Das Lebenswerk Gaddafis
Der Missbrauch von Petrodollars für Anti-Imperialismus und islamischen Sozialismus

Die zur Kontrolle der Weltordnung berufenen Hauptmächte des Westens nehmen die Rebellion von Teilen des libyschen Volkers zum Anlass, das „diktatorische Regime“ Gaddafis als störende Altlast zu entsorgen. Mit einem asymmetrischen Bomben-Krieg weisen Frankreich, Großbritannien und die USA dem „arabischen Frühling“ in diesem Land die Richtung. Die diversen Leistungen, die Amerika und Europa in den letzten Jahren gern entgegengenommen haben – Mithilfe bei der Terroristenjagd, zuverlässige Erdöllieferungen, Re-Investition der Petrodollars in unsere kriselnde Wirtschaft und Beihilfe zur Blockierung unerwünschter Flüchtlingsströme – haben dem Staatsführer nicht geholfen, die herzliche Feindschaft loszuwerden, welche der Westen jetzt exekutiert. Sein Verbrechen: Er hat ein Staatsprogramm durchgesetzt, nach Kräften verfochten und verteidigt, mit dem er den kapitalistischen Vormächten die Unterordnung verweigerte.

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Das Lebenswerk Gaddafis
Der Missbrauch von Petrodollars für Anti-Imperialismus und islamischen Sozialismus

Die zur Kontrolle der Weltordnung berufenen Hauptmächte des Westens nehmen die Rebellion von Teilen des libyschen Volkers zum Anlass, das „diktatorische Regime“ Gaddafis als störende Altlast zu entsorgen. Mit einem asymmetrischen Bomben-Krieg weisen Frankreich, Großbritannien und die USA dem „arabischen Frühling“ in diesem Land die Richtung. Die diversen Leistungen, die Amerika und Europa in den letzten Jahren gern entgegengenommen haben – Mithilfe bei der Terroristenjagd, zuverlässige Erdöllieferungen, Re-Investition der Petrodollars in unsere kriselnde Wirtschaft und Beihilfe zur Blockierung unerwünschter Flüchtlingsströme – haben dem Staatsführer nicht geholfen, die herzliche Feindschaft loszuwerden, welche der Westen jetzt exekutiert. Sein Verbrechen: Er hat ein Staatsprogramm durchgesetzt, nach Kräften verfochten und verteidigt, mit dem er den kapitalistischen Vormächten die Unterordnung verweigerte.

1. Libyens „revolutionäre Außenpolitik“

Die Eroberung der Macht, das Wegputschen des Königs im Jahr 1969 befand Gaddafi für nötig, weil er Libyen für ein Opfer imperialistischer, neokolonialer Ausbeutung und Unterdrückung unter Zuhilfenahme einheimischer Kollaborateure hielt. Die Rolle Libyens, die sich so ziemlich darauf beschränkte, Standort der durch westliche Konzerne bewerkstelligten Förderung von Öl zu sein, sah er als ungerechte, einseitig zum libyschen Nachteil ausschlagende Funktionalisierung für einen Nutzen, der sich vollständig außerhalb seiner Nation ansammelte – bei eben den Ölkonzernen, die in Libyen tätig waren, bei den Banken, die deren Geschäfte kreditierten, und bei den Heimatländern dieser ausländischen Kapitalisten. Für eine singuläre Schweinerei gegenüber Libyen hielt Gaddafi diese Behandlung seines Landes nicht, sondern für einen Fall des ungerechten, auf ‚Ausbeutung der Nationen‘ beruhenden globalen Systems des Imperialismus. Dem erklärte er seine Feindschaft.

Er brüskierte die westlichen Staaten damit, dass er ausländische Konzerne und Banken enteignete bzw. verstaatlichte. In der ‚Organisation für Erdöl exportierende Länder‘, OPEC – einer Organisation, die nach amerikanischem Geschmack sowieso am Rande der Illegalität agiert und entsprechend beargwöhnt wird [1] – gehört Libyen seit dieser Zeit zu den Hardlinern, wenn es um die Frage von Preisen und Förderquoten, Steuern auf private Ölgewinne usw. geht. Auch hinsichtlich des Einsatzes der ‚Ölwaffe‘ betätigte sich Libyen unter Gaddafi als Vorreiter: Er agitierte immer wieder für den Versuch, die Abhängigkeit der Öllieferanten von den Abnehmern umzudrehen und letztere mit einem Lieferboykott bzw. dessen Androhung zumindest punktuell zu politischen Zugeständnissen zu bewegen.

Dem libyschen Führer kam es nicht einfach nur darauf an, mehr vom Ölreichtum auf seine Nation zu lenken, in den Metropolen der Erfolgsnationen um Kapitalanleger zu werben oder die eine oder andere politische Gefälligkeit oder Respektsgeste zu erwirken, um Libyens Rang innerhalb der Hierarchie der Nationen zu verbessern; er störte sich an dieser Hierarchie selber: Das zu einer kompletten ökonomischen und völkerrechtlichen Ordnung geronnene internationale System der ökonomischen Benutzung, völkerrechtlichen Lizenzierung und politisch-militärischen Beaufsichtigung der Welt durch die westlichen Führungsmächte befand er für moralisch zutiefst verwerflich. Folglich kämpfte er auch an anderen Fronten gegen die westliche Hegemonie. Antiimperialistische Bestrebungen anderswo unterstützte er daher auch und gerade dann, wenn sie die Gewalt‚frage‘ stellten und entweder direkt gegen westliche Staaten oder gegen deren Verbündete militärisch aktiv wurden: Lange Jahre erfreute sich die Palästinensische Befreiungs-Organisation PLO bzw. eine Abteilung von ihr libyscher Unterstützung, weil Gaddafi den westlichen Vorposten innerhalb der ‚arabischen Welt‘ – Israel – bekämpfen und in dem Zuge die arabischen Staaten zu einem festen arabisch-islamischen Bündnis formen wollte. Darum waren unter den arabischen Staaten vor allem diejenigen mit einer dezidiert antiwestlichen Haltung seine bevorzugten Bündnispartner: Syrien, Jemen. Unter den ausgesprochen prowestlichen arabischen Staaten, insbesondere den Ölstaaten auf der Arabischen Halbinsel, machte er sich mit seinem Antiimperialismus hingegen wenig Freunde; immerhin hat es noch bis 2008 gedauert, ehe er offiziell die Hoffnung aufgab, aus diesen von ihm verachteten ‚reaktionären Jammerlappen‘ noch Verbündete in seinem Kampf gegen die westliche Hegemonie zu machen.[2] In Afrika unterstützte Gaddafi mit Geld oder Waffen oder beidem Befreiungsbewegungen oder Staaten, die sich aus westlicher Einflussnahme befreien wollten.[3] Seinen Internationalismus der unterdrückten arabischen, islamischen, afrikanischen … Völker hat er u.a. auch so praktiziert, dass er von ihm unterstützten aufständischen Gruppierungen, die in bewaffnete Auseinandersetzungen in seiner staatlichen Umwelt verwickelt waren, in Libyen Schutz, Rückzugsräume, Bewaffnung und Ausbildung geboten hat.[4] Nicht genug damit, legte er sich gewalttätig auch mit westlichen Staaten und insbesondere deren amerikanischer Führungsmacht an. Einen Krieg konnte er zwar nicht gegen sie führen, aber für das Sprengen von Bomben in zivilen Flugzeugen [5] oder auch in einer von GIs bevorzugten Disco in Westberlin reichte es allemal. Gegen die militärische Übermacht der NATO und ihrer Verbündeten versuchte er zudem – dies sein nächstes schweres Vergehen –, sich chemische und auch atomare Waffen und die entsprechenden Trägermittel zu beschaffen.

Möglich gemacht hat diese Bestrebungen die Existenz eines antiwestlichen Lagers, das im Unterschied zu Libyen über Machtmittel verfügte, die sich mit denen des Westens vergleichen konnten – des sowjetisch angeführten Ostblocks. Um die Liste seiner politischen Vergehen voll zu machen, hat sich Gaddafi dort um Bündnispartner bemüht und diese auch gefunden; in der Sowjetunion konnte er seine Öldollars in Waffen umtauschen; die Sowjetunion und andere Staaten des Ostblocks boten Libyen außerdem Hilfe in den Bereichen Wirtschaftsaufbau und Ausbildung.

Entsprechend hart wurde Libyen vom westlichen Freiheitslager angefeindet. Seit den 80er Jahren bekämpfen die USA Libyen mit verschiedenen Sanktionsregimes, manche im Alleingang beschlossen, manche in der UNO abgesegnet. Das hat seine Ölindustrie und -infrastruktur einigermaßen verkommen lassen. Die Abdankung der Sowjetunion hat politische Deckung und Waffenlieferungen gekostet. Der Ölpreisverfall in den 90er Jahren hat darüber hinaus die finanzielle Freiheit zu Beschaffungsmaßnahmen ziviler und militärischer Art spürbar eingeschränkt. Und trotzdem hat Gaddafi sehr zum Ärger des Westens im Prinzip an seiner Verurteilung westlicher Dominanz über den Rest der Welt festgehalten: In dem Krieg, der die schöne neue Weltordnung ohne Ostblock einläutete, dem amerikanischen desert storm gegen den Irak im Jahr 1991, hat sich Libyen auf die Seite Iraks gestellt. Innerhalb der OPEC hat es weiterhin, wenn auch mit nachlassendem Erfolg, für eine Hochpreispolitik geworben. Die Beendigung seines Atomprogramms 2003 hat Gaddafi nicht zu bemänteln versucht, sondern als das bezeichnet, was sie war: als Eingeständnis eines fehlgeschlagenen Versuches, sich gegen westlichen Willen Souveränitätsmittel der gehobenen Art zu verschaffen, als realistische Bilanz des wirtschaftlichen und politischen Schadens, der ihm bereitet wurde – und eben nicht als souverän zelebrierte Anerkennung des Rechts der USA auf das Kontroll- und Entscheidungsmonopol in Gewalt(mittel)fragen. Den Verzicht auf sein A- und C-Waffen-Programm wollte Gaddafi deshalb auch nicht als Geschenk, sondern als Preis innerhalb eines gleichberechtigten Gebens und Nehmens zwischen souveränen Staaten anbieten.[6] Für die Hergabe seines Öls im Rahmen der nach der schrittweisen Aufhebung der UN- und EU-Sanktionen gegen Libyen wieder angelaufenen Geschäfte insbesondere mit Europa hat er nicht nur Cash, sondern wirksame Entwicklungshilfe für seine Ölindustrie und Infrastruktur gefordert, die in den Jahren des Embargos schwer gelitten hatten.[7] Auch der Funktion als vorgeschobener Damm der europäischen Flüchtlingsbekämpfung ist er nur unter den von ihm gesetzten Bedingungen nachgekommen; und diese Funktion gebraucht er im laufenden Nato-Krieg gegen ihn in unverschämter Weise offen als Mittel der Drohung gegen seine europäischen Feinde.[8] Die Vergangenheitsbewältigung in Sachen Lockerbie hat er sich zwar einerseits einiges Geld kosten lassen, im Gegenzug aber darauf bestanden, dass die Sache damit wirklich, endgültig und unwiderruflich als diplomatischer und völkerrechtlicher Einspruchsgrund gegen libysche Interessen aus der Welt kommt.[9] Das Recht der USA und der NATO, mittels der Definition der „globalen Menschheitsprobleme“ und der dafür fälligen „Lösungen“ die Agenda der Weltordnung zu bestimmen, bestreitet er nach wie vor: Die UNO nutzt er als Forum [10] dafür, seine abweichenden politischen Diagnosen und Schuldzuweisungen sowie seine alternativen Lösungsvorschläge zu propagieren.[11] Amerikanischen Vorstößen zur Vereinnahmung Libyens ist er mit dem Statement begegnet, dass Amerika und Libyen sich zwar nicht anfeinden müssten, aber nie Freunde sein würden. Auch in der absurden Welt des diplomatischen Protokolls mit all seiner bedeutungsschweren Symbolik hat er darauf bestanden und mit einer abweichenden Diplomatie demonstriert, dass Libyen als souveräner Staat auf Augenhöhe mit denjenigen Staaten behandelt werden müsse, die ihr Gewicht seiner Auffassung nach unrechter Bereicherung und Gewalttätigkeit auf Kosten der übrigen Nationen verdanken. Mehr noch: Er hat sich angemaßt, eigene Vorstellungen von einer gerechten internationalen Ordnung zu präsentieren, also davon, wie Recht und Unrecht, gute von schlechten Sitten im Umgang der Staaten miteinander zu scheiden sind. Diesen seinen Willen zur Abgrenzung gegen die herrschenden Maßstäbe hat er auch mit seinen eigenwilligen Auftritten und Staatsbesuchen bewusst unterstrichen.[12]

Mit all dem hat Gaddafi keinen Zweifel daran gelassen, dass er seine unbestreitbaren Leistungen für die westliche Ölversorgung, das Dollarrecycling und die Flüchtlingspolitik der EU nicht als Eintrittsgeschenk in das Lager derjenigen Nationen verstanden wissen wollte, welche die fertig eingerichtete Weltordnung samt ihren „Spielregeln“ als die gültige Grundlage für alle legitimen staatlichen Ambitionen betrachten. Das hat den Westen auch nach dem Ende der politischen Ächtung und der Wiederaufnahme der Geschäftemacherei dauerhaft gestört.

Mit der zuverlässigen Ablieferung bzw. Durchleitung von Rohstoffen, der Erfüllung von Diensten als Flüchtlings- und Terroristenbekämpfer und anderen Beweisen zivilisierten Benehmens sind imperialistische Ansprüche an andere Staaten eben noch lange nicht erfüllt. Schon gar nicht kann man so einen Freibrief für Eigenmächtigkeiten oder Insubordination erkaufen, im Gegenteil. Aus imperialistischer Sicht ist nicht trotz, sondern wegen des jeweiligen Nutzens, für den eine Nation in Beschlag genommen wird, eine viel weiter gehende Unterordnung unter westliche Oberhoheit als bloß das Verrichten solcher Dienstleistungen fällig. Das gilt gerade für einen „Ölstaat“ in einer geopolitisch bedeutenden Region, wie Libyen es ist. Dieser Staat hat die Hoheit über einen Stoff, den die Gemeinde der entwickelten kapitalistischen Industrienationen als ihren strategischen Rohstoff beansprucht. Von diesem Anspruch her muss sichergestellt sein, dass das Öl nicht einfach irgendwie bei „uns“ landet, sondern sicher, also dauerhaft und zu „unseren“ Konditionen. Das beinhaltet nicht weniger als die Festlegung Libyens auf den Status einer staatlich organisierten Ölquelle und -raffinerie, also auf den Verzicht dieser Nation auf irgendwelche Ambitionen, die dem auch nur potenziell in die Quere kommen könnten. Das ist schon im Hinblick auf traditionell mit dem Westen verbündete königliche Dynastien wie Saudi Arabien ein ziemlicher Widerspruch, der beständig Druck und Kontrolle erfordert: Die sollen das Öl aus konzediertem Eigennutz an uns verkaufen, sich den Inhalt ihres eigennützigen Nationalismus aber ganz danach aussuchen, dass er ohne Abstriche für die westlichen Ansprüche taugt. Vollends unerträglich wird es für Weltordnungs-Politiker jedoch bei Libyen, das nicht einfach perspektivisch „mehr als“ ein bloßer Ölstaat sein will, sondern die gesamte Weltordnung, innerhalb derer es seine Funktion versieht, für prinzipiell veränderungswürdig hält. Und das für diesen Veränderungswillen auch noch einige Mittel hat. Denn das ist ja die andere Seite „unserer Abhängigkeit vom Öl des Diktators“ und ein weiterer Grund für die westliche Feindschaft gegen Gaddafis Politik: Ausgerechnet das im Rahmen des eingerichteten Weltölmarkts und getreu seiner Preisbildungsprinzipien ablaufende libysche Lieferwesen verschafft dem Revolutionsführer die finanziellen Mittel und damit die unerfreuliche Freiheit, seine dissidenten Weltordnungsvorstellungen – soweit sie eben reichen – zum praktischen Programm zu machen.[13]

Dass Gaddafi mit seinen Feindseligkeiten und Quertreibereien auch noch eine eigene politische Idee von der wahren Einheit von Staat und Volk in der Welt etablieren wollte, ist für amtierende Imperialisten da fast schon unerheblich. Die alternative Staatsräson und ihre ideologische Begründung in der „Dritten Universaltheorie“ haben sie – wenn überhaupt – als Indiz für den Grad dessen zur Kenntnis genommen, wie sehr dieser Staatsmann von den Prinzipien verantwortungsvollen Gewaltgebrauchs, die sie in der Welt verankern wollen.

2. Die auf Öldollars gegründete sozialistische Volksdschamahiriya

Mit seinem antiimperialistischen Standpunkt, also gegen die Unterwerfung Libyens unter ausländische Interessen, die eine autonome Entwicklung verhindern, in der Volks- und nationales Wohl aufs Beste zueinander passen, ist Gaddafi angetreten. Er hat sich schrittweise daran gemacht, die libysche Nation zu formen, die ihm dafür vorgeschwebt hat. Er hat die sachlichen und menschlichen Gegebenheiten auf dem durch koloniale Grenzziehung definierten staatlichen Territorium gesichtet und als mehr oder weniger gute Bedingungen für sein Projekt des nationalen Aufbaus benutzt oder als dafür unbrauchbar verworfen.

Von Gaddafis Standpunkt des Führers einer alle Libyer einigenden, sie alle materiell und geistig-moralisch einbegreifenden Nation, war das Bild, das sich ihm bot, tatsächlich wüst: Das Land verfügte über schon damals bekannte und zum Teil ausgebeutete große Erdöl- und Gasvorkommen – und doch profitierten davon nur die allerwenigsten Landesbewohner. Eine religiös-feudale Aristokratie, an deren Spitze der König stand, der sich sowohl als religiöser wie weltlicher Führer der ihm loyalen Stämme verstand, gehörte zu den wenigen Nutznießern, dazu eine kleine Schicht der für den Ölreichtum und seine Verwendung nötigen Verwalter, private Importeure, ausländische Kapitalisten. Die meisten Libyer hockten dagegen ziemlich oder gänzlich unberührt von dem neuen Reichtum in ihren überkommenen Tätigkeiten als Handwerker und Ladenbesitzer oder versuchten als Bauern oder Vieh treibende Nomaden, der Wüste eine kärgliche Existenz abzutrotzen. Ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl konnte der Oberst unter ihnen nicht entdecken, stattdessen Unterwürfigkeit gegenüber der Monarchie, Stammesdünkel und -feindschaft und religiösen Gehorsam gegenüber islamischen Autoritäten. Das sollte sich ändern.

Den Ölreichtum, genauer gesagt: das mit dem Export von Öl an den Westen ins Land gelangende Geld, unterwarf Gaddafi dem vollständigen politischen Zugriff des neu zu gründenden libyschen Staates. Über eine gewisse Zeit hinweg unternahm er entsprechende Schritte, die schließlich in der vollständigen Nationalisierung der Ölindustrie und ihrer Gewinne resultierten. Auch anderes aus- und inländisches Kapital wurde verstaatlicht. Mit dem Auf- und Ausbau einer staatlichen Ölwirtschaft brauchte Gaddafi nicht darauf warten, bis er die dazu nötigen Funktionen von neu ausgebildeten Libyern ausführen lassen konnte. Dafür, wie auch für den Aufbau eines modernen staatlichen Sozial-, Verwaltungs- und auch Gewaltapparates konnte der Revolutionsführer dank der bei ihm versammelten Petrodollars auf ausländisches Personal setzen, an dem es keinen Mangel gab: Die einfachen Arbeitsknechte hat er vor allem in afrikanischen, in ärmeren arabischen und asiatischen Ländern angeheuert, für die besseren Tätigkeiten haben sich Ingenieure und sonstiges Personal in westlichen, teilweise auch in östlichen ‚Industrieländern‘ gefunden. Für Verwaltungsaufgaben standen u.a. vertriebene Palästinenser zur Verfügung.[14] Auf die Weise hat der libysche Staatschef eine vollständige nationale Öl-Ökonomie neben der einheimischen, seiner Hoheit unterworfenen Bevölkerung aufgebaut; beides – der Zugriff auf ausländisches Geld und auf genug Gastarbeiter für jede Art von Tätigkeiten auf allen Hierarchiestufen – verschaffte dem visionären „Freien Offizier“ die Freiheit für seine weiteren Vorhaben.

Zu denen gehörte ganz vordringlich die materielle und sittliche Aufmöbelung derer, die er als ‚libysches Volk‘ ins Auge fasste. Erbärmliche Lebensumstände, die aus gesellschaftlichen Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnissen stammten, wollte er ebenso abschaffen wie die Trostlosigkeit eines mit primitiven bäuerlichen und nomadischen Mitteln geführten Kampfes gegen die widrigen Naturbedingungen in der Wüste. Privates Eigentum sah Gaddafi dabei als Kern all der sozialen Gegensätze an, die er innerhalb seiner libyschen Gesellschaft zur Kenntnis nehmen musste: den Gegensatz ‚zwischen Produzent und Verbraucher‘, den Gegensatz zwischen Grundeigentümer und Bewohner bzw. bäuerlichem Pächter usw.[15] Also wurde das Eigentum schrittweise abgeschafft bzw. auf den Maßstab des für den eigenen Verbrauch Nötigen reduziert. Medizinische und andere materielle Leistungen der ‚Daseinsvorsorge‘ wie die Versorgung mit Wohnungen, die diesen Namen verdienen, befestigte Straßen, ausreichend Wasser usw. wurden zu staatlichen Aufgaben erklärt und aus Ölgeldern finanziert. Die Libyer, die Gaddafi dafür neben den Ausländern verwendet hat: Lehrer, medizinisches Personal, Ingenieure, Verwaltungsleute, wurden ausgebildet und mit vergleichsweise üppigen und verglichen mit kapitalistischen Verhältnissen vor allem extrem undifferenzierten Gehältern versorgt. Für die anderen Libyer, die traditionell als Bauern und Halbnomaden bzw. im städtischen Handwerk tätig waren, sollten deren überkommene Existenzweisen den elenden Charakter eines beständigen Überlebenskampfes verlieren.[16]

All diese Maßnahmen, die das materielle Leben der Libyer zum Teil ziemlich gründlich umkrempelten und jedenfalls für die meisten erleichterten, sollten dazu dienen, die Libyer von ihrer bornierten – auch der ideologischen – Einhausung in den alten Verhältnisse weg- und auf die neue, große, nunmehr ihre libysche Nation hinzuorientieren. Zu diesem Zweck hat der Chef des ‚Revolutionären Kommandorates‘ seine von oben angeleierte Umgestaltung der sozialen Verhältnisse in Libyen immer als Angebot und Auftrag an die Libyer betrieben, die Veränderung ihrer Lebensbedingungen als ihre ureigenste Sache zu begreifen. So hat er die schrittweise Enteignung bzw. Verstaatlichung privater Unternehmen, auch die Subsumtion aller von ihm geerbten Herrschaftsapparate unter die neue Staatlichkeit, als Aktion der berühmt-berüchtigten Volkskomitees durchgeführt oder inszeniert.[17] Später wurden im ganzen Land Volkskongresse geschaffen, an denen im Prinzip alle erwachsenen Libyer teilnehmen sollten. Die möglichst vollständige und möglichst unmittelbare Einbeziehung der Libyer in die Regelung der von ihm als Staatschef auf die Tagesordnung gesetzten ‚öffentlichen Angelegenheiten‘ sollte ihren Willen zur herrschaftlich definierten libyschen Nation als ihrem großen Gemeinschaftsprojekt formen. Die Hindernisse, die er für diese Erschließung all der unterschiedlichen Bevölkerungsteile sah, hat er in der Weise bekämpft, die er für angebracht und konsequent hielt: Er ließ die Leute ausbilden und sorgte dafür, dass der Besuch auch der höheren Abteilung der Bildungseinrichtungen nicht am Geldbeutel oder sonstwie an der Herkunft oder dem Status der Eltern hingen. Die Unterdrückung der Frau und ihre Festlegung auf familiäre Reproduktionsdienste hat er per Gesetz bekämpft und dafür gesorgt, dass Frauen zunehmend in der Berufswelt tätig sind.[18] Die seiner Autorität entgegenstehende Hoheit von Stammesältesten und Klerikern über das Bewusstsein ihrer Schäfchen hat er durch die Propagierung seiner Idee einer egalitären, alle Libyer einbegreifenden Nation ebenso zu bekämpfen versucht wie durch die Erschießung von Stammes- und Clanchefs, die sich dem von ihm ausgerufenen und betriebenen ‚gesellschaftlichen Fortschritt‘ widersetzten. Die Verknüpfung von religiöser und staatlicher Macht hat Gaddafi zerschlagen und einen dem Volk verpflichteten Islam propagiert. So wurde der Religion – und damit ihren Repräsentanten – der weltliche Herrschaftsanspruch bestritten, um sie als nützlichen Bestandteil in das neue Staatsprojekt ein- und ihm damit unterzuordnen.

Bei aller revolutionären Emphase ist Gaddafi auch in einer weiteren Hinsicht ganz Staatsmann geblieben: Er hat nicht nur vorgegeben, sondern praktizierte selbst – als „Bruder Führer“ eben – den politischen Idealismus, dass er mit seinem Umsturz von oben vor und neben allen Gegensätzen, die er damit gegenüber den Insassen des Landes und deren bisherigen Lebens- und Denkweisen eröffnet hat, mit diesem Volk in einer ganz prinzipiellen Weise einig war. Sein Staatsgründungsprogramm sollte nur dem entsprechen, was er im Volk als dessen ewiges Bedürfnis immer schon schlummern und in allen möglichen Momenten der alten Verhältnisse auch schon – irgendwie – wirken sah. Dieser Idealismus, der zugleich ein ideologisch-moralisches Zusatzangebot an die Libyer war, sich seinem Projekt des von den ‚Volksmassen‘ getragenen ‚Großen Sozialistischen Arabischen‘ anzuschließen, war denn auch die zweite Seite seines „islamischen Sozialismus“: Zu dem gehörte nämlich ein sehr konservativer Blick auf sein Volk und seine hergebrachten Lebens- und Denkweisen – als stammesmäßig organisierte Nomaden und Halbnomaden, in Clanstrukturen untergebrachte Krämer und Handwerker, sich mit den Fragen der rechten Moral herumschlagende islamische Schriftgelehrte usw. Ausgerechnet in denen wollte er nämlich lauter bewahrenswerte Grundlagen für sein Projekt eines freien libyschen Gemeinwesens entdeckt haben. In diesen Formen „sozialer Beziehungen“ sah er die ebenso real existierende wie wertvolle Basis, die sich im Rahmen der Nation nur auf höherer Ebene reproduziert. Der Familie und dem Stamm schrieb er in seinem „Grünen Buch“, was sittliche Erziehung, materielle Reproduktion und Schutz vor Übergriffen anbelangt, nicht nur äußerst positive, sondern im Prinzip unersetzliche, menschennatürliche Bedeutung zu, deren Missachtung auf Dauer zum Zerfall jeglicher menschlicher Gemeinschaft führen müsse. Die neue libysche Nation machte er seinen Landsleuten so nicht nur als basisdemokratische und egalitäre Gemeinschaft gleichgesinnter freier Menschen, sondern auch als große Föderation naturwüchsig miteinander verwachsener und verwandter Stämme vorstellig, die sich ungefähr genauso naturnotwendig aus den Stämmen heraus entwickelt, wie der Stamm aus den Familien. Und so wie das Familienoberhaupt den Seinen Aufgaben zuweist, sie mit bestimmten Funktionen betraut, lobt und tadelt, wollte er sich mit den Stämmen ins Benehmen setzen: den von ihm verwalteten Reichtum an sie verteilen, sie an der Organisierung und Sicherung der staatlichen zivilen und militärischen Macht beteiligen, dafür aber auch Loyalität einfordern und ihr Fehlen bestrafen. Entsprechend hielt es der Herrscher mit der Religion: Die andere Seite ihrer Unterordnung zum Zwecke der Funktionalisierung ist ja ihre Anerkennung als im Prinzip brauchbares und den arabischen Wüstenmenschen auf den Leib bzw. die Seele geschneidertes Mittel zu ihrer moralisch-sittlichen Erhebung. Also hat Gaddafi den Islam zur Staatsreligion erhoben – sogar die Staatsbürgerschaft an das Glaubensbekenntnis geknüpft – und eine ganze Schar von revolutionären muslimischen Gelehrten damit beschäftigt und dafür versorgt, das Islamische am Sozialismus genauso zu ergründen wie das Sozialistische am Islam.[19]

Bezweckt hat der libysche Revolutionsführer mit seinem Nebeneinander von Grußadressen an alte Stammestraditionen und der Einrichtung eines Systems von basisdemokratischen Entscheidungs-, Exekutiv- und Kontrollinstanzen, dass die Libyer, die er mit dem von ihm organisierten Fluss von Öldollars beglückte, sich als die Subjekte dieser neuen Ölrenten-Wohlfahrt begreifen und aufführen, sich der mit dieser Sorte Ökonomie entstehenden Probleme annehmen und sie gemeinsam lösen. Bekommen hat er etwas anderes. Seine auf dem staatsmächtig sichergestellten Reichtumsmonopol beruhende Zuteilung von bzw. Beteiligung des Volkes an diesem Reichtum hat einen neuartigen Materialismus der Empfänger dieser Wohltaten geschaffen, der ganz prinzipiell dem widersprach, was sich der volksfreundliche Oberst als automatischen Zusammenhang von saturierten Bedürfnissen und konstruktivem Engagement für den neuen Staat erhofft hat. Das ging schon damit los, dass der Führer die Festlegung der allgemeinen Notwendigkeiten für sich und seine obersten Machtinstanzen reserviert hat. Seinen Landeskindern konnte ja nicht entgehen, dass ihre ‚Mitbestimmung‘ sich praktisch darauf zusammengekürzt hat, sich um die Verwendung der Teile des Ölreichtums zu streiten, die der Führer überhaupt nur diesem Streit überantwortet hat. Ganz folgerichtig ist dieser Streit dann auch prinzipiell der von Zuteilungsempfängern darum gewesen, wofür welche Teile des Reichtums verwendet, also wem sie zugeteilt werden sollen – worin der Übergang zur Unzufriedenheit mit den politischen Vorgaben und der allgemeinen Prioritätensetzung durch die Regierung des Obersten jederzeit eingeschlossen ist. Das hat weiter dazu geführt, dass die personellen Entscheidungen für die staatlichen Betriebe, Einrichtungen und Behörden, die Gaddafi den Volkskongressen überantwortet hat, entgegen seiner Vorstellung davon bestimmt wurden, dass die zur Entscheidung und Kontrolle aufgerufenen Gremien und Instanzen ihre Figuren möglichst zahlreich und möglichst prominent im Apparat der staatlichen Organisation und Zuteilung des Dollarsegens platzieren wollten. Das Bedürfnis, einen möglichst großen Teil des zu verteilenden Reichtums auf sich zu lenken und dafür möglichst maßgeblich an der Verteilungsmacht beteiligt zu sein, heftete sich an die überkommenen Strukturen der Stämme und Clans, die nun einen neuen polit-ökonomischen Charakter bekamen: als kollektive Subjekte des von Gaddafi zwar nicht bezweckten, aber eben doch angezettelten Streits um Anteile am Reichtum und an der Macht über seine Zuteilung.

Die neuen ‚revolutionären‘ Gremien blieben also die Wirkung schuldig, die sich der Revolutionschef von ihnen versprochen hatte. Gaddafi hat darauf so reagiert, dass er immer aufs Neue an der Organisationsweise dieses Staatszwecks – der produktiven Einbindung des Volkes – herumreformiert hat: Andauernd hat er neue Beschluss- und Kontrollorgane geschaffen, alte abgeschafft, aus seiner Variante von ‚demokratischem Zentralismus‘ ganze Hierarchieebenen herausgestrichen, anschließend wieder andere eingeführt; dann wieder hat er vom „Revolutionären Kommandorat“ (der höchsten Autorität im Staat) herunter eine parallele Kontrollstruktur eingeführt und wieder modifiziert …[20] Der von ihm geschaffenen neuen Rolle überkommener Stammes- und Clanstrukturen, die nun – im Unterschied zu früher – alle vermittelt über ihren Bezug auf seine Führung konkurrierend zueinander im Verhältnis standen, versuchte er mit einer – wechselnd gewichteten – Mischung aus Repression und Anerkennung Herr zu werden.[21] Die für die Hoheit über diese Konkurrenz um die Beteiligung an der hoheitlichen Reichtumszuteilung nötige Gewalt hat Gaddafi nicht gescheut. Den entsprechenden Gewaltapparat hat er sich dank seiner Petrodollars leisten können. Die Aufgabe des libyschen Militärs bestand daher nicht nur in der Absicherung der libyschen Souveränität nach außen, sondern zugleich in der fortdauernden Durchsetzung von Gaddafis Machtanspruch nach innen. Dem entsprach dann auch die Art und Weise, wie Gaddafi die personelle Ausstattung seiner Truppen organisiert hat: Er ist dafür nicht egalitär seiner männlichen Jugend auf die Pelle gerückt, sondern hat – abgestuft nach der Bedeutung, die er den jeweiligen Truppenteilen zumaß – sich auf engere und weniger enge Loyalitäten bezogen; die hat er entlang der Stammeslinien gefunden, welche er auf diese Weise zugleich reproduziert hat. Für die Bedienung der entscheidenden Gewaltgeräte seines Staates, z.B. die Luftwaffe, hat er zum großen Teil auf gut ausgebildete arabische, pakistanische und seit den 90er Jahren auch auf ex-jugoslawische Fachleute gesetzt.

3. Ein polit-ökonomisches Experiment neuer Art: die Abschaffung des ‚Dritten Wegs‘ als Versuch seiner Rettung

Während der Jahrzehnte, in denen der „Bruder Führer“ Libyen seinem Staatsprojekt unterwarf, hat dieses Projekt seine eigenartige Basis nie überwunden, sondern beständig reproduziert: Die sachlichen und menschlichen Reichtumsquellen des Staates existieren neben den Landesbewohnern, die der Staat als sein Volk betrachtet und schätzt. Der prekäre Charakter dieser politökonomischen Konstruktion hat sich im Laufe der Zeit zunehmend offenbart: Der Reichtum, der dem Staat für seinen Unterhalt und zur Verteilung an sein Volk zur Verfügung steht, ist für ganz eigene Unsicherheiten und Konjunkturen anfällig: Sein ‚Wert‘ steht und fällt mit der Stetigkeit und Masse des per Ölexport fließenden Geldes ebenso wie mit der Verlässlichkeit des Zugriffs auf den im kapitalistischen Ausland vorhandenen sachlichen Warenreichtum sowie dem Verhältnis dieser beiden Seiten zum staatlichen Bedarf, also zum Umfang der Ausgaben, die erstens für den Herrschaftsapparat anfallen, zweitens für das gar nicht produktiv gemachte Volk und drittens für eine ambitionierte Außenpolitik, die ihrerseits keinen Beitrag, sondern eine weitere Belastung für das Staatseinkommen und für die Beschaffung der benötigten sachlichen Mittel – im mehr oder weniger feindlichen – Ausland darstellt. Erfahren hat Gaddafi diese prinzipielle Unsicherheit an allen diesen Momenten nach- und nebeneinander: In den 90er Jahren ist der inzwischen wieder erfreulich hohe Ölpreis ins Bodenlose gefallen; das Embargo hat die Ölindustrie verfallen lassen und zugleich den käuflichen Zugriff auf so manche Ware auf dem Weltmarkt beschränkt; das Volk wächst und wächst und vergrößert sich immer nur als Kostgänger.[22] Und auch diese zwischenzeitlichen und zunehmenden Schwierigkeiten haben die Libyer nicht im Sinne Gaddafis als Auftakt dazu genommen, sie gemeinsam zu lösen, also sich vor allem geschlossen um den „Bruder Führer“ zu versammeln, um seinen weisen Ratschluss zu hören und zu befolgen. Vielmehr hat sich der Kampf um Zuteilung und Zuteilungsmacht ebenso verschärft wie der kritische Blick auf den obersten Machthaber, der über die staatliche Organisation des Reichtums und die Konkurrenz um diesen wacht. Um die wachsenden Schwierigkeiten, den Staat und seine Volksmassen ökonomisch zu unterhalten und so füreinander brauchbar zu halten bzw. zu machen, zu beseitigen, holte Gaddafi zu einer ‚Reform‘ aus, die zwangsläufig neue Grundsatzprobleme aufwirft: Ausgerechnet das so verschmähte kapitalistische Eigentum sollte zum Mittel dafür werden, Staat und Volk weiter und besser als bisher zu versorgen.

Zunächst sollten die Öleinnahmen selber erweitert und dafür die einst vertriebenen westlichen Kapitale wieder ins Land geholt werden. Die in den letzten Jahren dank des Preisbooms stark angewachsenen Öleinkommen sollten das Mittel dafür sein, die ausländischen Anleger für Investitionen zu gewinnen. Die umworbenen Geschäftsleute sollten nicht nur im begrenzten Bereich der Exploration, der Förderung und Verschiffung von Öl tätig werden, sondern zugleich für die Entstehung einer libyschen Petrochemie sorgen. Im Bereich der Infrastruktur wünschte Gaddafi von den westlichen Unternehmen eine umfassende Erneuerung und Modernisierung, nicht zuletzt, damit weitere Kapitale in Libyen investieren und andere Industrien aufbauen, die das Land einerseits von bestimmten Importen unabhängig machen und auf der anderen Seite für eine Erweiterung der Palette der exportierbaren Produkte sorgen. Das einst als asozial verunglimpfte private Eigentum an Produktionsmitteln, Grund und Boden wurde stückweise rehabilitiert, Banken nahmen ihre Geschäftstätigkeit wieder auf, eine Börse wurde eröffnet und eine neue Schicht von Kapitalisten hat begonnen, einen Reichtum zur Schau zu stellen, für den man vor einer Weile noch zum Volksfeind erklärt worden war. Um den von ihm anvisierten Nutzen sicherzustellen, knüpfte Gaddafi alle Öffnungs- und Investitionsangebote an das ausländische wie das inzwischen lizenzierte inländische Kapital an eine Reihe von Bedingungen: Ausländisches Kapital wurde mit Joint-venture-Vorschriften bezüglich nationaler Mindestbeteiligung beim Eigentum und ausländischen Mindestbeteiligungen am Investitionsvolumen u.ä. belegt. Wenn das nicht ausreichte, hat die libysche Ölbehörde NOC auch auf andere Weise dafür gesorgt, dass sich der von ihr erwartete Nutzen einstellte.[23] Für inländisches Kapital hat Gaddafis Regierung sowohl neue Möglichkeiten der Betätigung geschaffen als auch dafür gesorgt, dass die Unternehmen eine bestimmte Maximalgröße nicht überschreiten, welche ihre Unterordnung unter sein Recht und ihre nationale Brauchbarkeit sicherstellen sollte.[24] Eine Wirkung hat Gaddafi so auf jeden Fall erreicht: Mit dem neuerdings zugelassenen Reichtum hat praktisch die Konkurrenz um ihn eingesetzt, jetzt eben in der Fassung der Konkurrenz um staatlich erteilte Gelegenheiten zu privater geschäftlicher Bereicherung. Und da der ‚Wettbewerb‘ um die ganz großen Kuchenstücke in der Regel durch Zugehörigkeit oder Nähe zum Gaddafi-Clan vorentschieden ist, so heizt das die Unzufriedenheit unter den Zu-kurz-Gekommenen nur noch mehr an. Zumal ‚flankierende Maßnahmen‘ wie die Streichung von staatlichen Subventionen für Grundbedarfsgüter und die Entlassung von zehntausenden Staatsbediensteten [25] auch in der libyschen Variante von ‚Öffnung‘ nicht fehlten.

Auch diese finale Reform hat Gaddafi nicht als Gegensatz gegen sein altes Programm und schon gar nicht als Gegensatz der Staatsmacht gegen die Leute und ihre materiellen Ansprüche verstanden wissen wollen, sondern als – freilich aus der Not geborene – konsequente Fortführung, gar Vollendung seiner Idee der „Kontrolle des Volkes über das Volk“ und als Neu-Erschließung von materiellen Quellen dafür. Unterbreitet hat er seinen verehrten Landsleuten daher lauter Angebote, sich vermehrt in das große gemeinsame Projekt einzubringen: Mit staatlich vergebenen Krediten, großzügigen Übergangsregelungen für Ex-Staatsbeamte usw. wollte er sie dazu ‚ermutigen‘, ökonomisch auf eigene Faust aktiv zu werden, sich ihren Teil am Reichtum zu ergattern und darüber zugleich nützlich für das große Ganze zu werden.

Weil er nicht vorhatte, die Libyer einfach per staatlich verordneter Verarmung zu den neuartigen kapitalistischen Diensten zu zwingen, setzte er wiederum auf ihre staatsbürgerliche Moral: Im Jahr 2008 „regte“ er die Abschaffung der meisten staatlichen Ministerien und Behörden „an“, um den Reichtum „direkt“ ans Volk zu verteilen. Dieses musste sich zugleich von ihm beschimpfen lassen, zu großen Teilen aus arbeitsscheuen Egoisten zu bestehen, die immer nur Forderungen stellten und sich um nichts kümmerten. Das wollte er ihnen nicht länger gestatten, sondern sie dazu zwingen, sich in den Volkskongressen mit den Widersprüchen der Funktionalisierung des Kapitalismus für die Bewahrung der Volkswohlfahrt als in jeder Hinsicht ihrer Angelegenheit zu befassen. Seine Position als dem allgemeinen Volkswohl verpflichteter oberster Scheich der Libyer versuchte er von den konkreten und zunehmend unpopulären Maßnahmen im Rahmen der ‚Öffnung‘ abzusetzen und zu bewahren, indem er sich seinen Sohn Saif al-Islam als Personifizierung der neuen ökonomischen Vernunft gegenüberstellte, ihn teilweise offiziell tadelte usw. Den parallel anwachsenden Gewaltbedarf des Staates hat Gaddafi auch in dieser ‚Phase‘ nicht aus den Augen verloren, sondern ist mit der Verschärfung von Strafgesetzen und unter ausdrücklichem Rückgriff auf Stammesloyalitäten gegen die Unruhestifter vorgegangen.[26] Die Unzufriedenheit hat sich immer häufiger und entsprechend all der materiellen Interessen und moralischen Interpretationen geäußert, die der libysche Führer in den Jahrzehnten seines Wirkens zum Teil ins Recht gesetzt, zum Teil zurechtgestutzt hat: als „Reformmüdigkeit“ und Unlust, an der von Gaddafi angepriesenen Dschamahiriya und ihren Institutionen mitzuwirken, als Klage über ausbleibende materielle Leistungen des Staates, als Hass auf zunehmend korrupte Staatsbeamte und andere ‚Neureiche‘, als Forderung nach einer größeren oder überhaupt wahrhaften Orientierung am Islam und nicht zuletzt als Neid und Feindschaft zwischen den Stämmen gemäß ihrer Beteiligung bzw. ihrem Ausschluss vom Reichtum und der Beteiligung an der Macht.

Eines bleibt den gebeutelten Libyern wenigstens erspart: Den Ausgang dieses Experiments der Rettung des islamischen Sozialismus mit den Mitteln des kapitalistischen Geschäfts müssen sie nun nicht mehr abwarten. Das ersparen ihnen die politischen Herren des Weltkapitalismus mit ihrer Sorte Parteinahme für die einheimischen Rebellen und die NATO mit ihren andauernden Bombardements, die dem „Regime Gaddafi“ keine Überlebenschance geben.

[1] Eine Gesetzesvorlage, die die OPEC zu einem kriminellen Preiskartell erklärt, existiert in den USA seit Jahren; insbesondere die Republikaner fordern regelmäßig, diese Vorlage als ordentliches Gesetz zu verabschieden.

[2] Auf dem Gipfel der Arabischen Liga 2008 stellt Gaddafi enttäuscht die Unvereinbarkeit der Anliegen fest: Unser Blut und unsere Sprache mögen gemeinsam sein, aber es gibt nichts, was uns einen könnte. Dazu, dass die AL tatenlos zugesehen habe, wie die USA Irak zuerst überfallen und dann den irakischen Staatschef aufgespürt und hingerichtet haben, sagte er: Sie haben ihn zuerst benutzt und dann verkauft. Ihr werdet auch noch drankommen. Diese Warnung hatte damals noch ausgelassene Heiterkeit bei den versammelten arabischen Führern ausgelöst.

[3] Ein Höhepunkt war das libysche Engagement im Tschad. Hier unterstützte Libyen eine Bürgerkriegspartei, die Tschad aus dem Griff französischer Afrikapolitik lösen wollte, und griff in den 80er Jahren auch mit eigenen Truppen in den Krieg ein. Dies wird von den gleichen Berichterstattern als ‚Akt offener Aggression‘ bezeichnet, die im nächsten Satz zufrieden aufschreiben, dass besagte Aggression seinerzeit von – zufällig? – im Tschad anwesenden französischen Truppen beendet worden ist.

[4] Gaddafi hat in Libyen u.a. eine im Prinzip vollständig aus afrikanischen Kräften bestehende Panafrikanisch-Islamische Legion aufgebaut. Dass der libysche Staatschef unter diesen Leuten inzwischen mehr Anhänger hat als unter Teilen seines ‚eigenen Volkes‘; dass Schwarzafrikaner ganz schlicht einem panafrikanischen Programm Gaddafis mehr vertrauen als dem offen anti-afrikanischen, sich im Zuge des Aufstandes und auch davor schon in Orgien der Gewalt entladenden Rassismus von libyschen Arabern – das wird hierzulande als ‚Söldnertum‘ ab- und damit Gaddafis Sündenregister hinzugebucht.

[5] In den 80er Jahren werden über Schottland eine amerikanische und über Niger eine französische Passagiermaschine gesprengt; beide Terrorakte werden dem libyschen Geheimdienst zugeschrieben.

[6] Diese Anerkennung als souveräner Staat, der nicht nur unter dem Kalkül von Antiterror- und Atomschurkenlisten begrenzt respektiert wird, hat er nie bekommen, was seine Vorbehalte gegen diese Weltordnung nur bestätigt hat: Kaum hat Frankreich seinerzeit durchblicken lassen, dass es sich den Verkauf eines Atomreaktors an Libyen überlege, hat die daraufhin einsetzende massive Kritik von Seiten der USA, aber auch Deutschlands und anderer Staaten, deutlich gemacht, dass Libyen eben doch kein „normaler“ Staat ist.

[7] Frankreich vereinbarte 2007 die Lieferung eines Atomreaktors, den Libyen für die energieintensive Meerwasserentsalzung einsetzen will. Außerdem wurde zwischen beiden Staaten die Modernisierung der libyschen Marine und von Teilen der Luftwaffe vereinbart. Von Deutschland wurde dies seinerzeit umgehend offiziell als „bedenklich“ kritisiert. Deutschland beschränkt sich auf unbedenkliche Rüstungszusammenarbeit u.a. im Bereich Hubschrauber und Spähtechnologie; die zivile Zusammenarbeit erstreckt sich vom Ölgeschäft bis zum Tief- und Hochbau, vor allem in der Hauptstadt.

[8] Im Jahr 2002 hat Libyen erstmals eine verstärkte Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage angeboten unter der Bedingung, dass Italien sich für eine Aufhebung der Sanktionen stark macht. Nach der Aufhebung hat die Zusammenarbeit begonnen. Libyen hat von Italien dann Entschädigung für die Kolonialzeit in Milliardenhöhe verlangt und bekommen, die in große Infrastrukturprojekte und auch in Grenzsicherungstechnologie an den Südgrenzen fließt. Das Abkommen zur gemeinsamen Flüchtlingsbekämpfung sieht u.a. einen Ausbildungs- und Technologietransfer für militärisches bzw. polizeiliches Gerät vor.

[9] Auch hier hat die innenpolitische Debatte in Großbritannien dem Libyer vorgeführt, wie wenig er sich auf solche Deals als verbindliche Abmachungen verlassen kann.

[10] Zuletzt im Oktober 2009 vor der Generalversammlung der UN.

[11] Zum Beispiel: Der von der gesamten restlichen Staatenwelt vertretenen „Zwei-Staaten-Lösung“ für den Nahost-Konflikt setzt er sein Projekt „Isratine“ – eine Einstaatenlösung – entgegen.

[12] Diese allemal abweichende Diplomatie für besonders grotesk zu halten, sollte man denen überlassen, die es normal finden, wenn Präsidenten und Kanzler würdevoll über auf Flugplatzbeton ausgerollten roten Teppichen herlaufen und dabei mit ernster Miene an einer Kapelle von Blechblasmusikanten in bunten Uniformen entlangschreiten. Diese Kenner der Materie weigern sich im Fall Gaddafi, dem diplomatischen Auftreten den politischen Zweck zu entnehmen – was sie in anderen Fällen durchaus beherrschen. Das Fehlen jeglicher politischer Vernunft, die sie anerkennen könnten, ersetzen sie durch lauter propagandistische, psychologische oder sonstige abgründige Motive, die den „Operettenoberst“ mal lächerlich, mal bedrohlich erscheinen lassen.

[13] Das fängt schon dabei an, dass Gaddafi seinem Staat ganz zum westlichen Leidwesen eine auswärtige Staatsverschuldung erspart hat, die ansonsten – nicht zuletzt vermittelst solch unparteiischer, nur der ökonomischen Vernunft verpflichteten Instanzen wie des IWF und der Weltbank – als wirksames Instrument der Verpflichtung auf und Zurichtung für westliche Ansprüche dient.

[14] Auf 6 Millionen Libyer kommen inzwischen ca. 1,5 Millionen Ausländer. Wie sehr Gaddafi auch im Bereich staatlicher Tätigkeit auf ausländisches Personal zurückgegriffen hat, zeigte u.a. die Affäre um die bulgarischen Krankenschwestern und den palästinensischen Arzt, die der bewussten Verseuchung ihrer Patienten mit AIDS beschuldigt wurden.

[15] Alles theoretisch Nötige hierzu hat der Revolutionär recht übersichtlich in seinem Grünen Buch aufgeschrieben.

[16] Siehe z.B. das Great Man Made River Project: Mit einem gigantischen Rohrsystem sollten fossile Wasserreservoirs erschlossen und dahin verteilt werden, wo das Wasser gebraucht wurde: als Trinkwasser in den Siedlungszentren und zur Boden-Melioration für die Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge, damit sich Libyen von agrarischen Importen unabhängiger macht.

[17] Vom „Revolutionären Kommandorat“ koordinierte Volkskomitees haben u.a. Betriebe, Häfen, Unis usw. besetzt und die Chefs abgesetzt. Später gab es ein Gesetz der Beteiligung von Arbeitern bzw. Angestellten an der Leitung von Betrieben und Institutionen.

[18] Für den westlichen Beobachter war davon immer nur das Spektakel interessant, welches für ihre Diffamierungskampagnen als Material taugt – die vollständig weiblich besetzte persönliche Leibgarde Gaddafis.

[19] So tobte Anfang der 70er Jahre eine Debatte darüber, wie das islamische Gebot, einem Dieb die Hand abzuschlagen, zu interpretieren sei: im wörtlichen, physischen Sinne oder in der Bedeutung, ‚die Hand‘ müsse von weiteren Missetaten abgehalten werden – durch die Abschaffung dessen, was sie zu solchen Taten verführen könne, nämlich die Not ungestillter Bedürfnisse.

[20] Nicht zuletzt dieses beständige Umwerfen und Neusortieren der Gremien und ihrer Aufgaben ließen diese volksdemokratischen Veranstaltungen in den Augen vieler Libyer zunehmend zu einem bloßen Formalismus der Zustimmung werden, weswegen sich immer weniger Leute für die Mitarbeit in ihnen bereit fanden, zumal die Beteiligten so eine Reform nicht immer vollzählig überlebt haben. Daher mehrten sich im Laufe der Zeit die Ansprachen Gaddafis an sein Volk, es möge sich in den Volkskongressen und Volkskomitees stärker engagieren.

[21] 1994 hat Gaddafi das – wiederum in Unterinstanzen gegliederte – „People’s Social Leadership Committee“ geschaffen, das die offizielle Integration von Stammes- und zentralstaatlichen bzw. Volkskongress-Strukturen leisten sollte.

[22] Abgesehen vom Öl habt ihr nichts. Zeigt mir, welche anderen Güter als das Öl von Libyern produziert werden und Geld ins Land ziehen können. Täuscht euch nicht, das einzige, was ihr habt, ist Öl. Wenn es eine Ölkrise gibt, dann betrifft sie euch alle... Wir produzieren nichts. Wir verkaufen nur Öl und konsumieren alles. Die Art von Handel, bei der ihr nichts produziert und Waren im Austausch für Öl einführt, ist eine Katastrophe. – so Gaddafi an sein inzwischen von ca. 1 Mio (1969) auf 6 Mio Leute angewachsenes Volk 2005.

[23] Im Jahr 2009 sorgte der Fall der relativ kleinen kanadischen Ölfirma Verenex für Aufsehen, die zunächst an die inzwischen zu den Marktriesen zählende chinesische CNPC verkauft werden sollte. Der Kauf wurde dann von der libyschen NOC so lange hintertrieben, bis die Chinesen ausstiegen und Verenex an die NOC verkauft wurde.

[24] So gab es 2009 Pläne, in der Märzsitzung des GPC (General People Congress) eine neue Gesetzgebung einzuführen, um die Größe der Firmen zu begrenzen, ebenso wie den Reichtum, den Einzelpersonen anhäufen können. Die aktuelle Absicht ist es, Monopole, deren Entstehung in verschiedenen Sektoren beobachtet wurde, aufzubrechen und den Reichtum und Einfluss wichtiger Geschäftsleute zu reduzieren. (www.telegraph.co.uk)

[25] Zugleich (2008) wurde verkündet, dass nur die Behörden abgeschafft, nicht aber die Mitarbeiter um ihr Salär gebracht werden sollten; nur würden sie dieses nun „direkt erhalten“ und – so das Ideal – sogar mehr (1000 statt 300 Dollar) davon, weil der ‚Umweg‘ über den Betrieb einer für nutzlos erklärten, viel Geld verschlingenden Behörde entfallen sollte. (ash-Sharq al-Awsat, 4.3.2008)

[26] Nach einem 1997 beschlossenen Ehrenkodex wird bei oppositionellen politischen Aktivitäten Einzelner der gesamte Stamm, dem sie angehören, mit der Reduzierung von staatlichen Zuwendungen bestraft.