Merkels Land

„Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Das war im Sommer 2015. Eine Menge Bürgerkriegs- und Elendsflüchtlinge mit Ziel reiche EU-Länder staute sich am Hauptbahnhof von Budapest. Für einige Monate wurden sie hereingelassen; am Ende an die 1 Million. Deutschland ergänzte seine Führungsrolle in der EU und mit Europa in der Welt um ein Stück Welt-Sozialpolitik, betätigt sich seither als Macht mit weitreichender Richtlinienkompetenz über die hässlichen Folgen der Globalisierung, vor denen der wichtigste Mitmacher und Haupt-Profiteur der globalen Weltwirtschaft sich – auch das O-Ton Merkel – „nicht wegducken“ kann. Das war die politische Sache und ist es geblieben.

Die moralische Ansage, Merkels „freundliches Gesicht“, war schon die offensive Entschuldigung – wofür? Für die Rolle der Nation als bestimmender Platzanweiser für andere Staaten – Deutschland definiert Staatsruinen im Süden, die die Weltmarktwirtschaft und die bewaffnete Weltordnung samt ihren Feinden dort hinterlassen haben, als „Herkunftsländer“ eines Problems für Deutschland, Krieg und Elend als „Fluchtursachen“, ebenso die durchlässigen Grenzen um Europa herum als Hindernis für eine Migration nach deutschem Bedarf und Geschmack... –: dafür jedenfalls nicht. Merkel entschuldigte sich vorauseilend für die unzumutbare Zumutung, die ihre mitregierenden Hausmeister von München bis Berlin und ihre zahllosen aufgeregten Blockwarte von Duisburg bis Plauen verspüren, wenn auf einmal, nach Monaten der nicht unterbundenen Zuwanderung, 1 Kandidat fürs deutsche Asylrecht auf 100 Eingeborene kommt. Eine Zurechtweisung war es schon auch; all der Kleinmütigen nämlich, die aus Merkels „Wir schaffen das!“ partout nicht die moralische Ermunterung heraushören wollten: zum Stolz, ein Deutscher und als solcher eine tonangebende Figur in Europa und ein Vorbild über Europa hinaus zu sein. Ganz viele besonders stolze Deutsche, ganz viele Freunde eines kompakten Volkskörpers mit heftigen Abstoßungsreaktionen gegen Fremdes, nicht zuletzt in der eigenen, ganz konzentriert in der eigenen Schwester-Partei, haben sich über die Ermahnung von ganz oben erst recht ereifert und tun es noch immer.

Davon, dass Merkel diesem ihrem Land deswegen gekündigt hätte und ausgetreten wäre, hat man nichts gehört. Warum auch! Es ist ja ihr Land, praktisch in Gang und ideell in Ehren gehalten von ihrem Regierungsapparat, ihrem digitalisierten Mittelstand, ihren treuen Billiglöhnern, ihren betrügerischen Großkonzernen, ihren patriotisch gesinnten Gewerkschaftern, ihren weltweit zuständigen Sicherheitspolitikern, ihren völlig überflüssigerweise besorgten Intellektuellen. Denn wenn dieses Land kein größeres Problem kennen will als das 1 Prozent fremder Zuwanderer; wenn es sich über Monate und Jahre an keiner Frage so sehr spaltet wie an der, ob das hoch empfindliche patriotische Gemüt der Nation von der anstehenden Aufgabe der Eindeutschung anerkannter Flüchtlinge positiv gefordert oder in seiner kostbaren Identität geschädigt ist: dann kann die Herrschaft mit ihrer Gefolgschaft zufrieden sein. Dann hat die Mannschaft sich ja mit all den wirklich entscheidenden materiellen Lebensverhältnissen, die die Führung ihr zumutet, alternativlos abgefunden – zum realen Schaden aller, die als gebrauchte oder noch nicht einmal gebrauchte Dienstkräfte Merkels Land bevölkern, und zwar egal ob von Geburt oder auf der Flucht vor einem Elend, neben dem gut auszusehen wahrhaftig noch keine nennenswerte Leistung ist.

Denn ohne patriotische Moral beurteilt, nimmt sich diese Republik eher so aus:

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Vor einem Jahr hat die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland ein Kriterium für die Güte ihrer Nation in Umlauf gebracht: Der Gesichtspunkt, unter dem sich das Land, das sie regiert, auch im moralischen Sinne als „ihr Land“ bewähre, nämlich in jeder Hinsicht einwandfrei sei, sei der Umgang mit Flüchtlingsmassen. Im Positiven wie im Negativen hat sich die Nation dieses Kriterium seitdem zu eigen gemacht: Ausgerechnet an der peripheren Frage der Verdauung des Flüchtlingsstroms soll sich entscheiden, was von dieser Republik zu halten sei.

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