Der Feldzug der zivilisierten Welt gegen das Böse
Die Konstruktion der Kriegsmoral

Jeder Versuch der Erklärung der Terroranschläge auf die USA steht im Verdacht, Verständnis für Tat und Täter zu erzeugen. Die Konstruktion der Kriegsmoral folgt nämlich dem Muster, in Tat und Täter nichts als das Böse zu sehen, das sich gegen das Gute in Gestalt von Amerika, der freien Welt und damit „uns“ richtet. Die amerikanische Kriegsantwort ist gerecht, notwendig, gut und besonnen. Aufkommende Kritik am US-Krieg hat sich zu qualifizieren durch ausdrückliche Bejahung des Kriegszwecks, ist so selber Beitrag zur Konstruktion der Kriegsmoral.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Gliederung

Der Feldzug der zivilisierten Welt gegen das Böse
Die Konstruktion der Kriegsmoral

4000 Menschen werden Opfer gezielter Terroranschläge auf die USA. Mutmaßungen, die Urheber der anonymen Tat betreffend, verdichten sich rasch zur Gewissheit. Arabische Nationalisten haben World Trade Center und Teile des Pentagon zerstört; das Selbstmordattentat trägt die Handschrift islamischer Fundamentalisten, die im Namen ihres Herrn nun auch in Amerika zuschlagen: Über die politische Herkunft der Attentäter und den religiösen Sinn, den sie ihrem Zerstörungswerk beimessen, besteht recht schnell Klarheit. Die Wahl der Adresse ist niemandem ein Rätsel: Mit dem Anschlag auf New York und Washington nehmen die Fanatiker Rache an Amerika und allem, wofür die westliche Führungsmacht steht![1] Ein Auftakt zur Erläuterung, „wofür“ Amerika „alles“ steht, ist das freilich nicht. Die Führungsmacht mag auf der Welt anrichten, was sie will: Daraus erklärt sich die Tat auf keinen Fall. Nur „Fanatiker“ maßen sich an, sie anzugreifen, nur „Rache“ kann es sein, wo Gegengewalt stattfindet: Wofür, die Frage verbietet sich bei der guten Sache, für die der Westen steht, von selbst. Die Erkenntnis, aus welcher politischen Ecke der Anschlag kommt und welcher Weltordnung er gilt, wird postwendend mit einem moralischen Veto versehen: Dafür gibt es kein Verständnis, sondern null Toleranz.

Dieses Denkgebot führt zu einem absurden, für die gewünschte Meinungsbildung aber nützlichen Klärungsprozess. Menschen, die ohne Zusatz ausdrücklicher Missbilligung sagen, was jeder weiß, stehen im Ruch zu rechtfertigen. Ob wirklich einer klären will, was arabische Gotteskrieger zur Feindschaft gegen Amerika bewegt, oder nur moralisch aufrechnet, dass die USA „auch“ für viel Leid oder Hunger verantwortlich zeichnen, ist dabei egal: Diese Tat verdient kein Verständnis; deshalb sind geschädigter Nationalismus und das, worin er sich verletzt sieht, keine Erklärung. Wie sie stattdessen erklärt gehört, ist damit auch gesagt. Man drückt die eigene Weigerung, den Attentaten politische Gründe und eine höhere Begründung zuzubilligen, als Eigenschaft von Tat und Tätern aus: Eine durch nichts zu rechtfertigende Tat, das Wort Täter ist ausschließlich im Sinn von Verbrecher zu gebrauchen.[2]

I. Sachdienliche Hinweise zu Tätern und Opfern: Selbsternannte Gotteskrieger gegen die freie Menschheit

Die Anfertigung von Steckbriefen und das Abhalten öffentlicher Trauerfeiern dient diesem Zweck: die Tat als Verbrechen gegen die Zivilisation zu erklären. Drunter macht es die freie Welt nicht.

1. Die Ermittlung des Täterkreises und seiner unverwechselbaren Eigenschaften

folgt dem Erkenntnisstand des amerikanischen Präsidenten und seiner Sicherheitsdienste vom Tag danach: Wir kennen die Urheber des Attentats nicht – wir wissen, sie sind böse und verrückt. Aus dieser offiziellen Verkündung ihrer Haupterkennungsmerkmale setzt sich das Bild der Täter Stück für Stück zusammen:

a) Feinde Amerikas. Der Präsident wird wissen, warum er nicht in Ghettos, Irrenhäusern oder Highschools fahndet, in denen sein Land reichlich private Kriminelle, Spinner und Amokläufer beherbergt. Interessant, wie schnell der Chef der „einzig verbliebenen Supermacht“ sicher ist, wo das Böse sitzt: Dort, wo sie sich Feinde schafft, also im Prinzip auf der ganzen Welt. Wie viel erniedrigten Nationalismus die „Neue Weltordnung“ produziert, die eine Hierarchie nutznießender und geschädigter Staaten bewacht; wie viele Feinde der USA es insbesondere im „Krisenbogen Vorderer Orient“ gibt, die als Märtyrer für Recht und Ehre ihrer vaterländischen Sache zum Töten und Sterben bereit sind: Wer weiß das besser als der oberste Sachwalter der Weltaufsichtsmacht? So gewiss der amerikanische Präsident also ist, dass der anonyme Kriegsersatzakt gegen sein Land aus der Ecke des gedeckelten Patriotismus Richtung Nahost kommt; so geläufig ihm ist, dass die soldatische Tugend des Opfermuts für die nationale Sache ohne einen gehörigen Schuss Moral und religiöse Überhöhung nicht zu haben ist: So sehr steht fest, dass Verlierer und Beleidigte dieser Weltordnung kein Recht haben, ihre Schandtat aus ehrenwerten Motiven zu begründen. In diesem Sinne erfolgt nun ein aufschlussreiches Dementi: Wenn Nationalismus und Religiosität nie dazu führen (dürfen), „so etwas“ zu tun, kann es das auch nicht gewesen sein, was die Verbrecher trieb. Wenn wir davon absehen, dass die Attentäter für Heimat und Gott unterwegs waren, bleiben ihre wahren Motive übrig: Das Böse und der Wahnsinn.

b) Kranke Gehirne. Der Befund schließt von zerstörten Häusern und Menschenleben zwanglos auf das Motiv: Dann kann es den Tätern auch nur darum gegangen sein. Die Gewalt, zu der sie greifen, beweist, dass sie ein politisches Anliegen nicht haben. Das Mittel desavouiert die Absicht: Es ist böse, was ist dann der Zweck? Die „Fassungslosigkeit“, wer so etwas bloß macht, erfährt in den kranken Gehirnen, die der deutsche Außenminister am Werk sieht, ihre alles andere als fassungslose Antwort. Sie erklärt angesichts von Tod und Verwüstung, die Feinde des Westens anrichten, dass es für diese Gewalt keinerlei Rechtfertigung, also nur einen Grund gibt: Irrsinn. Die Bilder, die zum Beleg des klinischen Befunds kursieren, sind eines James Bond würdig, aber sehr bildend: Weshalb sich Zerstörungswut unbedingt das Pentagon vornehmen und blinder Hass immer gegen die USA richten muss, ist zwar rätselhaft, aber erklärbar. Die ziellose Manie des Wahnsinnigen gepaart mit dem berechnenden Verstand des Obergangsters, der sich, nach FH-Studium in Hamburg, wie üblich an „der Weltherrschaft“ versucht: Unterm Strich erscheint der personifizierte böse Wille, Amerika zu zerstören – da haben wir sie, Bin Ladin und seine Leute!

Aber nur fast. Denn das dürfen wir nicht ganz vergessen: Es handelt sich nicht um irgend welche Verrückte, sondern um Krieger aus dem Orient, die sich für ihre Religion aufopfern. Also werden a) und b) zusammengenommen und ein wiederum denkwürdiges Dementi hinzugefügt: Diese Menschen sind keine Patrioten mit einem starken Glauben, sondern

c) Fanatische Islamisten. Um den Unterschied zu erkennen, heißt es differenzieren. Dafür wird die Öffentlichkeit mit einer Frage beschäftigt: Wenn die Attentäter Araber und Jünger Allahs sind, sind dann alle Anhänger der arabischen Sache und ihres Koran Attentäter? Nein, man muss genau hinsehen. George Bush: Der Terror ist nicht der wahre Glauben des Islam. Der Islam steht für den Frieden, die Terroristen stehen für das Böse und den Krieg. Unser Fischer assistiert: Nicht der Islam, nicht die Muslime sind unsere Feinde, sondern der Terrorismus, der vor Massenmord nicht zurückschreckt. Die Botschaft, verständlich gemacht über die hohe Unterscheidungskunst zwischen einer guten Sache und deren Missbrauch, ist hörbar: Auf echten Glauben und wahren Patriotismus lassen ihre Fans nichts kommen, also können sie unmöglich zum Besitzstand von Fanatikern gehören.

Der weltöffentliche Exkurs zum richtigen Verhältnis von Glauben und Dienen

ist darum ein Essential politisch korrekter Feindbildpflege, die nicht pauschal alle, sondern nur die Richtigen, die aber richtig treffen will. Der Islam-Schnellkursus, dem fachkundige Politiker ihre Völker westlich von Mekka unterziehen, ist von hohem sittlichen Wert.

Lektion 1 erklärt die Differenz zwischen unschuldigem Islam und sündenträchtigem -ismus. Kenner der Materie schwören bei den Buchstaben des Koran, dass Gewalt gegen Sachen und Personen weder aus ihm hervorgehe noch durch dessen Gebote gedeckt sei; überhaupt jedem Glauben sei der Wille zum Übergriff auf irdische Dinge und Geschöpfe wesensfremd.[3] Es ist, als müssten sie anlässlich der „gottlosen“ Tat islamistischer Gotteskrieger einen Verdacht entkräften: Wozu gläubige Staatsbürger im Auftrag höherer Gestalten und Gewalten offenbar in der Lage sind. Jeder kennt Berichte über die Hoffnung arabischer Märtyrer auf Sündenfreiheit, das Paradies, einen Platz neben Gott und 7 Jungfrauen; jeder weiß, dass der „gerechte Zorn“ von Selbstmord-Attentätern ohne Auftraggeber wie Allah oder ein Gelobtes Land nicht zu haben ist: Dennoch soll bloß keiner fragen, woran diese Typen glauben und was sie überhöhen, wenn sie in den „Heiligen Krieg“ ziehen; keiner soll aufmerken, welch ein Sumpf von Gewalt der Wille zu einer Nation ist. Die Parteilichkeit für Gott und Vaterland bringt Leute sogar dazu, sich und andere niederzumetzeln? Das ist das Allerletzte, was an den Ereignissen des 11.9. zu studieren wäre.

Umso angesagter ist der Umkehrschluss: Die Tugenden, zu denen Glaube und Patriotismus in der Regel anhalten, sind auch uns heilig; deshalb wird heftig geleugnet, dass die religiösen Fanatiker im Namen von Gott und Nation zu ihrer Tat schritten, die wir lieber „Untat“ nennen. Das geben die westlichen Anwälte der Religion gegen ihren Missbrauch nämlich schon zu Protokoll: Wie sehr sie den Gebrauch des Verstandes zur Entwicklung so edler menschlicher Züge wie Demut, Opferbereitschaft oder Hingabefähigkeit schätzen, die dem täglichen Mitmachen im herrschenden Getriebe ein wenig Sinn einhauchen; wie sehr sich solche Einstellungen auch in Extremsituationen staatsbürgerlichen Daseins bewähren; kurz: wie viel sie für die Verhimmelung irdischer Mächte durch höhere und allerhöchste Werte übrig haben. Vorausgesetzt, es sind die richtigen Mächte…

Lektion 2 erklärt den Unterschied von richtigem und falschem Glauben. Der liegt nicht in der Differenz zwischen dem einen Allah und christlicher Dreifaltigkeit; auch nicht darin, dass die eine Religion das Schwert, die andere Versöhnung vorzöge: Er besteht in der Funktion, die der Glaube und seine Anhänger sich in ihrer politischen Lebenswelt zumessen bzw. zugestanden kriegen. Das Koran-Gefummel kommt, unter dem Motto „Trennung von Religion und Politik“, zielstrebig auf sein wahres Thema: das (gelungene) Verhältnis von Glaube und Welt. Die Fraktionen im aktuellen Hin und Her – Leserbriefe, die Friedfertigkeit und Schafsgeduld des Moslem betonen; andere, die meinen, dass die Attentäter nicht zufällig dem Kulturkreis da hinten entstammen – beziehen sich auf einen Verdacht, von dem wie immer etwas hängen bleibt: Ob diese Gläubigen überhaupt zur anständigen Unterordnung fähig sind. Ein Islam, der nicht auf dem Betteppich bleibt, kennt seinen rechten Platz in der Gesellschaft und in der Welt nicht, tobt sich aus, wo er nicht hingehört. So ergehen anlässlich eines Attentats arabischer Fundamentalisten deutliche Auskünfte über Nutzen und Grenze der Frömmigkeit in modernen Gemeinwesen:

Beide Instanzen, der Herr da oben und die Herren hienieden, haben ihr gutes Recht, indem sie einander adeln. Das aber stellt die Frage nach dem Primat. So sehr Gottes Sittenpolizei auf Erden und irdische Verfassungshüter mit Gott in der Präambel sich als Beglaubigungsinstitut des anderen schätzen, stehen diese Prinzipienreiter sittlich gebotenen Treibens ihrer Herden in Konkurrenz: Geistliche Kutten- wie weltliche Verantwortungsträger pflegen die Absolutheit ihres Regelwerks gott- oder staatsgefälligen Tuns. Nicht nur Mullahs verfluchen die politische Duldung von Sünden wider die göttliche Haus- und Kleiderordnung, auch US-Pfaffen segnen etwa Übergriffe radikaler Abtreibungsgegner; umgekehrt fordert die weltliche Macht von Kirche und Gemeinde, sich auf ein Arrangement einzulassen: Sie pocht auf ein dienliches Maß an Relativierung; was nicht weniger heißt, als den Staat, seine Gesetze und die Lebensverhältnisse, die er bewacht, absolut zu setzen. Das wirklich Absolute, das staatliche Gewaltmonopol, steht an oberster Stelle; das eingebildet Absolute, der liebe Gott mit all seinen Engeln, hat dazu in ein funktionelles Verhältnis zu treten. „Aufgeklärte“ Staaten schmeißen die Religion nicht weg, sondern weisen ihr ihren Platz zu: Wenn die Gläubigen das akzeptieren, dann geht das Verhältnis von Gottes Geboten und bürgerlichem Gehorsam für die politische Herrschaft in Ordnung.[4]

Lektion 1 und 2 ergeben die Antwort auf die Frage: Was ist und wie geht richtiger Islam? Es liegt im Wesen der Frage, dass sie nicht nur akademisch beantwortet wird: Wir machen uns nicht nur ein Bild vom Feind – dieser Mischung aus fremdartigem Glauben, suspekter Vaterlandsliebe und einem Hang zum Fanatischen; wir behandeln ihn auch danach.

– Der Appell zur Differenzierung stellt jedenfalls erst einmal einen ganzen Menschenschlag unter Verdacht. Die westliche Welt ruft zur Prüfung auf: Nein, nicht wie die deutschen Faschisten, die den Juden per se für unzuverlässig erklärten und als Schädling ihres Gemeinwesens liquidierten; die Geprüften können – müssen damit aber auch – den Verdacht durch Wohlverhalten entkräften. Solange sie nach Mekka pilgern, für Herrn Allah fasten und sonst brav ihrem Tagwerk nachgehen, ist ihnen eine gewisse kulturelle Gleichartigkeit nicht abzusprechen; nehmen sie ihre Religion aber zu wichtig, zertrümmern Buddha-Statuen und in den USA Symbole „gottlosen Lebenswandels“, werden aus Göttern blitzschnell Götzen und aus tiefgläubigen Bürgern gefährliche Staatsfeinde. Oft merkt man den Unterschied leider erst spät; da heißt es wachsam sein: Was schlummert hinter der glatten Stirn meines arabischen Nachbarn? Betet er wie du und ich oder für den Sieg im Glaubenskrieg? Studiert er nur oder missbraucht er feines deutsches Wissen? Sind unauffällige Muslime brave Leute oder „Schläfer“? Wer nie falsch parkt, ist verdächtig? Schwer zu sagen. Kein Wunder, dass der Bundespräsident warnt, „nicht pauschal alle Muslime zu verurteilen“, und Bush in einer Moschee erklärt, dass nicht jeder Turbanträger Antiamerikaner ist. Der Rassismus, den sie auf- und abrufen, ist unverzichtbares Beiwerk zu einem Anti-Terror-Programm, das die gesamte islamische Welt auf ihren Willen zur Verträglichkeit mit der freien Weltordnung befragt – und darum in der Tat nicht die Muslime bekämpft; genau deshalb will die Pogromstimmung im Volk, das seine Herren allzu gut verstanden hat, in sozial verträgliche Bahnen gelenkt sein.

– Drei Grundsätze gelten deshalb auch nach aller Entpauschalisierung: Richtiger Islam ist…, wenn a) er sich wie jede rechtschaffene Religion in den gesellschaftlichen Betrieb einfügt (das ist der Kern des modernen Dogmas: Islam bedeutet Friede: Friede mit den Herren, die einen regieren); b) er sich speziell in Amerika loyal und patriotisch zu benehmen weiß; c) er sich überhaupt positiv zur US-Weltordnung stellt. Dieser Absolutismus ist nämlich der Clou der Lektion: Aufgeklärte Nationen, deren Verfassungen auch keinen Kleineren als Gott himself zum Kronzeugen ihrer Güte erheben, sind qua erfolgreicher Instrumentalisierung der Religion für ihre Herrschaft befugt, jenen gefährlichen Irren auf die gefalteten Hände zu sehen, die im Namen der Religion das Machtmonopol der USA angreifen. Erst recht ist die Nation befugt, Islam richtig herum zu buchstabieren, in der jeder glauben darf, was er will, Hauptsache, er glaubt an ein Land, das sich ohne jede Ironie „God’s own country“ nennt. Nur eine (Welt-)Macht, die sich – in ihren nationalen Rechten, ihren demokratischen Werten und ihrem Toleranzgebot – überhöht, hat dann auch alle religiösen Motive für sich gepachtet. Der Anschlag auf Gottes eigenes Land ermächtigt die USA, das Verhältnis von Glaube und Welt auch international wieder gerade zu rücken. Gott ist im Kampf zwischen Terror und Gerechtigkeit nicht neutral! (Bush)

Deshalb kann der Amerikaner seine Trauer auch talibanischer inszenieren als der wildeste Taliban, ohne in den Ruch steinzeitmäßigen Irrsinns zu kommen. Keine Gedenkfeier ohne Gebetbuch, Rabbi und Imam; keine Träne ohne Fahne, Hymne und den Allerhöchsten: „God bless America“! Und die ganze Welt singt ergriffen mit.

2. Wer oder was das eigentliche Ziel des unbegreiflichen Angriffs war

Das internationale Gewissen funktioniert auch in den Stunden tiefster Erschütterung bestens. Oder soll man sagen: gerade? Immerhin deutet die Floskel unbegreiflich, die in keiner Meldung fehlt, sogleich die Dimension der Tragödie an und lässt erahnen, dass diese noch ungezählten Leichen zu viel sind. Selbst das übliche Differenzierungsvermögen, zwischen solchen und solchen Opfern (darunter 270 Deutsche) zu scheiden, greift zu kurz. Wer oder was in den Türmen angegriffen wurde: Die Identität der Opfer erschließt sich spiegelbildlich aus der Identifizierung der Täter als „böse und verrückt“; dann kann Ziel deren Angriffs nur das Gute und Vernünftige schlechthin gewesen sein: eine Kriegserklärung gegen die zivilisierte Welt (Gerhard Schröder). Und es zählt bekanntlich zu den angenehmsten Eigenschaften der Zivilisation, diese nicht eben bescheidene Selbstwahrnehmung sagenhaft menschlich auszudrücken:

– Nichts ist unpersönlicher als der Krieg oder ein Attentat, das ihn ersetzen soll – Menschen kommen als Material und Diener der feindlichen Nation um. Umso zäher arbeiten US-Präsident, Bundeskanzler und ihr öffentliches Echo an der Grabrede, die Leute, die zufällig in den Fliegern und Büros saßen, wären bloß als Menschen ins Visier arabischer Terroristen geraten. Nicht einmal ihr eigenes Wort von den menschlichen ‚Kollateralschäden‘ will ihnen einfallen, mit dem die Nato im Krieg gegen Serbien so treffend bedauerliche, aber notwendige Folgen ihres Angriffs auf die Staatsmacht bezeichnete. Dass auch Terroristen die Logik der Kollektivhaftung beherrschen und Menschen – völlig egal, wie es ihnen in ihrer Nation ergeht und was sie von ihr halten – als Repräsentanten und Knechte ihres Staates über die Klinge springen lassen: Von dieser brutalen Abstraktion will in dem Fall niemand etwas wissen. Dass ein Anschlag auf das World Trade Center und das Pentagon auf Einrichtungen und Funktionäre amerikanischer Welt- und Geldmacht zielt: Davon wird so stur abgesehen wie die pietätvolle Legende verbreitet, die Welt trauere um Privatleute, die in großen Geschäftshäusern und im Verteidigungsministerium ihren Job machten und ihre Cheeseburger verdienten. Gleich, welche segensreichen Arbeiten für die Sicherheit des Geldverdienens und der amerikanischen Nation sie da auf mehr oder minder wichtigen Posten erledigten: Vorgestellt werden sie als Tausende „Einzelschicksale“ von Sekretärinnen, Brokern und Feuerwehrleuten, die alle gerne lachten, tanzten und ihre Familie wie ihren Beruf liebten. Das wird schon alles so gewesen sein; extrem widerlich ist dieser Nachruf auf diese Unschuldigen, weil er auf den Schluss abzielt: Dann kann auch die Sache, für die sie genommen wurden, nichts Verkehrtes sein. Beerdigt werden die Leute als Opfer einer Kriegserklärung an die Menschheit: So wird aus der Trauerrede über die Menschen ein 1-a-Freispruch für das eigentlich Gemeinte.

– Die gebetsmühlenhafte Erwähnung unschuldiger Opfer eines abscheulichen Verbrechens gedenkt der Opfer des Terrors in ganz eigener Stellvertreter-Logik als Verkörperung höchster Werte: In der Eigenschaft addieren sich 4000 „Biographien“ zu 4000 erst lebenden, dann toten Nationalflaggen. Sie als Privatsubjekte zu betrauern, adelt die Funktion, die sie für das Vaterland ausübten. Das eröffnet eine Schadensbilanz etwas größeren Kalibers: Diese Menschen waren Personal der Supermacht oder deren Gäste; das erhebt sie in den Stand von Märtyrern der Freiheit und des Kapitalismus (Senats-Erklärung). Das Pathos ist sachgerecht, die Überhöhung gewollt: Klar, dass die Nation getöteten Angehörigen, die im zivilen Leben ihr dienstbares Menschenmaterial waren, ein Staatsbegräbnis mit Heldenehrung widmet; erst recht klar, dass die Nation, deren Macht eine ganze Weltwirtschaft beaufsichtigt, es sich nicht nehmen lässt, ihre kaputten Wahrzeichen von Geschäft und Gewalt zum Symbol von Freiheit, Kultur, überhaupt der Zivilisation hochzujubeln. Wie dieses Selbstlob zelebriert wird, das macht der westlichen Welt so schnell keiner nach: Ein Attentat übermannt den okzidentalen Kulturkreis in der Erkenntnis, dass „die unbegreifliche Tat“ im Grunde der amerikanischen Nation als Hüterin von schlichtweg allem gilt, was uns so lieb wie teuer ist. Die moralische Bewältigung der Attentate als Verbrechen gegen die zivilisierte Welt macht die Bahn frei für wüsteste Theorien, das eigentliche Opfer betreffend:

Die USA und ihre freie Weltordnung: Lebensart pur!

Dass Menschen sich zum Zeichen der Trauer in Fahnentuch hüllen und Amerika lobpreisen, wird allgemein als verständliche Reaktion kommentiert. Das Grausen mit Patriotismus zu verarbeiten, gefällt den Verantwortlichen für freies Meinen: Sie decken den Bedarf mit einem Freundbild, wie es im Buche steht. Es folgt in Form und Inhalt der Logik des Kulturimperialismus, nach der jedem Bürger der ideelle Lohn seiner Staatszugehörigkeit zusteht, ganz gewiss auch der richtigen Nation anzugehören und durch sie entsprechend in der Welt repräsentiert zu sein; und es sieht sich jetzt erst recht angestachelt, die Herrschaft der USA und alles, was sie den von ihr Betroffenen an Lebensumständen serviert, als Inkarnation alles Guten, Wahren und Liebenswerten schönzureden. Kapitalismus und Imperialismus als Lebensart zu bewerben, die man je nach Geschmack echt geil oder total human finden kann, so dass die Parteinahme für Amerika zum subjektiven Empfinden wird: Diese Dummheit namens Heimatliebe bestimmt derzeit verschärft das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen an beiden Ufern des Atlantik.

– Das Attentat heiliger Krieger trifft ins Herz. Gemeint ist nicht ein internationales Finanzzentrum, nicht eine Schaltstelle amerikanischer Militärmacht; gemeint sind wir alle, noch genauer: das, wovon wir Menschen aus Kulturgesellschaften, die nicht vom Brot allein leben, uns weitgehend ernähren: unsere Werte. Die wollen sie uns nehmen, weil sie selber keine haben! Der Terror richtet sich nach Auskunft einer Schweizer Zeitung, die wie Gott nicht neutral ist, gegen jene Werte, Vorstellungen und Absichten, die seit der Aufklärung das westliche Denken positiv prägen: Vernunft, Toleranz und Gespräch. Menschenwürde und wechselseitige Anerkennung bilden diesem Gewissen (dem gewissenlosen der Terroristen) den bedrohlichsten ‚horror vacui‘, von dem es sich mit Furor und List abstößt. Wahrscheinlich meint die NZZ jenes Gespräch, das der US-Präsident kurz danach mit Kabul suchte: Bush sagte, das Talibanregime und seine terroristischen Verbündeten seien dafür bekannt, erst Menschen zu töten und dann über die Morde zu frohlocken, den eigenen Leuten das Essen zu stehlen, religiöse Denkmäler zu zerstören und Kindern das Singen zu verbieten (IHT, 7.11.). Krieg als herrschaftsfreier Diskurs zwischen Kulturmensch und Barbar: Für solche Einfälle, die seit der Aufklärung das westliche Denken positiv prägen, sind die Taliban wirklich zu unterentwickelt. Wir jedenfalls lassen uns das Singen nicht verbiehieten.

– Der Anschlag auf Amerika trifft die Welt. Auch uns Deutsche. Das muss einmal gesagt werden, weil „wir“ ja keine Amerikaner sind, unser Staat den USA in ihrem Krieg aber beisteht. Das können Nationalisten, die vor dem 11. September genug Gründe kannten, über die Amis mit ihrer Negermusik, ihrem Fastfood und ihrer Atombombe die Nase zu rümpfen, gar nicht oft genug sagen: 100 Gründe, Amerika (gerade jetzt) zu lieben! Ein Auszug:

„1. Weil Recht auf das Streben nach Glück das ewige Ziel der US-Verfassung ist. 2. Weil ihr uns nach dem 2. Weltkrieg Kaugummi, Schokolade, Zigaretten, Hoffnung geschenkt habt. 5. Weil ihr uns Mickymaus, den Playboy, McDonalds gegeben habt. 8. Weil 30% der Amerikaner deutschstämmig sind. 9. Weil wir bei Hollywoods Filmen am schönsten weinen können. 42. Weil ihr den Golfkrieg gewonnen habt. 47. Weil Edison die Glühbirne erdachte. 50. Weil ihr bei der Nationalhymne die rechte Hand aufs Herz legt. 68. Weil Jennifer Lopez so einen tollen Popo hat. 83. Weil euer Atomwaffenschild den 2. Weltkrieg beendete und letztendlich den Kalten Krieg. 100. Weil ihr für uns Freunde, Vorbild und Fackel der Freiheit seid.“ (Bild, 17.9.)

Das Recht & die Pflicht zum privaten Konkurrieren, die Gleichung von Kapitalismus, Demokratie & Hoffnung, nackte Weiber & weiche Brötchen, Schmachtschinken & der Sieg im Golfkrieg, elektrisches Licht & patriotische Ekstase, Ärsche & Atomwaffen, alles aus 1/3 deutschem Erbgut: Alles, was es gibt, selbst das, was es nicht gibt, stammt von Amerika. Errungenschaften auf den Gebieten Militär, Politik, Technik, Kultur und Ernährung, gemixt mit populären Ideologien und einem Schuss deutscher Hybris: Der Katalog, nach dessen Studium sich offenbar Dankbarkeit einstellen soll, ist so beknackt, wie es dieser untertänigen Tugend eben angemessen ist. Die Logik, dass die Macht, aus der all das kommt, das auch alles möglich gemacht haben soll, ist auf Liebe zur amerikanischen Weltmacht und ihren Werken berechnet und setzt die grundlose Parteilichkeit, für die sie in 100 Gründen wirbt, längst voraus. Deren einförmige Botschaft tangiert das nicht: Weil wir ohne Amerika heute noch im Dunkeln säßen, müssen die Insassen des Freiheitslagers im Kampf gegen das Böse zusammenstehen. Denn wie lautet Grund Nr. 97? Weil seit dem 11. September jeder gute Mensch auch ein kleiner Amerikaner ist.

– Der 11. September trifft jeden. Auch das Privatleben jedes guten Menschen. Wenn der Anschlag auf unser aller „way of life“ zielt, oder auf gut Deutsch: auf unsere Art zu leben (der Kanzler), dann ist nichts Privates mehr privat, sondern jedes Bier, das einer trinkt oder nicht trinkt, ein Beitrag zur Frage ‚Freiheit oder Terrorismus?‘. In diesem Sinne stellt das Volksblatt Nr. 1 täglich 4 bis 7 Fragen an das Gewissen. Am 18.9.: Darf man auf das Oktoberfest gehen? – Ja, wenn man sich dem Terror nicht beugen will. Wenn man trotzig ja sagt zur Normalität unseres Lebens. Nein – wenn man johlend trinkt und auf den Tischen tanzt. Und am 20.9.: Darf man jetzt zum Stammtisch gehen? – Ja, man muss Reden und Trinken für den Frieden.

Wenn jeder bekennt, dass er das, was er je schon gedacht und getan hat, aus Anlass des Attentats jetzt noch viel heftiger und zugespitzter denkt und tut, dann ist die Gleichung ‚Guter Mensch = engagierter Nationalist = Freund der USA‘ fertig. Wenn jeder normal mitmacht und dadurch den Feinden unserer Ordnung die Stirn bietet, dann sind die Völker der freien Welt wehrbereit – auch ohne Johlen und Hurra-Patriotismus.

II. Die gebotene Antwort: Der gerechte und besonnene Krieg westlicher Kulturnationen

Die USA antworten mit einer Kriegserklärung. Sie eröffnen eine Kampagne gegen die Wurzeln des Terrors (Powell), sortieren die Welt in Freunde und Feinde, bestimmen militärische und politische Ziele, Strategien und Optionen der Eskalation: Das ist die eine Sache. Die andere ist die: Den Verantwortlichen ist es sehr wichtig, dass ihr Krieg, den sie führen, richtig verstanden wird. Im Sinne geistiger Truppen- und Volksbetreuung erklärt Amerika, dass es nicht nur zuschlagen will, sondern von höchsten politischen und sittlichen Instituten dazu verpflichtet ist. Also in erster Linie von sich selbst; dann von allen anderen guten Gewaltmonopolen und deren Völkern: Wir vollstrecken den Willen der freien Welt (Bush); schließlich von so unschlagbaren Auftraggebern wie Demokratie und Toleranz, dem Gedenken an tote Feuerwehrmänner, dem Herrn Jesus und dem echten Islam, der afghanischen Frau und hungrigen Kindern böser Menschen, die bekanntlich keine Lieder haben. Kurzum: So radikal der Freie Westen die Sache anpackt, so gut ist sie.

1. Der Krieg gegen den Terror: Bestrafung des Bösen durch Missionare der Freiheit

Die Tonlage, in der dieser Krieg geführt wird, ist die der gerechten Empörung. Spontan sind den ehrverletzten Führern der Nation Rache und Kreuzzug als Maßnahmen zur Ausrottung des neuen Reichs des Bösen eingefallen.[5] Nichts davon ist aus dem Verkehr gezogen; aber sie haben sich berechnend korrigiert – und die redliche Entrüstung der ersten Tage um den sachlichen Ton erfahrener Richter und Generäle ergänzt: Als Strafe und Feldzug, in den Kategorien ziviler Strafverfolgung und professionellen Kriegshandwerks sieht die US-Propaganda das moderne Weltordnen irgendwie würdiger verkauft als mittels Anleihen bei Western und Altem Testament. Strafe und Feldzug: Unter diesen nun amtlichen Titeln erfolgt die Übersetzung aller militärischen und diplomatischen Sach- und Effizienzfragen in Moralfragen höchster Provenienz. Sie bilden den verlässlichen wie verlogenen Leitfaden zur Befürwortung des Krieges:

a) Bomben für … den Frieden, die Frauen und den Wiederaufbau

– Es gilt, Bin Ladin und seine Beschützer unschädlich zu machen. Was dafür getan wird, erklärt George Bush in einer Rede an die Welt: „Wir haben Angriffe gegen Trainingscamps, Militärbasen und Terroristenverstecke in Afghanistan gestartet“. Warum die USA das tun müssen, sagt er auch: Wir sind eine friedfertige Nation. Es kann aber keinen Frieden in einer Welt geben, in der es Terror gibt. Deshalb ist ihr Bombenterror eine Friedensmission. Deshalb sind ihre Angestellten, die mit der Lizenz zum Töten und dem Risiko des Getötetwerdens losziehen, Auftragnehmer nicht nur staatlich erlaubter, sondern legitimer Gewalt: Ich sage zu unseren Soldaten: Ihr Ziel ist gerecht. Ein Brief, den ich von einem Soldatenkind bekam, sagt sehr viel über dieses Land: Ich will nicht, dass mein Vater in den Kampf zieht, aber ich gebe ihn dir als mein größtes Geschenk. Deshalb ist die reife Äußerung eines freien Willens, der dem Vaterland seinen Daddy vermacht, nur zu verständlich im Angesicht eines Verbrechers, den der Präsident dead or alive haben will. An der Heimatfront ist Bin-Ladin-Klopapier ein großer Renner.

– Krieg muss aber nicht nur zerstören, er hat auch sein Gutes. Ohne die Reise westlicher Soldaten nach Afghanistan hätten wir nie erfahren, dass dort unerträglicher Hunger und Bildungsnotstand herrschen. Um dagegen etwas zu tun, wirft Amerika Bomben zur Beseitigung der daran schuldigen Taliban und Fresspakete mit Erdnussbutter und Radios ab, die das Volk zur Abspaltung von seiner Führung ermuntern sollen. Eine gute Gelegenheit, sich besser kennen zu lernen: Die Afghanen sollen aber auch die Großzügigkeit der USA kennen lernen. Zeitgleich zum Militärschlag haben wir Lebensmittel und Medizin abwerfen lassen. Die USA sind Freunde des afghanischen Volkes. Wir sind Freunde des Islam (Bush). Der Krieg des Westens ist, wie schon in Serbien, „kein Krieg gegen das Volk“, sondern dient der Rettung von Fliehenden, Witwen und Waisen; hier und heute: der Befreiung von Armut, Schleier und falscher Koran-Auslegung. Er wird mit moralischen Titeln geschmückt, dass es nur so rauscht; die Lügen sind wegen der Sache, der sie dienen, aber heilig. Jeder könnte wissen, dass auch das afghanische Volk als Basis seiner Hoheit zur Zielscheibe wird; jeder hört, dass gezielte Bomben auf Taliban-Milizen, die sich auch irgendwie aus Volk rekrutieren, „die Moral der Truppe schwächen sollen“: Doch immerzu sind tote Afghanen ein kollateraler Lapsus oder selber Terroristen – sie haben ja bei der Talibanherrschaft mitgemacht (bei ausländischen Mitmachern kennt der Deutsche sich aus). Jeder könnte fragen, ob der Westen nicht viel zu tun hätte oder es ein wenig absurd wäre, wenn er jeder Hungersnot und Frauenfeindlichkeit seiner Weltordnung mit Cruise Missiles zu Leibe rückte; jeder bekommt den harten Scherz mit, dass offenbar erst Krieg sein muss, bevor die Metropolen des kapitalistischen Reichtums 3 Kilo Proteinkekse spendieren: Doch alle sollen an die umgekehrte Reihenfolge glauben, dass der Feldzug im Grunde der einzig „wirksamen Bekämpfung schlimmer Lebensverhältnisse“ (Fischer) gilt und nur beendet werden darf, wenn die falschen Regenten über das Elend beseitigt sind. Wohlgemerkt: Die Titel sind absurd, aber genau so geeignet, diesen Menschenfeinden, die Essen stehlen und Frauen am Herd verstecken, jedes Recht über ihr Volk abzusprechen; in der Hinsicht hilft wirklich nur Krieg gegen Armut und Diskriminierung.

– Schon vor Verjagung der alten Herren ist der Wiederaufbau Afghanistans in aller Munde. Die Destruktion, die militärisch zweckmäßige Bombenschläge und einige „mishits“ an den Resten von Land und Leuten vornimmt, die Bürgerkriege und Hungerwinter übrig gelassen haben, wird als Gelegenheit dargestellt, die Trümmerwüste, die 25 Jahre unter falschen Besatzern litt, lebenswert zu machen. Das kommt niemandem seltsam vor. Zwar lässt kein Bericht aus dem „neuen Kabul“, wo Männer sich rasieren und Frauen schminken, einen Zweifel, dass die Ernährungslage auch mit Freiheit von den Taliban unendlich trostlos ist; zwar verspricht kein Befreier die Rekonstruktion kaputter Hütten, sondern den Aufbau einer Regierung, die sich zu seinen Ordnungsansprüchen konstruktiv verhält, und vielleicht den Aufbau zerdepperter Weltkulturgüter – aber was macht das schon: Die Hilfe im „humanitärsten Krieg aller Zeiten“ (Bild) besteht vor allem im Export von Lebensstil; und dass der richtige way of life wiederum ganz von der Herrschaft abhängt, unter der man leben und hungern darf, kann der staunende Afghane im neuen Fernsehen an den Trauerfeiern aus aller Welt studieren, wo weiß und schwarz, arm und reich, gemeinsam um Amerika weinen.

b) Der besondere deutsche Beitrag: Mahnung zur Besonnenheit und Besinnung

Die Nato-Länder haben den Beitrag zum Kampf gegen die Feinde der US-beschützten Welt zu ihrer Staatsräson erhoben. Allerdings bedarf es, da zunächst einmal nicht ihr nationales „Wir“ angegriffen ist, einiger Vermittlungsschritte, um die solidarische Losung We are all americans! zur bindenden patriotischen Moral jedes anständigen Europäers und Deutschen zu machen. Entsprechend eigentümlich fällt die Einstimmung an der Heimatfront aus:

– Nahezu unisono ist zu hören, dieser Krieg werde in verblüffender Besonnenheit angegangen. Kein „Kreuz-“, nur ein Feldzug: Nach diesem Motto soll sich jeder sein Bild machen. Die Logik nacheilender Versöhnung mit dem angesagten Krieg der USA ist bestechend: Sie bedient sich aller Schlagworte des sorgsam gezüchteten Anti-Amerikanismus, die der Bürger des konkurrierenden EU-Blocks im Traum beherrscht, um in ihrem Namen Amerikanismus zu gebieten. Hut ab, wie bedächtig der unlängst zum Cowboy stilisierte Präsident die Sache angeht. Durch diese Brille gerät selbst die Zeit, die die Vorbereitung des Krieges und ein Truppenaufmarsch nun mal kostet, zum Beweis der Abstinenz von beschworenen militärischen Abenteuern und Gewalt-Exzessen. Die planvolle Anordnung des Feldzugs genügt zur moralischen Unbedenklichkeitsbescheinigung, die der weisen Maxime nachkommt: Erst denken, dann schießen! (FASZ, 30.9.).[6] Und wer mag, kann es dem Image des „nachdenklichen“ deutschen Außenministers hoch anrechnen, dass er den eher zum Schnellschuss neigenden US-Führer zur Besonnenheit „ermahnt“ haben will…

Zum anderen dauert dieser Feldzug, wie angekündigt, womöglich eine ganze „Kalte-Kriegs“-Ära; deshalb hat sich die Politik zur Aufrüstung des Volksgemüts etwas Besonderes einfallen lassen:

– Sie verkündet das Ende der Spaßgesellschaft. Jedem, der nicht gemerkt haben sollte, dass er bis gestern nichts als Spaß hatte, wird sein alltägliches Leben als Party vorgestellt. Das Stilmittel des absurden Witzes bewährt sich erneut als Instrument der Propaganda: Sämtliche eingeleiteten oder noch erforderlichen Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung im Inneren und im Äußeren, die Regierung und Opposition nach dem Kriterium der Wirksamkeit diskutieren, beschließen oder verwerfen, werden als unabwendbare Konsequenz der Einsicht verkauft, dass mit Stichtag 11.9.01 die lustige Zeit der Golf- und Kosovokriege, rasterloser Fahndung und geschützter Daten vorbei sei. Die Überzeichnung ist gewollt: Denn die Parole und ihre zahlreichen Bilder stehen für die fällige Umstellung im Innenleben und nach außen, zu der Deutschland fähig sein muss; dafür wird die Gesellschaft in Haftung genommen und ideologisch angemacht. Die Fiktion der „Nische“, in der sich die Nation mit „Scheckbuchdiplomatie“ und Bundeswehrlazaretten aus Weltpolitik und der „Drecksarbeit“ des Schießens „herausgehalten“ habe, ist dafür ebenso brauchbar wie die Ausmalung „unserer Freiheitsrechte“ zu einem Eldorado der Handlungsfreiheit, das aus Gründen des Staatsnotstands für „unsere Sicherheit“ nun leider zu begrenzen sei. Als ob der Gewalthaushalt der BRD, weil in Kriegs- und Rüstungsdingen bislang „nur“ beteiligt und nicht Weltspitze, gleich nichts wäre; als ob die staatliche Erlaubnis zu freiem Meinen oder Glauben nicht je schon an tätigen Respekt vor freiheitlich-demokratischen Verkehrsregeln gebunden wäre – die Botschaft der Zerrbilder ist stets vernehmlich: Befugnisse und Gerätschaften der Nation müssen gestärkt werden. Die Bundeswehr braucht mehr und bessere Waffen, der Innenminister mehr Rechte, Agenten und Polizisten, der Eichel deshalb mehr Geld und das Volk mehr Patriotismus: All das läuft unter „Ende der Spaßgesellschaft“.[7]

Der als bloßer Konsument enttarnte Privatbürger erhält die fällige staatsbürgerliche Lektion: Der westliche Imperialismus ist Grundlage „unserer“ Existenz – diese Grundlage verlangt Einsatz und Opfer! Und wenn klargestellt ist, dass es Wichtigeres gibt als den Alltag des Geld-Verdienens und Geld-Ausgebens – nämlich den Einsatz für die Sicherung der Weltordnung, die das ermöglicht –, bekommt das Volk seinen Alltag auch wieder genehmigt. Komisch und doch gar nicht komisch, dass die blödesten Volksbelustigungen nach dem 11. September – Kirmes, Bundes- und Baseball-Liga, Autosalons der Saison und Marathonläufe – nur noch mit dem Zusatz schicklich sind, sie seien Akte des Widerstands gegen den islamischen Terror und dürften nicht ausfallen, weil sonst die Terroristen ihr Ziel erreicht hätten. Jedem Glas Bier und jedem Fußballtor wird die Leistung angedichtet, ein kleines Bekenntnis zu dem Krieg zu sein, mit dem der irreguläre Versuch eines nationalistischen Aufstands gegen den Westen niedergeschlagen wird.

2. Die Kriegskritiker: National gesinnte Moralisten zweifeln am Erfolg, immanent und auf antiamerikanisch

Die freie Welt auf Krieg programmiert? Totale Gleichschaltung auf JA? Nicht ganz. Ein ABER meldet sich zu Wort – und gibt auf seine Weise zu erkennen, wie sehr alle echten und falschen Angaben der Antiterror-Koalition über Ziele ihres Feldzugs verstanden sind und gebilligt werden: So sehr, dass Methoden und Resultate des laufenden Krieges Zweifel und Spott ernten. Zu solchen Echos sind Demokraten allemal aufgelegt.

a) Dilettantisch und moralisch fragwürdig!

– Die eine Sorte Kritik bezieht sich auf den Kriegszweck – und sorgt sich um dessen Realisierung. Mancher gibt zu bedenken, ob Amerika weiß, dass dieser Bin Ladin nur der Große Kopf einer hundertköpfigen Hydra ist (SZ, 17.9.); fast alle beherrschen den Unkenruf: Afghanistan, ein zweites Vietnam? Eine Anti-Terror-Allianz mitdenkender Strategen in USA und Europa hält den Weg des Krieges für zwingend geboten; deshalb versehen sie ihre Titelblätter mit Reißern wie Krieg ohne Ausweg? (Spiegel 44/01) und reiten auf dem sehr unsachlichen Einwand herum, Amerika und seine Waffenbrüder hätten keine Strategie und kein Konzept für die Zukunft. Die Parole, dass „wir“ den Kampf gegen das Böse bei Strafe des Untergangs „unserer Lebensart“ gewinnen müssen, gefällt ihnen; deshalb fragen sie, ob die freie Welt so auch gewinnen kann. Völlig einleuchtend finden sie, dass in westlicher Hand liegt, was aus Afghanistan wird; also ist nach dem Sturz der Taliban Skepsis angesagt: Der trügerische Sieg (ders., 47/01). Der Stoff des Bedenks ist die Absicht der imperialistischen Siegermächte, dem Land als Wiederaufbauleistung eine stabile Herrschaft unter Einschluss aller Scheichs und Stämme zu verordnen; die Parteigänger dieses Kontrollanspruchs wittern Konzeptionslosigkeit und fragen: Schaffen wir das, lässt sich dieser unzivilisierte Sack Flöhe überhaupt hüten?

– Die zweite Abteilung ist von der humanitären Überhöhung des Kriegszwecks beeindruckt – und macht sich aufrichtig Sorgen, ob die Kriegsführung der edlen Ambition immer und überall genügt. Die Scheidung von militärischen und zivilen Zielen, von Talibanregime & dessen Söldnern und einfachem Volk, nehmen sie für bare Münze: So dass auch tote Afghanen zum Beleg des Zweifels Erwähnung finden, ob die Luftangriffe des Westens die menschenfreundliche Maxime beachten. Dabei lassen solche Moralisten, die brummeln, ob diese Leichen alle nötig waren, nie offen, wofür ihnen die Bilanz etwas zu blutig ausfällt: Um ein „schlecht ausgerüstetes Regime“ wegzubomben, dünkt sie die „Materialschlacht“ der USA mit sündhaft teuren Raketen zu groß dimensioniert, um eine haltbaren Frieden herbeizubomben, wiederum zu klein – beides fasst sich zusammen in dem angeblichen Widersinn, ein „steinzeitliches“ Land zu verwüsten, in dem „längst“ alles kaputt ist. Dass dieser Krieg an sich nur Gutes im Schilde führt, ist die solide Basis für den Verdacht eines unpassenden Zweck-Mittel-Verhältnisses; das mitfühlende Motto ‚Mangelnde Sorgfaltspflicht beim Bomben- und Päckchenschmeißen?‘ bringt das ätzende Geschäft immanenter moralischer Kritik auf den Punkt.[8]

Kein Wunder, dass beide Seiten ineinander aufgehen. Wenn aus dem selben Einwand der Ruf nach präziseren Luftschlägen wie nach einer Feuerpause folgen kann, dann ist sich die Klage über tote Zivilisten mit der Enttäuschung über ausbleibende Blitzsiege im Maßstab der Beurteilung einig: Wirksamkeitskritiker wie die Freunde umweltschonender Kriege sind der brutalen Gleichung von Erfolg und Moral verpflichtet. Die taz sagt die eindeutige Reihenfolge auf: Wenn bezweifelt werden muss, dass Usama bin Laden gefasst wird, wenn die quälende Verlängerung eines Stellungskrieges droht und wenn beide Seiten das Leben von Zivilisten gleichermaßen gering zu schätzen scheinen (!): dann verliert der Westen die moralische Überlegenheit. (27.10.)

Da kennt die Kritikerin nichts: Sittlich gerechtfertigt sind die Bomben des Westens nur, wenn sie wirksam sind. Oder umgekehrt (wie die Grünen ihr effizienz-moralisch paritätisches 4:4 für und gegen Kanzler und Krieg mit „der neuen militärischen Lage nach Fall Kabuls“ begründeten): Moralisch einwandfrei, weil sie Erfolge zeitigen.

Die neue Friedensbewegung: Protest im Geiste imperialistischer Zuständigkeit

Aus dem Aufruf zur Demonstration Aufstehen für den Frieden am 13.10. in Berlin: Dem Terrorismus durch zivile Maßnahmen und durch die Stärkung des Rechts und der Gerechtigkeit den Boden zu entziehen, ist langfristig das bessere Mittel als der Gedanke an Rache und militärische Vergeltung. Pro Asyl mahnt in einem „Brief an die Haushalte“: Wir alle wissen: Krieg ist keine Lösung, sondern idealer Nährboden für ständig neuen Schrecken und Terror. „Attac“ erklärt: Die sich verschärfenden sozioökonomischen Ungleichheiten in der Welt zu bekämpfen, ist integraler Bestandteil einer wirksamen Strategie gegen den Terrorismus.

Die Friedensbewegung tritt in eine neue Etappe. Nicht mehr Angst ums Vaterland wie zur Zeit der Nachrüstungsproteste, als Bürger befürchteten, NATO-Raketen könnten als Magneten für einen Krieg gegen die BRD wirken; auch kein Erschrecken wie im Golfkrieg, dass die Abdankung der SU gar keinen Frieden, sondern eine Reihe heißer Kriege einläutete; sowieso nicht angekränkelt von der Idee, sie stünden in einem Gegensatz zu den Nationen, gegen die sie die Stimme erheben: Diesmal unterstellt der Protest im Ausgangspunkt, dass die Menschheit und die Staaten die gleiche Sorge und den gleichen Feind haben, wenn sie das Militär als unzureichendes Mittel zur „Lösung“ unseres Problems mit dem Terrorismus kritisieren. Mehr noch. Die Tatsache, dass über Produktion und Verteilung von Reichtum und Armut in den Hauptstädten der kapitalistischen Weltordnung entschieden wird, ist ihnen so selbstverständlich, dass sie sich beim Kritisieren gleich auf deren Standpunkt stellen: Wer daran gemahnt, „ökonomische Ungleichheit“ als Sumpf des Terrors nicht zu unterschätzen, affirmiert voll und ganz das Subjekt, das die globale Zuweisung von Reichtum vornimmt und die Gerechtigkeit dieser Verteilung genauso weltweit beschützt – also die Macht der imperialistischen Nationen. Nicht nur den eher weltfremden Standpunkt, wegen der Terroristen müsse Amerika gleich seinen Weltmarkt etwas sozialer gestalten, bemühen diese Kritiker des US-Krieges; sie meinen die Pose ernst, das bessere Rezept für einen stabilen Imperialismus zu haben, der nicht dauernd von solchen Anschlägen erschüttert wird. Ihre penetrante Tour, den Zweck des Krieges zu bejahen, eigentlich aber gegen Krieg zu sein, indem sie seine Instrumente verwerfen, ist der heutige Rest von konstruktiver Kritik: Man stellt sich als Ratgeber auf, der an Präsidenten und Kanzler Verbesserungsvorschläge übermittelt, wodurch das, was der Krieg leistet, zu ersetzen wäre. Vielleicht nicht ganz, aber von der Politik als Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln hält man in diesen Kreisen viel. Immerzu soll eine politische Lösung her, den Feldzug der USA zumindest begleiten, der dann schon eher zu unterschreiben ist. – 3 Beispiele mögen reichen:

– Der amerikanische Globalisierungskritiker Benjamin Barber schreibt einen „Offenen Brief“ an George Bush: Unser fester Glaube an die Gerechtigkeit verpflichtet uns zu mehr als Vergeltung, zu mehr als zur Vernichtung, zu mehr als einer militärischen Kampagne. Er muss uns dazu verpflichten, eine internationale Ordnung zu schaffen, die von Gerechtigkeit geprägt ist. Wir haben, Mr. President, die Laster und Vergehen dieser Welt globalisiert. Wir sind aber daran gescheitert, unsere Tugenden zu globalisieren – unsere Toleranz, unsere Demokratie, unseren Sinn für Fairness und den Glauben an Gerechtigkeit für alle (SZ, 24.10.). Eine konsequente Pointe der Kritik an den unfeinen Nebenwirkungen weltweiten Kapitalismus und Imperialismus, die als „Globalisierungs-Kritik“ populär wurde: Alles exportieren „wir“ – Waren zu ungerechten Preisen, schmutzige Waffen, bloß keine sauberen Werte! Das ist nicht fair, Mister President.

– Gregor Gysi fordert auf dem Parteitag der PDS (zwecks öffentlicher Korrektur deren Haltung, die ihm zu kriegskritisch ist) einen ordentlichen Haftbefehl für Bin Ladin. Das Firmenschild juristischer Strafverfolgung, unter dem die USA ihren Krieg führen, mag er: So sehr, dass der deutsche Fanatiker des Völkerrechts dem Todesstrafen-Fanatiker aus Texas glatt vorwerfen muss, diesen schönen Schein des Zuschlagens durch Missachtung rechtsstaatlicher Verfahrensregeln zu verderben. An Bushs Stelle würde Gysi dem Terroristenführer seine Rechte vorlesen; dass dabei die kleine Lüge abfällt, der Feldzug in Afghanistan und anderswo wäre auch mit weniger Gewalt zu haben, ist nicht unbeabsichtigt.

– Noch ein externer Sympathisant der Bewegung meldet sich und spricht den Satz: Wir warnen den Kanzler vor der Gefahr blinden Kadavergehorsams gegenüber Amerika! Die IG Metall, als Interessenvertreterin mündiger deutscher Arbeiter dem Kadaver-Gehorsam ohne innerbetriebliche Mitbestimmung bekanntlich abhold, rät zur kritischen Solidarität bei der Kooperation mit den USA – und bringt damit zur Anschauung, wie geradlinig staatsbürgerliche Friedensgesinnung in puren Nationalismus mündet. – Aus dieser ehrenwerten Gesinnung kann man allerdings auch direkt zum antiamerikanischen Kritiker werden:

b) Nicht unser Krieg!

– An deren vorderster Front steht Peter Scholl-Latour als realer Gesamtterrorexperte für die ganze Familie. Er ist Kummerkastenonkel bei Bild (Gibt es jetzt Krieg, Herr Scholl-Latour?), gibt Interviews in der rechten ‚Jungen Freiheit‘ (Die USA werden nicht siegen) sowie der linken ‚konkret‘, und schimpft als Dauergast aller Christiansens den Europäer ein ungläubiges Weichei. Was treibt den Mann?[9] Er denkt parteilich wie seine Kollegen – für den Westen, für dessen Werte – und wird darüber irre; er ist Wirtshausstratege und Moralisierer wie die anderen – und wird darüber radikal. Er verlängert den Dilettantismusvorwurf an den US-Krieg in Zweifel am Endsieg; er leiht der klammheimlichen Häme über die „Schwäche“ der Amis sein Organ und denkt sie im Wunsch nach autonomer europäischer Wehrkraft zu Ende; er fürchtet deren Zersetzung durch unsoldatische Tugenden egoistischer Bourgeois und feiert die christliche Demut, noch mehr aber den islamischen Opfermut als ideale Charaktereigenschaft des Citoyen in schweren Zeiten, von dessen unglaublicher Vitalität, wie er an anderer Stelle schreibt, wir uns noch eine Scheibe abschneiden könnten. Die Hingabebereitschaft von Selbstmordattentätern in den Dienst der guten Sache gestellt: Diese patriotische Spitzenidee ist sein Beitrag zum Ende der Spaßgesellschaft.

So sehr das Comeback des Peter Scholl-Latour freilich von dem Zeitgeist lebt, der die europäische „Mentalität“ in Sachen Kriegstauglichkeit für nicht minder renovierungsbedürftig hält als der Meister selbst, so sehr wird ihm die Konsequenz angekreidet, die er ausspricht: Als Beitrag zum Gelingen der gemeinsamen Sache gegen den Terrorismus hat sich der Aufruf zu eigenständiger Aufrüstung Europas allemal noch vorzutragen.

– Die NPD jubelt über schöne Bilder aus New York, fordert „Schluss mit der amerikanischen Selbstherrlichkeit“ und will Kein deutsches Blut für fremde Interessen vergossen sehen. Unsere strammen Rechten sehen in kaputten Wahrzeichen amerikanischer Herrlichkeit eine Chance, die Nation dem „Würgegriff“ der USA zu entziehen, in dem sie sich seit dem Sieg der Alliierten schändlicherweise befinde. Viele tote Amis sind Balsam auf ihre gekränkte nationale Seele, die Amerika der Macht wegen „hasst“, die es Deutschland nehme.[10] Nicht umsonst fällt der Partei (wie manchem guten deutschen Leserbriefschreiber) sofort Dresden! ein, was beweisen soll, dass die USA im Bombardieren unschuldiger Volkskörper selber Dreck am Stecken und den Anschlag antijüdischer Mudjaheddin irgendwie verdient haben. Tatsächlich beweist es nur die Fähigkeit dieser rechtsradikalen Freunde der Nation, an der moralischen Aufrechnung gerechter und ungerechter Kriegsopfer teilzunehmen, die sich Patrioten aller Länder so gerne um die Ohren hauen. Weder dieses Bedürfnis noch die Logik eines national gesteuerten Gefühlshaushalts – der bei Einschlägen am richtigen Ort Genugtuung und bei Opfern auf der falschen Seite Hass empfindet – ist nämlich exklusiv der Partei der Nationalen Demokraten zu eigen:

Eine große Koalition aus Sozial-, Christ-, Freien und Friedens-Demokraten zeigt ihnen aber gleich die Rote Karte. Keinem von ihnen ist dieser antiamerikanische Oppositionsgeist fremd; alle haben sie schon mal in gewählten Worten das Hegemonialstreben der USA angeprangert: Aber das jetzt und so zu sagen, wo die Staatsräson auf Solidarität steht – das verbittet sich der demokratische Konsens. Die haben nicht ihr Süppchen auf der Not Amerikas zu kochen, die wir sowieso gerade wegen Anstiftung zu fehlgeleitetem Nationalismus verbieten: So gerät „Nazis raus!“ zum Werbeargument für die zurzeit angesagte Ächtung des Antiamerikanismus.

Das Schlusswort in dieser Sache spricht der Bundeskanzler. Einerseits verbietet die vorbehaltlose Solidarität, auf die er die Nation festlegt, jede Distanz zu den USA als Hüterin von Kapitalismus, Freiheit und allen feinen Werten. Andererseits darf man aus dem Treueschwur schon heraushören, dass er dabei an eine Stärkung seiner militärischen Mittel denkt, mit denen „wir“ Amerika im Kampf gegen das Böse beistehen. Dass Deutschland – nach allen Diensten, die wir den Opfern von New York schuldig sind – wieder Kriegsnation wird: Die Verkündung dieser Lehre lässt er sich nicht zum ungeeigneten Zeitpunkt und von ungeeigneten Leuten aus der Hand nehmen. Das weiß er mit seiner Richtlinienkompetenz für Politik und Moral am allerbesten.

[1] So der Bild-Kommentar Kriegserklärung aus dem Dunkeln am Tag danach.

[2] Ein Musterbeispiel aus der Meinungswerkstatt: Überall sind sie jetzt zu hören, die relativierenden, erklärenden Theorien. Dass die islamische Welt die Stationierung amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien als Besetzung des heiligen Landes empfindet; dass die Schutzrolle Amerikas für Israel gar nicht erlaube, dass die palästinensische Bevölkerung ihre Rechte je wird wahrnehmen können. Im Ergebnis bewirkt das Argumentationsmuster zweierlei: Es relativiert und es entschuldigt. Aber es gibt wenig zu entschuldigen angesichts der Monströsität einer Tat, die sich jenseits aller politischen, kulturellen oder religiösen Logik abspielt, gleichwohl aber den Amerikanismus zum Ziel hat.Mythos Nr. 2: Terror ist die Antwort auf Jahrzehnte fehlgeleiteter Außenpolitik der USA, aber auch auf die unterdrückerische Politik der Regime in der Region. Terror ist der Aufschrei der Entrechteten. Antwort: Das Argument legitimiert ungewollt den Terror, aber Terror lässt sich nicht legitimieren. Terror richtet sich zielgenau gegen Unbeteiligte und Wehrlose. Terror ist heimtückisch und hinterhältig. Terror tötet nicht nur, er sät Angst und zerstört damit gesellschaftliche Ordnungen. Terror lässt sich nicht entschuldigen, weil Terror bewusst den politischen Weg verhöhnt. Wer Terror wählt, schert sich nicht um Rückhalt und Mehrheiten. Deswegen kann Terror nicht die Antwort auf Politik sein, selbst wenn die fehlgeleitet ist. (Stefan Kornelius, SZ, 18.9. und 20.10.). Der Mann zitiert, was Araber und Muslime gegen Amerika haben, worin sie sich erniedrigt sehen, und muss sofort warnen, dass Erklären aber relativieren heißt und Relativieren beschönigen. Die Nennung eines Grundes und die Bescheinigung von Verständnis, das Erkennen von Logik und das Anerkennen guter Gründe, sind für ihn eins; er entdeckt das Bedürfnis nach Legitimation gerechter Gewalt – und verweigert ihm die Zulassung, weil es die verkehrte Sache legitimiert. So gesehen ist das Attentat ein feiner Anlass zur Denunziation: Kritik an amerikanischer Politik und Gesellschaft ist wohlfeil, sie kann aber nicht das Massaker von New York und Washington relativieren. Nach dem Motto ‚Da sieht man mal, was dabei herauskommt‘ keimt in jedem Anti- der böse Wille zur Tat gegen die Welt, so wie sie ist und auch gut ist. „Im Ergebnis“ folgt aus Kritik, vielleicht „ungewollt“, nur Parteinahme für Terror (ohne Wählermandat!) – deswegen ist Anti-Kritik das Denkgebot der Stunde: Der Anschlag lehrt Amerikanismus.

[3] Dementi, Teil 1. Bassam Tibi, „Islam-Experte“, versichert in Bild: Islam bedeutet Liebe. Muhammed Ali, „Box-Legende“, weiß: Gott steht nicht hinter den Mördern. Die taz entlarvt: Die theologische Begründung für den vieltausendfachen Tod von Zivilisten ist eher dürftig. Dementi, Teil 2. Spiegel-Titel Der Religiöse Wahn: Es hat zwar viel Gemetzel im Namen des Islam gegeben, auch die christlichen Kreuzzüge, aber beides war – Missbrauch des Namens. Religiösen Wahn hat es zu allen Zeiten in allen Glaubensrichtungen gegeben, er ist gleichsam die dunkle Seite jeder Religion, die nur schwer zu erklären ist, also gar nicht. So dogmatisch leugnet der Zeitgeist den Fundamentalismus jeder Religion, für den Überzeugen und Missionieren eins ist. Siehe: GegenStandpunkt 1-95, S.40, Der islamische Fundamentalismus.

[4] Beachtlich, mit welcher Offenheit sich dabei zur Funktion der Religion als Opium für das Volk bekannt wird. In der rechten Dosis und am rechten Ort genossen, ist der Glaube an die Schicksalhaftigkeit der niederen Pflichten auch heute die geschätzte Tugend des Mitmachens im nationalen Getriebe.

[5] Senator McCain: Unseren Feinden sage ich: Wir kommen. Möge Gott euch gnädig sein, wir sind es nicht. Ein Berater spürt, dass der Präsident mit Vergnügen hart und schnell zuschlagen würde. (SZ, 15./16.9.)

[6] Aus der Logik ergeben sich die Textbausteine wie von selbst. Zitate aus einem RTL-„nacht journal“ vom 4.10.: Wer den Terrorismus erfolgreich bekämpfen will, der muss mit Bedacht vorgehen. Das weiß auch Präsident Bush.Wer nachhaltigen Erfolg haben will, der darf nicht aus der Hüfte schießen. Dieser Erkenntnis folgend lässt der US-Präsident seine GIs jeden Tag für den Ernstfall üben.Die Herausforderung des Terrorismus verlangt eine gebührende Antwort. Doch die Suche nach einem wirksamen Rezept verbietet blinden Aktionismus, fordert vielmehr Augenmaß. Bedacht = Bitte nicht blind draufhauen!

[7] Traurig über das „Ende der Spaßgesellschaft“ ist deshalb so recht keiner, es dient ja einem guten Zweck. Der Kanzler verhehlt nicht, dass er das „Ende der militärischen Enthaltsamkeit“ schon lange für geboten hält. Der Finanzminister macht einen guten Scherz und lässt das Volk für seine Sicherheit rauchen. Bayerns Innenminister hat den finalen Beweis, dass jetzt aber Schluss mit ‚Multi-Kulti‘ ist. Und der Papst aus Rom hat endlich den Segen der ganzen Welt, dass „die neuen Gefahren Genusssucht und Hedonismus und Konsumismus sind“. Das hätte der Talib auch nicht schöner sagen können.

[8] Eine Meldung von der Front: Die Amerikaner wollen den Afghanen Gutes tun. Deswegen werfen sie gelbe Care-Päckchen ab. Doch gelb sind auch die päckchengroßen Streubomben, die nach dem Aufprall noch nicht explodiert sind – eine tödliche Verwechslungsgefahr, besonders für Kinder. Niemand sollte den USA Böses unterstellen, aber von großer Sorgfalt bei der Kriegsführung zeugt die Meldung nicht. (SZ, 3./4.11.)

[9] Die FR fasst zusammen: Peter Scholl-Latour fordert eine ‚europäische Streitkraft mit eigenen Kommandoeinheiten‘, eine ‚europäische Atomwaffe‘ müsse her, vor allem aber: ‚Wir müssen den Terror mit Antiterror beantworten‘. Dafür fehle in ‚dieser verdammten Spaßgesellschaft‘ aber die rechte Mentalität, die Härte, auch die Führungspersönlichkeiten anstelle dieser ‚Konvertiten von 1968‘; es fehle die ‚Kraft der Religiosität‘, die den USA nun helfe, die den atheistischen Europäern aber abgehe. (23.10.)

[10] Deshalb ist Antiamerikanismus das Gegenteil von Antiimperialismus. Letzterer kritisiert die Macht der westlichen Nationen und die Zwecke, für die sie eingesetzt wird, ersterer die Macht, die die Nation nicht hat. Parteigänger Deutschlands leiden an amerikanischer Übermacht.