Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Grand Prix d’Eurovision
„L’Autriche – douze points!“

Die Veranstaltung gibt es, weil Europas Rundfunkanstalten dem bei den Patrioten aller Länder angesiedelten unstillbaren Bedürfnis, gegen Ausländer anzutreten und hoffentlich zu gewinnen, schon vor einigen Jahrzehnten das Feld der leichten Muse eröffnet haben. Anno 2014 wirft sich ein Mann mit Bart in ein glitzerndes Abendkleid und trägt einen bombastischen Schmachtfetzen vor; nicht ganz so gekonnt wie Shirley Bassey, aber immerhin. Nachdem sie damit die Europameisterschaft im Schlagersingen gewinnt, hat Österreich einen neuen Nationalhelden in der Hermann-Maier-Gewichtsklasse, und die meisten der vielen Querulanten im Vorfeld geben klein bei, denn der Sieg beweist eindeutig: Sie ist einer „von uns“.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Grand Prix d’Eurovision
„L’Autriche – douze points!“

Die Veranstaltung gibt es, weil Europas Rundfunkanstalten dem bei den Patrioten aller Länder angesiedelten unstillbaren Bedürfnis, gegen Ausländer anzutreten und hoffentlich zu gewinnen, schon vor einigen Jahrzehnten das Feld der leichten Muse eröffnet haben. Anno 2014 wirft sich ein Mann mit Bart in ein glitzerndes Abendkleid und trägt einen bombastischen Schmachtfetzen vor; nicht ganz so gekonnt wie Shirley Bassey, aber immerhin. Nachdem sie damit die Europameisterschaft im Schlagersingen gewinnt, hat Österreich einen neuen Nationalhelden in der Hermann-Maier-Gewichtsklasse, und die meisten der vielen Querulanten im Vorfeld geben klein bei, denn der Sieg beweist eindeutig: Sie ist einer „von uns“.

Ein kurzer Blick hinter die Kulissen des glamourösen Showbiz:

Dort befindet sich einmal die Familie. Wegen der von ihr erwarteten Leistungen genießt die „Keimzelle des Staates“ höchste Wertschätzung: Sie soll die physische und sittliche Reproduktion des Volkskörpers leisten; sie wird materiell subventioniert und moralisch hofiert, die Geburtenrate steht unter skeptischer Dauerbeobachtung. Fanatische Verehrer dieser Institution verirren sich gern zur Anschauung, es handle sich um eine natürlich vorgegebene, der Menschenart insofern unverfügbare Lebensform, womit alle Abweichler in die Schublade „Pervers & Widernatürlich“ einsortiert sind. Auch weniger fanatische Anhänger einer in der Familie und nur in ihr beheimateten Sittlichkeit finden an Patchwork-Familien manch Problematisches und an alternativen Formen mehr oder weniger dauerhafter ‚Beziehungen‘ nach wie vor vieles anrüchig. Freilich, seine diesbezüglichen Vorbehalte moralisch entrüstet oder abfällig zum Besten zu geben, gilt heutzutage nicht mehr als politisch korrekt, ohne dass deswegen die Wertschätzung der Keimzelle ausgestorben wäre. Allerdings hat der diesbezügliche Zeitgeist und die Politik, jedenfalls im Westen, inzwischen zur Kenntnis genommen und honoriert, dass auch Homosexuelle in Hinsicht Partnerschaft und Familiensinn sehr normal veranlagt sind. Sie wollen nicht nur, sie dürfen inzwischen auch einige Pflichten füreinander übernehmen, die der Staat früher für Hetero-Eheleute reserviert hatte. Heutzutage beschweren sich umgekehrt Schwule über staatliche Hindernisse, die ihnen das Kriegen und Aufziehen von Kindern schwer machen.

Diese neumodische Liberalität im Umgang mit Gleichgeschlechtlichen und ihre Anerkennung als nützliche Mitglieder der Gesellschaft lassen sich auch vorwärtsweisend interpretieren, von der bloßen Duldung des kürzlich noch fragwürdigen Benehmens hin zum Kompliment an den politischen Dulder und Freiheitsgewährer, wodurch sich ein flächendeckendes Gewaltmonopol als leuchtendes Beispiel für Liberalität und Selbstbestimmung präsentiert.

Diese Interpretation der westlichen Ordnung drängt quasi naturwüchsig auf die Öffnung zusätzlicher Felder: Muss nicht in unserer Spaß- und Freizeitgesellschaft die Anschauung relativ fixer Geschlechterunterschiede – vom Aussehen bis zum Benehmen – als eine der letzten Barrieren echter Selbstverwirklichung gelten? Mann oder Frau – ja warum denn? Diese einengende Alternative gehört reflektiert und problematisiert, z.B. indem sich einer als Frau verkleidet, aber so, dass die Verkleidung garantiert als verkleidet auffällt! So wird im kulturellen Reich der öffentlichen Selbstdarstellung zum soundsovielten Mal mutig ein ‚Tabu‘ gebrochen, das längst keines mehr ist – und an einem aufgetakelten Paradiesvogel die eigene vorurteilslose Weltläufigkeit goutiert.

Das alles hätte womöglich – ohne die künstlerische Leistung zu schmälern – nicht für den Meistertitel in Kopenhagen gereicht, wenn nicht woanders diese kostbaren Varianten der Freiheit mit Füßen getreten würden. In Russland sind seit 2013 „positive Äußerungen über Homosexualität in Anwesenheit von Minderjährigen oder über Medien wie das Internet“ (wikipedia) unter Strafe gestellt, ein Zustand, nur ein klein wenig liberaler als die analoge Rechtslage in Österreich vor 1997: Damals wurde der § 220 StGB mit dem Verbot von „Werbung für Unzucht mit Personen des gleichen Geschlechts“ gestrichen. Mit so einem Verbot – in Feindesland – ist ein Update im ewigen Kampf zwischen Freiheit und Unterdrückung fällig, sobald Russland aus ganz anderen Gründen westliche Interessen stört. Der Witz der Woche: Wegen Putin geraten Schwule zum Symbol der Freiheit. Dort drüben werfen außerdem einige Patrioten die Abteilung „Unterhaltung“ genau so in einen Topf mit dem Ernst des Lebens wie die westliche Öffentlichkeit mit ihrem Faible für die tiefere freiheitliche Bedeutung einer Frau mit Bart auf Europas Sangesbühne. Die besorgten Bürger im Osten können den Verfall ihres Gemeinwesens durch Marktwirtschaft nicht von einem allgemeinen Sittenverfall durch den Import westlicher Freizügigkeit unterscheiden und bestehen kategorisch auf eindeutigen Unterschieden zwischen Frauen und Männern, weil sich sonst jede verbindliche Ordnung auflöst und alles den Bach runterzugehen droht. So wird eine Abstimmung über ein paar Schnulzen zum Votum für unseren westlichen Höchstwert – der verdiente Triumph ist unvermeidlich.