Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Zivil- und andere schlechte Gesellschaft gefährdet Jugendliche:
Marco knutscht sich in den Knast

Ein deutscher Knabe und ein englisches Mädchen treffen sich im Urlaub in der Türkei. Sie pubertieren stark, trinken eins und finden zusammen mit Gleichgesinnten ein Hotelzimmer, wo es zu verschärftem Knutschen kommt. Was bis hierher nach altersgerechtem Traumurlaub klingt, erweist sich in der Folge als gar nicht so einfach.

Aus der Zeitschrift

Zivil- und andere schlechte Gesellschaft gefährdet Jugendliche:
Marco knutscht sich in den Knast

Ein deutscher Knabe und ein englisches Mädchen treffen sich im Urlaub in der Türkei. Sie pubertieren stark, trinken eins und finden zusammen mit Gleichgesinnten ein Hotelzimmer, wo es zu verschärftem Knutschen kommt. Was bis hierher nach altersgerechtem Traumurlaub klingt, erweist sich in der Folge als gar nicht so einfach.

Die erste Komplikation tritt deswegen auf, weil das englische Mädchen, gerade dreizehn Jahre alt, offenbar unter einem frühreifen Gewissen leidet und daheim alles, und vielleicht noch ein wenig mehr, erzählt.

Die zweite deshalb, weil man heutzutage offenbar in englischen Touristenfamilien überkommene Erziehungstechniken schleifen lässt: Das Mädchen bekommt nicht ausgiebig geschimpft, Hausarrest oder Ohrfeigen. Auch den beteiligten Jungmann knöpfen sich die Eltern nicht persönlich vor. Die sind vielmehr der Auffassung, ihrem Kind, das sie sich nur als willenloses Opfer vorstellen wollen, sei neben einer unerwünscht frühen privaten Erfahrung etwas Spezielles zugestoßen: ein Unrecht nämlich, auf das man mit den zeitgemäßeren Techniken der Zivilgesellschaft zu reagieren habe, mit einer Anzeige bei der zuständigen Justiz zum Beispiel.

Vielleicht sind die englischen Eltern einfach nur blöde, vielleicht aber auch so berechnend, dass es ihnen gerade recht wäre – der orientalischen Örtlichkeit wegen –, den jugendlichen Unhold aus Deutschland vor einen hoffentlich besonders strengen Richter bringen zu können: einen original türkischen Kadi.

Damit sind die Zutaten für die größte annehmbare Komplikation im Gefolge eines eher intimen Ereignisses zusammen: Die private wird zu einer Staatsaffäre.

*

Es ist schon unangenehm genug, wenn plötzlich rechtlich gewürdigt wird, was eigentlich für niemandes Würdigung, mit Ausnahme der der Beteiligten, vorgesehen war; wenn also ein persönlich gar nicht involvierter Staatsanwalt oder Richter anfängt, sich einzumischen und aktenkundig zu machen, worum es sich bei einem intimen Getümmel eigentlich und in strafrechtlicher Hinsicht gehandelt haben soll. Die Eltern, rachsüchtig und offenkundig mehr um die Rechts- als die Gemütslage ihrer Tochter besorgt, und ihr türkischer Anwalt behaupten entschieden, es könne sich, trotz anderslautender Zeugenauskünfte, nur um Kindesmissbrauch und Vergewaltigung gehandelt haben. Das wiegt schwer; und weil der Angeschuldigte als Urlauber naturgemäß über keinen festen Wohnsitz in der Türkei verfügt, wird er sistiert, damit er sich nicht dem anstehenden Verfahren und möglicher Strafe entziehe.

Noch unangenehmer wird die Sache darüber, dass, einmal im Visier des staatlichen türkischen Strafanspruchs, wegen der Nationalität des Angeschuldigten in Windeseile die pubertäre Liebes- zu einer zwischenstaatlichen, also politischen Affäre unter Beteiligung von Justiz, Diplomatie und nicht zuletzt Volksseele wird: Marco ist Deutscher, weshalb sich deutsche Politiker und Diplomaten um die Sache kümmern und die entsprechenden türkischen Instanzen kräftig dagegen halten. Die Deutschen prüfen die rechtlichen Umstände, die Haftbedingungen, fragen sich und die Türken, ob das denn alles sein müsse, und mischen sich ein in ein laufendes, rechtsstaatliches Verfahren, das sie – man redet hier von der Türkei! – von Haus aus nicht für so übermäßig rechtsstaatlich halten: Schließlich reden die Europäer den Türken schon jahrelang ins Gewissen, sie sollten ihren Rechtsstaat nach abendländischem Vorbild reformieren. Dass die das bis heute nicht richtig hingekriegt haben, weshalb sie auch vorläufig nicht in die EU aufgenommen werden können, weiß doch eigentlich jedes Kind. Dass sie sich jetzt plötzlich, in diesem Fall, so anstellen, sich auf Recht und Gesetz und die Unabhängigkeit der Justiz berufen und einen deutschen Marco einbuchten, anstatt ihn auf deutsches diplomatisches Stirnrunzeln hin einfach laufen zu lassen, das findet man in Marcos Heimat nicht amüsant.

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Die Einwände von Freunden und Kennern internationaler Rechtslagen, die dahin gehen, dass es einem türkischen Jugendlichen unter der gleichen Anschuldigung in Deutschland ziemlich genau so erginge wie Marco in der Türkei, treffen zwar juristisch zu, sind ansonsten aber unbeachtlich. Erstens wäre das ja dann ein Türke und kein Deutscher, was ja wohl einen ziemlichen Unterschied macht! Zweitens sind bei uns die Gerichte wirklich unabhängig und behaupten es nicht nur, wie derzeit die türkischen, nur um unter diesem Vorwand ihr Mütchen an einem unschuldigen Deutschen zu kühlen und ihre nationalistischen Empfindlichkeiten auszuleben. Die sind nämlich der Grund dafür, dass sie sich plötzlich so überkorrekt benehmen, was man, wie gesagt, von denen sonst gar nicht kennt.

Die deutsche Zivilgesellschaft jedenfalls schreibt unterstützende Transparente an Marcos Wohnort, zündet die üblichen Kerzen an und findet auch eine Öffentlichkeit, die darüber berichtet. Die türkische, nicht faul, hält auch ihre Demos ab, auf denen gewöhnliche Bürger, empört über deutsche Einmischungen ins türkische Rechtswesen, in die Kameras schäumen.

Wie sollen da, fragt man sich angesichts all dessen besorgt, lernwillige junge Menschen in Deutschland, der Türkei oder England unter solchen Umständen in Ruhe ihren Interessen nachgehen und die Völkerfreundschaft pflegen?