geben damit doch bloß ihre imperialistische Verlegenheit zu Protokoll. Noch mal, exemplarisch, der Deutsche Fischer:

„Die internationale Koalition gegen den Terror ist nicht die Grundlage, irgendetwas gegen irgendwen zu unternehmen – und schon gar nicht im Alleingang. Das sehen alle europäischen Außenminister so. Deshalb bringt das Wort von der Achse des Bösen uns nicht weiter… Eine Welt mit sechs Milliarden Menschen wird selbst von der mächtigsten Macht nicht allein in eine friedliche Zukunft geführt werden. Noch einmal, ich halte absolut nichts von Antiamerikanismus. Aber bei allem Unterschied in Größe und Gewicht: Bündnispartnerschaft unter freien Demokratien reduziert sich nicht auf Gefolgschaft, Bündnispartner sind nicht Satelliten.“ (Die Welt, 12.2.)

Sind sie eben doch – wenn und solange ihre „Größe“ und ihr „Gewicht“ nicht ausreichen, um Amerikas gewaltsame Verfügungen über die Machtverhältnisse auf der Welt wirksam zu konterkarieren; da können Europas Außenminister sich noch so einig sein, dass sie das lieber anders sehen. Und was die „friedliche Zukunft“ der Erdenbewohner betrifft, so hilft die idealistische Phrase den EU-Größen nicht über die Geschäftsbedingungen ihres imperialistischen Ehrgeizes hinweg: Wenn sie schon davon ausgehen, dass diese Zukunft auf jeden Fall eine Frage von Krieg und Frieden ist, dann setzt die Arroganz, mit der sie die Beantwortung dieser Frage zum Gegenstand ihrer Politik erklären, auch die Macht voraus, sie praktisch zu beantworten, nämlich nach eigenem Bedarf Krieg zu führen und Frieden zu erzwingen. Die Lüge von der ganz anderen europäischen Art, den Globus zu befrieden, ist nichts als das verlogene Eingeständnis imperialistischer Unfähigkeit: Europa verfügt nicht über die nötigen Mittel, um bei der wirklich alles entscheidenden, nämlich amerikanischen „Art“, „Sicherheit“ zu stiften, autonom mitzuhalten.

Der Offenbarungseid ist zugleich Programm. Der Brite Patten, seines Zeichens EU-Kommissar für Äußeres, deutet es an:

„Gulliver kann nicht alles im Alleingang erledigen. Und es hilft nichts, wenn wir uns selbst so sehr als Liliputaner begreifen, dass wir dies nicht aussprechen.“

Dass es auch nichts hilft, die eigene Unterlegenheit auszusprechen; dass es ebenso gar nichts hilft, sich wenigstens nicht als hilfloses Anhängsel Amerikas zu begreifen, das ist dem Kommissar wie seinen national regierenden Kollegen völlig klar. Wer in der schönen Welt des modernen Imperialismus etwas werden will, der muss sich die Oberhoheit über den Gewalthaushalt der umgebenden Staatenwelt nicht bloß zutrauen, sondern verschaffen; der braucht also die Mittel, um seine Entscheidungen darüber, in was für einer Welt er leben will, auch zu exekutieren – notfalls allein, so wie die USA es gerade vorexerzieren. Deren Gewaltmittel setzen die Maßstäbe, an denen sich bewähren muss, wer anderen Mächten „Alleingänge“ wirklich verwehren will.

Und daran nehmen die Europäer auch Maß, wenn sie ihre Rüstung kritisch durchmustern und für ungenügend befinden. Kein Feind, die große befreundete Führungsmacht gibt vor, was an Gewaltmitteln für einen emanzipierten Imperialismus heute nötig ist; und genau da wollen die Europäer hin, weil sie nicht mehr bloße Anhängsel amerikanischer Weltordnungsmacht bleiben wollen. Wenn sie, in ihrem imperialistischen Ehrgeiz beleidigt, den Abstand beklagen, der sie in Rüstungsdingen von den USA trennt, dann beauftragen sie sich, die nötigen Gegenmaßnahmen auf diesem alles entscheidenden Feld zu treffen. Wenn sie an ihrer „sicherheitspolitischen Identität“ basteln, dann wollen sie sich unabhängig von und neben den USA als letzte Gewaltinstanz in Fragen der „friedlichen Zukunft“ der Erdenbewohner etablieren. Und wenn sie als zwingenden Grund für die fällige Aufrüstung das Bündnis mit Amerika beschwören, das durch Europas Defizite in Gefahr geriete, dann dementieren sie – wohlweislich – heuchlerisch, worum es geht: um die Konkurrenz gegen den übergroßen Allianzpartner in keiner geringeren als der Waffenfrage. Die anti-antiamerikanische Formel, in die sie ihr Vorhaben gerne kleiden, unterstreicht diese Absicht: Es gibt nicht zu viel Amerika, sondern zu wenig Europa. Als ob das nicht dasselbe wäre – wenn es denn schon um einen Kräftevergleich geht!

[1] Vgl. den Hauptartikel in GegenStandpunkt 4-01, S.66 zum „Krieg gegen den Terror“.

[2] Die moralische Albernheit geht so weit, dass sie gegen die Erhöhung des amerikanischen Rüstungshaushalts den Einwand erheben: Das Geld fehlt dann bei der Friedenssicherung an anderer Stelle: für sozialen Ausgleich und Armutsbekämpfung in der Welt. (Fischer) Als hätte irgendwer so viel Geld für so edle Zwecke eingeplant!