Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die Debatte um den Mindestlohn

SPD-Chef Müntefering erwägt die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland. Die Öffentlichkeit ist überrascht und leicht irritiert: Eine „unsittliche Reduktion“ von Lohn – gibt‘s das überhaupt? Kann denn Lohnsenkung Sünde sein, wenn der „Kampf gegen die Verkrustungen des Arbeitsmarktes“ das nationale Gebot der Stunde ist? Muss man da nicht vielmehr befürchten, „eine Lohn-Untergrenze könnte die Arbeitsanreize der Hartz-Reform zunichte machen“?

Aus der Zeitschrift
Gliederung

Die Debatte um den Mindestlohn

SPD-Chef Müntefering erwägt die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland: Manche Unternehmer in Deutschland versuchen derzeit, auf geradezu unsittliche Weise Löhne zu reduzieren. Stundenlöhne von drei, vier Euro sind keine gute Entwicklung. (SZ, 24.8.) Die Öffentlichkeit ist überrascht und leicht irritiert: Eine unsittliche Reduktion von Lohn – gibt’s das überhaupt? Kann denn Lohnsenkung Sünde sein, wenn der Kampf gegen die Verkrustungen des Arbeitsmarktes das nationale Gebot der Stunde ist? Muss man da nicht vielmehr befürchten, eine Lohn-Untergrenze könnte die Arbeitsanreize der Hartz-Reform zunichte machen? (SZ, 25.6.) Vor lauter Sorge um die konsequente und kompromisslose Durchführung der großartigen Arbeitsmarktreform wird glatt übersehen, dass der Vorschlag zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ein Dokument der Radikalität dieses Reformwerks und seiner ersten durchschlagenden Erfolge ist: Die Löhne sind auf breiter Front im freien Fall und die Arbeiter sind ohnmächtige Figuren, mit denen die Wirtschaft alles machen kann.

I. Die politische Kontroverse: Gelegentliche Sorgen um die Existenz der working poor

1.

Die Unternehmer ersparen sich Lohn durch Entlassungen und setzen die verbliebene Belegschaft unter Druck: Für den Erhalt ihrer Einkommensquelle müssen Arbeiter auf Einkommen verzichten und für immer weniger Geld immer mehr arbeiten. Dieser unternehmerischen Leistung verleiht der Staat einen kräftigen Impuls. Die Regierungskoalition hat sich – unter geschlossenem Beifall von Öffentlichkeit und Opposition – das Herbeiregieren von mehr Wachstum auf die Fahnen geschrieben, als entscheidendes Hindernis dafür einen überregulierten Arbeitsmarkt ausfindig gemacht und sich um eine entsprechende Therapie bemüht. Als Arbeitgeber in Bund und Ländern ist der Sozialstaat der Wirtschaft mit gutem Beispiel vorangegangen und hat dafür gesorgt, dass die öffentlich Bediensteten für niedrigeren Lohn länger arbeiten müssen. Den Gewerkschaften hat die Regierung mit einer gesetzlichen Neuregelung der Tarifautonomie für den Fall gedroht, dass diese nicht in einem verstärkten Maß den Wünschen der Unternehmerschaft nach betrieblichen Sonderregelungen zu Lasten der Arbeiter entgegenkommen. Und ihre Herrschaft über die Lebensbedingungen der Arbeitslosen hat sie dazu benützt, um mit einer ganzen Serie von Gesetzen dafür zu sorgen, dass die Arbeitslosen dem Arbeitsmarkt als willfährige Manövriermasse zur Verfügung stehen. Das Arbeitslosenschicksal hat sie so abschreckend gestaltet, dass auch die arbeitende Bevölkerung sich der gebieterischen Devise Hauptsache Arbeit! weniger denn je entziehen kann und allen betrieblichen Vorschlägen zur Neufestsetzung des Verhältnisses von Lohn und Leistung aufgeschlossen gegenübersteht. Mit den Arbeitslosen hat der Staat zugleich auch die Beschäftigten verbilligt und nach Kräften seinen Beitrag dazu geleistet, dass das alte Dogma wahr wird, demzufolge der Lohn ein Gleichgewichtspreis von Angebot und Nachfrage ist. Langsam aber sicher kommt im Hochlohnland Deutschland die Einrichtung eines Niedriglohnsektors in die Gänge, neben dem es einen „Sektor“ höherer Löhne immer weniger gibt.

Die Debatte zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns nimmt die bereits eingetretenen Erfolge der Reformpolitik zur Kenntnis, antizipiert die weiteren Fortschritte der Verarmung, mit denen sie fest rechnet – und kommt zu einem eindeutigen Befund: Ein immer größerer Teil der Arbeiterklasse kann von seinem Lohn nicht leben. Diese „Entdeckung“ bezieht sich nicht auf das wachsende Heer der Gelegenheits-, Mini- und Ein-Euro-Jobber, deren Lohn schon definitionsgemäß keinen Bezug zum Lebensunterhalt hat. Die Rede ist von „regulären“ Beschäftigungsverhältnissen, die ihre Inhaber 40 oder auch mehr Stunden in der Woche, also mit der gesamten Arbeitskraft in Anspruch nehmen, ihren Mann aber nicht ernähren. Vor allem im Osten der Republik, in manchen Branchen auch republikweit, hat ein Lohnniveau Einzug gehalten, das den stolzen Besitzer eines Arbeitsplatzes noch nicht einmal bei störungsfreiem Verlauf der proletarischen Existenz über die Runden kommen lässt.

Das sind also die Fortschritte der lang ersehnten Flexibilisierung des Arbeitsmarktes: Die Arbeitgeber nehmen sich und bekommen die Freiheit, die Bezahlung ihrer Beschäftigten ausschließlich nach den Bedürfnissen ihres Geschäftsgangs zu gestalten.

2.

Dieser marktwirtschaftlich grundvernünftige Zustand hat sich das Stirnrunzeln seiner politischen Mitverursacher zugezogen. Von Armutslöhnen ist die Rede, die womöglich die Würde des Arbeitnehmers (SPD-Vize Stiegler, Berliner Phönix Runde, 31.8.) verletzen, und mit seiner betont sachlichen Art sieht auch Kanzler Schröder in den Niedriglöhnen ein Problem. Erinnerungen an die längst totgesagte soziale Frage des 19. Jahrhunderts werden wach. Heute meldet sich allerdings nicht eine Arbeiterbewegung zu Wort, die für höhere Löhne streitet. Die Neuauflage dieser Frage bleibt der herrschenden Klasse vorbehalten und hat deshalb auch eine andere Akzentuierung: Jetzt geht es darum, wie weit man bei der fälligen Verarmung gehen will und wann die in die Wege geleitete Lohnsenkung womöglich zu viel des Guten ist. Dem braven Arbeitsmann wird zugebilligt, dass er von seiner Arbeit leben können sollte; jedenfalls hielte man das grundsätzlich für wünschenswert. Abgeklärt wird in journalistischer Runde darüber räsoniert, wie weit die Armut gehen kann, ohne den Anstand der Armen zu gefährden und eine „Teilnahme am gesellschaftlichen Leben“ zu verunmöglichen, die man auch und gerade den Opfern dieser Gesellschaft nicht versagen möchte. Weil sich diese Frage nicht so leicht in Euro und Cent umrechnen lässt, legen moderne Philanthropen nach und erinnern an die zahlreichen Pflichten, die ein Arbeiter außer seiner Arbeit noch zu erledigen und von seinem Lohn zu bestreiten hat: Es gilt der Vergreisung unserer Gesellschaft entgegenzuwirken, eine Familie zu ernähren und Kinder Pisa-gemäß zu erziehen; und ganz wohlgesonnene Anwälte der Arbeiter sehen sogar in deren Konsum eine Leistung für die Binnennachfrage, die die Existenz und den Einsatz von noch mehr braven Arbeitsmännern ermöglichen soll. Eine Verelendung der arbeitenden Bevölkerung, die diese Dienste gefährdet: Das hält selbst der bürgerliche Sachverstand für „Armut“, der sonst in der Tristesse proletarischer Lebensverhältnisse nur die überzogenen Ansprüche der unteren Schichten zu entdecken vermag.

Damit ist auch schon die Richtschnur angedeutet, nach der dem freien Fall der Löhne eine Untergrenze gesetzt werden soll: Existenzsichernd sollte das Arbeitsentgelt nach Möglichkeit schon sein. Angesichts drohender Notlagen, in die die Politik die Leute stürzt, klingt der Zynismus einer funktionalen Verelendung fast schon wieder großzügig.

3.

Andererseits muss man sich die Frage stellen, ob das System der Lohnarbeit so viel Großzügigkeit überhaupt verträgt. Vernichtet ein Mindestlohn nicht Arbeitsplätze, die sich ohne Niedrigstlöhne womöglich nicht rentieren? Ist der niedrigste Lohn nicht besser als keiner? Lautstark melden sich die Vertreter der Arbeitgeber zu Wort, warnen vor einer Katastrophe am Arbeitsmarkt (BDA-Chef Hundt) und weisen darauf hin, es läge doch wohl im Interesse der Arbeitnehmer selbst, der Niedrigqualifizierten zumal, dass sie mit billigen und, wo nötig, auch mit billigsten Löhnen das Interesse der Unternehmer an ihrer Beschäftigung erhalten bzw. überhaupt erst auf sich ziehen. So viel Rücksichtnahme, wie ihnen eine fürsorgliche Politik angedeihen lassen will, können sich Arbeiter überhaupt nicht leisten!

Das wiederum leuchtet dem Staat sofort ein, dem beim Nachdenken darüber, ob er die Verelendung der Bevölkerung in gewissen Grenzen halten soll, wieder die wachstumsfördernden Wirkungen einfallen, die er sich von der Reform des Arbeitsmarkts versprochen hat. Die Einführung eines Mindestlohns zieht er deshalb – wenn überhaupt! – nur widerwillig und unter vielen Vorbehalten in Betracht. Denn wie man es auch dreht und wendet – eine Unterschranke der Verarmung stört den freien Gang der Geschäfte einfach immer:

– Auf keinen Fall darf es zu einer einheitlichen Regelung kommen, warnen die einen und verlangen, dass hier mit dem Florett und nicht mit der Steinaxt gefochten wird. (Christa Sager) Allein der Umstand, dass es jede Menge Löhne am Rande des Existenzminimums, also überhaupt die Notwendigkeit eines gesetzlichen Mindestlohns gibt, beweist da schon zur Genüge, dass genauso viele unabweisbare Gründe zur Rücksichtnahme auf das Geschäftsgebaren der Billiglohn-Kapitalisten existieren. Wenn es schon eine Regelung geben soll, dann muss sie nach Branchen und Regionen differenzieren, sich vorsichtig an alle Bedürfnisse der Unternehmerschaft nach billigen und billigsten Arbeitskräften anschmiegen und der umsorgten Unternehmerschaft so manches Hintertürchen offen lassen.

– Viel zu viel Bürokratie protestieren jetzt die anderen mit Blick auf den bereits jetzt überregulierten Arbeitsmarkt. Prompt kündigen die Arbeitgeber an, dass sie sich an so komplizierte Vorschriften ohnehin nicht halten werden, und warnen vor einer Arbeitspolizei, die so unverschämt sein könnte, nicht nur die Arbeiter, sondern auch ihre ehrenwerten Anwender zu kontrollieren.

Solche Einwände haben Gewicht, und so zeichnet sich fürs Erste eine Lösung ab, die allen Bedenken Rechnung trägt und jeden Kommentar überflüssig macht:

„In der Fraktion eher umsetzbar wäre ein gesetzlicher Mindestlohn knapp oberhalb von 1000 Euro (brutto!) im Monat. Das entspreche in etwa dem Einkommen, das Langzeitarbeitslose künftig durch Transferleistungen sowie eine geringfügige Nebentätigkeit (Mini-Job) erzielen können – und stelle damit ohnehin eine Art Mindesteinkommen dar.“ (FAZ.NET, 3.10.)

Ein letztes Wort ist in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen. Eines darf – darüber sind sich alle Verantwortlichen einig – eine gesetzliche Regelung aber auf keinem Fall tun: Etwas an den Zuständen ändern, die den Ruf nach einem Mindestlohn haben entstehen lassen.

II. Die gewerkschaftliche Debatte: Ist ein Mindestlohn Marterpfahl oder Rettungsanker der Tarifautonomie?

Laut geworden ist der Ruf nach einem Mindestlohn zuerst und vor allem in den Reihen der Gewerkschaften, in deren Tarifbereichen die Armutslöhne ganz vorne liegen: Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und die „vereinigten Dienstleistungsgewerkschaften“ Verdi klagen schon seit geraumer Zeit darüber, dass ihnen in weiten Bereichen der Verhandlungspartner abhanden gekommen ist. Sie haben Schwierigkeiten, Tarifverträge auszuhandeln und ausgehandelte Tarifverträge durchzusetzen; selbst Tariflöhne, die sich faktisch mit dem Sozialhilfesatz vergleichen, werden von den Unternehmern auf breiter Front unterlaufen. Dies verstärkt der Staat zusätzlich mit seiner Reform des Arbeitsmarkts: Er zwingt die Arbeitslosen dazu, jede Arbeit anzunehmen, und verpflichtet die Arbeitsämter darauf, auch auf Stellen zu verweisen, in denen deutlich unter Tarif bezahlt wird. Jetzt befürchten Verdi und NGG den größten anzunehmenden Unfall im gewerkschaftlichen Kampf: Womöglich ist in ihrem Bereich die Tarifautonomie auch durch noch so große Anpassungsbereitschaft an die Lohnsenkungsbedürfnisse des Kapitals nicht mehr zu retten. Weil die Gewerkschaften damit rechnen, dass der Dumpingwettbewerb im Lohnbereich ohne eine Absicherung nach unten ins Uferlose geht (NGG-Chef Möllenberg, Welt am Sonntag, 29.8.), wenden sie sich an ein höheres Wesen, von dem allein sie sich noch Abhilfe versprechen: Ausgerechnet der Staat, der den „Dumpingwettbewerb im Lohnbereich“ soeben in die Wege geleitet hat, soll dem freien Fall der Löhne Einhalt gebieten und für einen Mindestlohn sorgen, der nicht die Verarmung gesetzlich festschreibt. Und das halten Verdi und NGG dann für das Gegenteil einer gesetzlich festgelegten Verarmung: ein existenzsichernder Mindestlohn in Höhe von 1.500 Euro brutto. Das entspricht dem geltenden Pfändungsfreibetrag. (Möllenberg)

Hingegen sehen andere Gewerkschaften, allen voran die IG-Metall, in einem gesetzlichen Mindestlohn einen Eingriff in die Tarifautonomie (IG-Metall-Chef Jürgen Peters, FAZ.NET, 23.8.), der nichts weniger als einen Dammbruch im gesamten Bereich der Tarifautonomie nach sich ziehen könnte. Die „mächtigste Einzelgewerkschaft der Welt“ fürchtet, die Unternehmer könnten den Mindestlohn mit dem untersten Tariflohn verwechseln und hält es für ganz selbstverständlich, dass sie durch das ausgreifenden Rechtsbewusstsein der Unternehmer genauso ohnmächtig werden könnte, wie ihre Schwestergewerkschaften Verdi und NGG es erklärtermaßen heute schon sind. Treuherzig bittet sie den Staat, er möge sich angesichts von so viel Hilflosigkeit erbarmen und der Gewerkschaft eine Krücke spendieren: Wir fordern, dass anstelle eines einheitlichen Mindestlohns der jeweils unterste Tariflohn durch Rechtsverordnung branchenweit für verbindlich erklärt wird.

III. Der konstruktive Dialog von Sozialdemokratie und Gewerkschaft: Vorsichtiger Neubeginn einer wunderbaren Freundschaft

Wenn auch die Regierung – die soeben erfolgreich auf die Zersetzung des Flächentarifvertrags hingewirkt hat – den Gewerkschaften nicht viel Hoffnung auf die Verwirklichung dieses Vorschlags machen will, so ist sie doch grundsätzlich zur Zusammenarbeit bereit. SPD-Chef Müntefering will das Gesetz nicht ohne Zustimmung der Gewerkschaft erlassen und beauftragt den SPD-internen „Gewerkschaftsrat“, einen Vorschlag auszuarbeiten. Schließlich profitieren von dieser Zusammenarbeit beide Seiten:

  • Die Gewerkschaften behalten ihre Zuständigkeit über den Lohn, indem sie an der gesetzlichen Festlegung der (Mindest-)Löhne mitwirken und fast schon wie eine richtige Behörde die Lebensbedingungen der Arbeiter festschreiben dürfen. Dieses ehrenwerten Status werden sie sich – da ist sich die Regierung sicher – mit entsprechendem Augenmaß in der Sache würdig erweisen; erst einmal in dem Gesetzgebungsprozess eingebunden, erhalten die gewerkschaftlichen Bedenken und „Maximalforderungen“ als Fußnote zur politischen Debatte den passenden Platz.
  • Die Regierung setzt im Gegenzug darauf, dass die Gewerkschaften ihr Gemecker über die Arbeitsmarktreform einstellen und aus ihrer Basis wieder einen SPD-Wahlverein machen. Das ist der letzte Dienst, den die Arbeitervereine ihrer Regierung erweisen: Wo die Gewerkschaft zustimmt, hat das Etikett „unsozial“ sein Recht verloren.