Leserbrief
Warum sind viele Menschen in den Entwicklungsländern arm?
Die einfache Antwort … und ein Kommentar zur Frage

Arme gibt es deshalb, weil sie vom existierenden Reichtum ausgeschlossen sind. Einen Mangel an Waren gibt es heutzutage nicht mehr. Das gilt nicht nur für Entwicklungs- und Schwellenländer, sondern auch für die Länder der 1. Welt. Grund dafür ist das Privateigentum, der Rechtstitel des weltweit agierenden Kapitals. Staaten unterwerfen ihr Volk der Herrschaft des Eigentums, mehren ihre Macht und ihren Reichtum dadurch, dass sie Armut produktiv machen. Wer wie Globalisierungsgegner und Kirchen nach dem Grund der besonders großen Armut in Entwicklungsländern fragt, hält die normale Armut für keinen Skandal.

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Leserbrief
Warum sind viele Menschen in den Entwicklungsländern arm?

Neulich bekam ich Post von einem Freund aus einem Entwicklungsland, dem ein Artikel eines berühmten lokalen Dichters beigefügt war, in dem der Mann seine Ausführungen über die Ursachen der Armut darlegte. Die Schuld an der Armut gab der Dichter u.a. der Faulheit der Menschen selber, der fehlenden Strebermentalität, der Trägheit und der Korruption der herrschenden Politiker. Als Lösung schlug er eine harte disziplinierende Erziehung vor, sogenanntes „character-building“, um die Mentalität der Menschen zu ändern.

Klar, der Dichter hat keine richtige Begründung für die Ursache der Armut gegeben, und die vorgeschlagene Lösung ist auch nicht richtig. Seine Denkkategorien ähneln der Denkweise eines Franz Alt oder Karlheinz Böhm, wenn sie über Armut und Lösungsmuster für Probleme in Ländern wie Bangladesh und Äthiopien diskutieren.

Trotzdem habe ich ein Problem, selber die Frage – Warum sind die Menschen dort arm oder warum gibt es Armut (in Entwicklungsländern und Industrieländern)? – kurz und einfach zu beantworten. Ich habe es mal versucht und musste oft beim Kolonialismus anfangen, dann die ursprüngliche Akkumulation in Europa beschreiben, dann kommen der klassische Imperialismus und die Weltkriege, die Entstehung der USA als Weltmacht nach dem Zweiten Weltkrieg, dann die Rolle des Dollar als Weltgeld und der gewonnene Konkurrenzvorsprung gegenüber anderen kapitalistischen Ländern, das Wesen des Kapitalismus selber, dann der Ost-West-Konflikt und die Aufgabe des Ostblocks, des real existierenden Sozialismus, dann das Resultat – die USA als Nummer 1 und die Rolle ihres Geldes und Militärs … Das Resultat – eine sehr lange Erklärung, wo ich dann unsicher bin, ob mein Gegenüber meine Erklärung über die Ursache der Armut in etwa verstanden hat oder noch weiter zuhören will.

Vielleicht könnten Sie die obengenannte Frage kurz und verständlich beantworten, so dass sowohl ein normaler Mensch als auch ein neun-jähriges Kind eine richtige Erklärung über die Ursache der Armut verstehen und mitkriegen kann. Kinder bekommen sonst schon in frühem Alter solche falschen Begründungen zu hören wie die Faulheit der Menschen, „weil sie gesündigt haben“, weil ihre Politiker korrupt sind, weil die reichen Menschen der Industrieländer, anstatt mit Brot und Geldspenden zu helfen, nur an ihr eigenes Ich denken, weil sie zu wenig Demokratie haben, weil sie nicht sparen, weil sie nicht geschäftstüchtig sind usw. usf. …

Die einfache Antwort

1.

Arm sind die Leute in den Entwicklungsländern weil sie ausgeschlossen sind von dem Reichtum, den es erstens überhaupt und zweitens auch in ihren Ländern gibt. Vorbei sind die Zeiten, in denen Menschen hungern und sterben mussten, weil es wegen Missernten, unzureichender Naturbeherrschung, fehlenden medizinischen Wissens die Mittel zur Befriedigung der drängendsten Bedürfnisse nicht gab. Heute wird vor vollen Lagerhäusern gehungert. Jeder Fernsehbericht über Hungerkatastrophen demonstriert, dass Reichtum durchaus vorhanden ist: Allein Ausrüstung und Anreise der TV-Teams, die über den Hunger berichten, die Satelliten, über die ihre Berichte in die Metropolen überspielt werden, kosten viel mehr als es kosten würde, die Hungernden zu füttern. Sogar der Welternährungsfond der UNO berichtet, dass es genug Lebensmittel auf dem Globus gibt, um alle Menschen satt zu machen; und selbstverständlich könnten im Bedarfsfall noch viel mehr davon hergestellt werden. Gehungert wird also nur, wo es an Geld fehlt, um die vorhandenen Lebensmittel zu kaufen; dasselbe gilt auch für die weniger lebensgefährlichen Formen des Mangels: das Fehlen guter Behausung, medizinischer Betreuung, Bildung und sonstiger Konsumartikel. Schuld an dem Ausschluss vom Reichtum ist das Privateigentum. Dieses Rechtsinstitut des Kapitalismus gilt heute bis in den hintersten Winkel der Erde. Jedes Stück natürlichen und produzierten Reichtums gehört irgend jemandem. Überall gibt es eine Staatsmacht, die einige Bürger mit dem Recht ausstattet, über materiellen Reichtum nach Belieben zu verfügen, und die allen anderen Bürgern, die diese Reichtümer auch brauchen, den Zugriff darauf verbietet. Wenn in Afrika immer wieder Lebensmittelvorräte geplündert werden, dann zeigt das nicht nur, dass es da etwas zu holen gibt, sondern dass es den Hungernden eben verboten ist, zu nehmen, was sie brauchen.

2.

Der zum Privateigentum gehörige Ausschluss vom Reichtum gewinnt Schärfe dadurch, dass den Armen nicht nur produzierte Konsumtionsmittel, die andere haben, vorenthalten werden, sondern die Quellen des Reichtums selbst, die Produktionsmittel und damit die Instrumente der Arbeit, mit denen sie sich die Gegenstände ihres Bedarfs herstellen könnten. Grund und Boden sowie die produzierten Mittel der Produktion – Werkstätten, Maschinen, Rohstoffe –, gehören allesamt anderen Leuten, den sogenannten Reichen. Die Trennung der Menschen von ihren Produktionsmitteln sieht in verschiedenen Ländern des Südens verschieden aus, hat aber immer dasselbe Resultat: Nomaden können ihre Lebensform nicht fortsetzen, wenn Grundeigentümer Zäune, Staaten Grenzen ziehen und ihnen den nötigen Weidewechsel ihrer Herden verunmöglichen. Anderswo werden Kleinbauern zugunsten von großflächigem Bergbau, Staudämmen oder Plantagen, die für den Weltmarkt produzieren, von den halbwegs fruchtbaren Böden verdrängt. Auf dürren, nicht bewässerten Feldern, die ihr Staat ihnen gerade noch lässt, weil sich kein ökonomisch potentes Interesse daran findet, kämpfen sie ohne die nötige Technik, manchmal ohne richtige Werkzeuge um ihr tägliches Brot. Wieder anderswo haben die traditionellen Kleinhandwerker, Weber, Schneider, Leder- und Metallbearbeiter, keine Chance gegen die importierten Industrieprodukte der Weltkonzerne ganz gleichgültig, wie billig sie zu arbeiten bereit sind. Ihnen fehlt eben der Zugang zu den Produktionsmitteln, die heutigentags nötig sind, um sich an der Konkurrenz um die Kaufkraft zu beteiligen. Solche Menschen sind mittel- und hilflos. Sie können die ihnen nötige Arbeit nicht verrichten und sich die Mittel ihrer Bedürfnisbefriedigung nicht beschaffen. Daraus geht schon hervor, dass das Ganze mit Fleiß und Faulheit überhaupt nichts zu tun hat: Millionen in der Dritten Welt kämpfen verbissen und ohne rechten Erfolg um ein anständiges Leben. Schon gleich zeugen die, die abhauen – das berühmte Flüchtlingsproblem – und auf der Suche nach einem Überleben in den Slums der großen Städte des Nordens landen, nicht gerade von Faulheit. Sie nehmen Lebensgefahren auf sich, um Arbeit zu finden, und werden, wenn sie Glück haben, gnadenlos ausgebeutet, wenn sie Pech haben, wieder zurückgeschickt. Andere verharren tatsächlich in erzwungener Untätigkeit, nicht weil das Hungern so bequem ist, sondern weil die Trennung von den nötigen Arbeitsmitteln jede lohnende Anstrengung außer Reichweite rückt. Auf sie deuten dann die moralischen Volkserzieher und erklären deren Passivität, Abstumpfung, ja Verwahrlosung der Menschen, die aus ökonomischer Hilflosigkeit und nicht überwindbarem Elend resultieren, zur – selbst verschuldeten – Ursache des Elends. Gegen solchen Zynismus würde es helfen, einmal von sich auf andere zu schließen: Niemand wird wohl so faul sein, lieber zu (ver-)hungern, als sich die Mühe der Mittelbeschaffung zu machen – sofern es einen erlaubten und gangbaren Weg gibt, sich das Notwendige zu erarbeiten!

3.

Mit der Not großer Teile ihrer Völker sind die Staaten der Dritten Welt keineswegs geschlagen; sie erleiden da nichts, was sie nicht wollen. Wenn sie ihre Völker der Herrschaft des Eigentums unterwerfen, dann folgen sie nicht irgendwelchen Zwängen, die vom Kolonialismus herrühren, sondern ganz allein ihrer heutigen, modernen Räson: Die Staaten setzen für den Fortschritt ihrer Macht und ihres Reichtums auf die Produktivität der Armut; sie machen ihre Bürger gezielt unselbständig und legen sie darauf fest, sich den Eigentümern der Produktionsmittel als Instrument ihrer Profite anzubieten. Geldverdienen durch Lohnarbeit, soll das einzige erlaubte Lebensunterhalt des Volkes sein, damit es mit seiner Arbeit nicht nur sich ernährt, sondern dem Eigentümer der Produktionsmittel einen Zuwachs an Geld schafft, von dem auch der Staat seinen Teil abkriegt. Ob und in welchem Maß dieser Lebensunterhalt zustande kommt, ist freilich eine andere Frage. Das hängt nicht vom Wunsch des Staates nach möglichst viel „Beschäftigung“ ab, und schon gleich nicht von dem Bedürfnis der Arbeitssuchenden, Geld zu verdienen. Ob ihnen dazu Gelegenheit geboten wird, entscheiden allein die Rechnungen derer, denen die Produktionsmittel gehören: Sie lassen mittellose Arme für sich arbeiten, sofern, in der Menge und zu dem Arbeitslohn, wie deren Arbeit ihren Reichtum mehrt. Das ist der Unterschied zwischen dem ärmsten Subsistenzbauern und dem modernen Lohnarbeiter: Der Bauer wendet seinen Boden und seine dürftigen Werkzeuge in seinem Interesse an; der Lohnarbeiter wird in fremdem Interesse angewendet. Weder durch Fleiß noch durch die Bereitschaft, sich für fast gar kein Geld herzugeben, können die von den Produktionsmitteln Getrennten ihre Benutzung „erzwingen“. Diese hängt ganz von den Geschäften der Eigentümer ab, die von Land zu Land verschieden, im Ganzen aber von der Art sind, dass immer nur ein Bruchteil der Arbeitssuchenden eine Anstellung findet.

4.

Die wahren „Arbeitgeber“ sind heutzutage ohnehin die global disponierenden Konzerne. Sie vergleichen weltweit die Renditen, die sie aus Kapitalanlage erwarten können, legen ihr Geld vorurteilslos überall nach dem Gesichtspunkt des größten Ertrags an – und sortieren damit die Welt.

In Ländern der sogenannten Vierten Welt, Somalia, Äthiopien u.a., findet das internationale Profitinteresse fast gar nichts Ausnutzbares. In diesen Ländern läuft deshalb so gut wie gar kein Wirtschaftsleben, keine Produktion des Notwendigen und kaum ein Überleben. Aus der Welt des Eigentums, in der alles käuflich ist, aber auch gekauft werden muss, werden selbstverständlich auch diese Weltregionen nicht entlassen. Ein paar Dollar kommen dort immer noch zustande, auch dorthin kann man noch verkaufen; und als Bedingung der Möglichkeit zukünftiger Geschäfte müssen Grund und Boden und, was es sonst noch gibt, natürlich Privateigentum sein und bleiben.

In Ländern, die zu Unrecht Entwicklungsländer heißen, macht sich das Geschäftsinteresse zumeist an speziellen Naturbedingungen fest: Kapital wird investiert in die Produktion von Südfrüchten für den Weltmarkt, sogenannten Cash Crops (Geldpflanzen!), in die Ausbeutung von Bodenschätzen oder in die Verwertung landschaftlicher Reize durch die Tourismusindustrie. In diesen Fällen weckt nicht die nationale Arbeitskraft das Interesse der internationalen Kapitalisten, sondern eine besondere Naturbedingung. Abgesehen von den wenigen, die für Bergbau, Plantagenwirtschaft und die Bedienung der Touristen gebraucht werden, hat das Weltgeschäft für die lokale Bevölkerung keine Verwendung: Zusammen mit der in den erstgenannten Ländern bildet sie die absolute Überbevölkerung des Weltkapitalismus. Die lokalen Regierungen bekommen von ihren mächtigen Partnern im Norden die Aufgabe zugewiesen, ihre dahinvegetierenden Massen im nationalen Elendsrevier einzusperren, d.h. sie daran zu hindern, in den Norden auszuwandern und den dortigen Sozialverwaltungen zur Last zu fallen.

In den sogenannten Schwellenländern entdecken die internationalen Konzerne durchaus Teile des Volkes als billige Arbeitskraft, die sie zusätzlich zu der in den Metropolen oder auch statt ihrer ausbeuten. Sie lagern Teile ihrer Produktion in Billiglohnländer aus, exportieren Arbeitstempo und Produktivität, die sie im Stammland aus ihren Leuten herausholen, zahlen dafür aber nur die ortsüblichen Hungerlöhne. Die „armen“ Entwicklungsländer helfen mit. Sie bekämpfen ihre staatliche Armut, indem sie ihre Menschen zum konkurrenzlosen Billigangebot ans internationale Kapital herrichten, jeden Widerstand gegen die elenden Arbeitsbedingungen niederschlagen und mit dieser Dienstleistung um die Anlage auswärtigen Kapitals auf ihrem Territorium werben. Wenn in solchen Ländern tatsächlich einmal alternative Regierungen an die Macht kommen, die nationalen Fortschritt anders verstehen und sich für ihre Bevölkerung eine andere Rolle als die von Billigangeboten ans internationale Kapital vorstellen, lässt die Koalition der freiheitlichen Weltmächte nichts unversucht, um derartige soziale „Experimente“ zum Scheitern zu bringen – notfalls per Militärintervention. Trotz aller mit äußerer und innerer Gewalt niedrig gehaltenen Löhne findet auch in den Schwellenländern nur eine Minderheit regelmäßige und geregelt entlohnte Arbeit. Die Mehrheit bildet die kapitalistische Reservearmee, die nur in ganz besonderen Wachstumsphasen das Glück hat, einmal eine Weile beschäftigt zu werden. Oder sie zählt gleich zur absoluten Überbevölkerung.

Alles das ist in den gerühmten Industrieländern nicht grundsätzlich anders: Auch dort ist ständig ein Teil der Arbeiterschaft unbeschäftigt und vom Abstieg ins Elend nicht nur bedroht, sondern betroffen. Auch in den Hochlohnländern ist die Armut Grundlage und Produktivkraft der Wirtschaft. Dazu bekennt sich diese Gesellschaft unverhohlen, wenn Politiker, Wirtschaftsführer und Meinungsmacher über viel zu hohe Löhne klagen, wenn sie von der Wirtschaftskrise, über die Defizite im Staatshaushalt bis zur Pleite der Sozialkassen und der Arbeitslosigkeit alle Übel auf den hohen Lohn zurückführen und durch seine Senkung überwunden wollen. Die Fachleute haben kein Problem, zuzugeben, dass der Reichtum dieser Gesellschaft auf der Armut der Arbeitenden beruht. Im Gegenteil, sie klagen, dass es davon immer noch zu wenig gibt.

Weltweit hat die Mehrheit der Menschen das Pech durch die Gewalt der Verhältnisse auf eine proletarische Existenz angewiesenen, als Proletarier aber nicht gefragt zu sein. Über Leben-Können und Nicht-Leben-Können der eigentumslosen Milliarden entscheidet das Kapital mit seiner Nachfrage nach Arbeit. Es definiert, welche Menschen ein Lebensrecht haben, weil sie für seinen Profit gebraucht werden, und welche Menschen nach allen gültigen Maßstäben unnütz, überflüssig, und eine bloße Last sind.

… und ein Kommentar zur Frage

Hoffentlich genügt die Antwort. Denn die Frage nach dem „Grund der Armut in den Entwicklungsländern“ enthält eine Falle – und die Schwierigkeit einer einfachen Antwort, von der der Schreiber des Leserbriefs berichtet, zeugt davon, dass er ihr nicht ganz entgangen ist. Es ist nämlich nicht klar, ob nach dem Grund der Armut oder nach dem Grund der besonders großen Armut gefragt wird; im zweiten Fall gilt das Übermaß der Armut als kritikwürdiger Skandal und der Grund, der gesucht wird, ist einer für eine Abweichung von einem Normalmaß. Diese Fassung der Frage ist beliebt bei der Solidaritätsbewegung, bei Antiglobalisierungs-Gruppen, sowie bei den christlichen Kirchen mit ihren Kollekten: „Brot für die Welt“. Tatsächlich ist der Unterschied in Gesundheit, Lebenserwartung und Lebensstandard ja riesig: Die in der Dritten Welt verhungern, die in der Ersten sehen ihnen dabei am Farbfernseher zu – und freuen sich, dass es ihnen gut geht, vergleichsweise wenigstens. Manche Lohnarbeiter des Nordens können sich sogar Reisen in die Reviere der pittoresken Armut leisten und sich mit ihrem Urlaubsgeld dort wie Herren aufführen. Dennoch ändert das nichts an ihrer ökonomischen Stellung – und die teilen sie mit den Paupers, von denen sie sich im Urlaub bedienen lassen. Ihr Unterscheid entsteht auf Basis ihrer Gleichheit: Beide können nur leben, wenn sie fürs Kapital leben. Deshalb verdienen die einen Lohn, mit dem sie recht und schlecht auskommen, und verhungern die anderen.

Wer allerdings das Übermaß der Armut in der Dritten Welt für den eigentlichen Skandal hält, kommt in ein ganz anderes Fahrwasser. Er misst die Lage der Opfer des Kapitals aneinander und findet die Abweichung zwischen Nord und Süd ungerecht: Da erscheint der Lohnarbeiter der Ersten Welt als reich, weil er mit dem Hungerleider der Dritten Welt verglichen wird; umgekehrt erscheint dieser als arm nur durch den Vergleich. Der Protest, der vom Vergleich lebt und Ausgleich fordert, gerät sehr bescheiden: Er versteht den Lebensstandard kostengünstiger Lohnarbeiter als einen echten, womöglich unnötigen Luxus – und wünscht den Armen im Süden, denen seine Solidarität gilt, gar nicht mehr als die trostlose „Subsistenz“, die durch den Einzug der Weltwirtschaft in ihre Länder zerstört worden ist. Der Vergleich der Armut hier und dort legt ausdrücklich oder nicht den Maßstab des Leben- und Überleben-Könnens an – und das in dieser Welt des Reichtums, in des es von allem genug und mehr als genug geben könnte.

Wer also nicht die erpresste Lebenslage von Lohnarbeitern überall, sondern die Abweichung ihrer Lebenslagen zum Skandal erklärt, den Grad des Elends in der Dritten Welt für das Erklärungsbedürftige hält, der unterscheidet einen normalen, funktionierenden Kapitalismus von einem defizitären, nicht funktionierenden, abnormalen im Süden und fragt, warum den Entwicklungsländern fehlt, was der Norden hat. Dabei ist da nichts abnormal. Nirgendwo steht geschrieben, dass das Kapital die Menschen, die es seiner Ordnung unterwirft auch – wenigstens mehrheitlich – für seine Geldvermehrung benutzen muss. Global gesehen ist das ohnehin die Ausnahme. Dem Süden fehlt nichts für die weltwirtschaftliche Rolle, die er im Weltkapitalismus spielt. Denn mehr war nicht versprochen, als dass das Eigentum alle Produktions- und Lebensbedingungen erst einmal monopolisiert, und hinterher zusieht, was sich für seine Vermehrung aus diesen Bedingungen machen lässt.

Wenn in den Entwicklungsländern ein defizitärer Kapitalismus der Grund des besonders großen Elends sein soll, dann ist der Kapitalismus als solcher aus dem Schneider. Mit der Vergleicherei wird der allgemeine Grund der Armut dementiert und eine ziemlich gute Meinung von der Ausbeutungsordnung gebastelt: Denn wer meint, dem Süden fehle etwas dazu, dass es bei ihm so auskömmlich zugeht wie im Norden, der weiß auch schon, was: Kapital, dieses unverzichtbare Lebensmittel der Menschen. Das Elend kommt dann nicht von der Herrschaft des Kapitals, sondern von einem Mangel an Kapital. Und wer sich auch noch der verkehrten Frage widmet, warum sich das Kapital nicht gleichmäßig über die Erde verteilt, warum es nicht auch den Süden beglückt, der es so dringend benötigt, der kommt beim Antworten vom hundertsten ins tausendste. Beim Aufzählen von historischen Sonderbedingungen, die eine „gesunde“ Entwicklung des Kapitalismus im Süden angeblich behindern; ist es schwer, zu entscheiden, welche die entscheidende ist: Kolonialismus, Geldwert, schlechte Regierung, Protektionismus, ein gewonnener Konkurrenzvorsprung des Nordens? Aber was hat das alles mit dem Grund der Armut zu tun?

Übrigens lässt sich der Vergleich auch umdrehen. Die deutschen Lohnarbeiter bekommen von ihren Chefs gesagt, dass sie zu teuer sind für deren Gewinn, und dass ihre Arbeit in Tschechien, Portugal und erst recht in Südostasien viel billiger erledigt wird. Andere Völker arbeiten länger und machen es für weniger Lohn – und das geht auch! Dort wandert das Kapital hin, Arbeitslosigkeit haben sich die Arbeiter selbst zuzuschreiben, wenn sie so unflexibel sind, ihren Lebensstandard nicht in Richtung Dritte Welt zu reformieren. Inzwischen ist das Lohnniveau im Norden eine Fehlentwicklung, die korrigiert gehört, und die Armut in der Dritten Welt ein Vorbild!

Tatsächlich ist es immer dasselbe: Die Eigentumsordnung des Kapitalismus macht die Menschen unfähig für ihr Leben selbst zu sorgen; sie zwingt alle, ihre Chance darin zu suchen, dass sie sich dem Kapital dienstbar machen. Während die Freunde der sozialen Gerechtigkeit die Lebensverhältnisse unter dem Kapital hier und dort vergleichen, vergleicht das Kapital die Leistung und Billigkeit der Völker praktisch – das heißt, es spielt sie gegeneinander aus. Wenn dann endgültig die Menschen von dieser Ordnung umfassend erpresst sind und niemand mehr leben kann, wenn er nicht fürs Kapital lebt, dann lässt sich die Sache umdrehen: Wer leben will, braucht Kapital.