Konstruktive Beiträge der medizinischen Wissenschaft zum „Diesel-Irrsinn“
Mit „belastbaren“ Argumenten für ein richtiges Maß an Vergiftung

Die Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxide wurden in Deutschland seit ihrem Bestehen sehr regelmäßig überschritten, was die Politik mit mehr oder weniger ungerührtem Schulterzucken zur Kenntnis genommen hat. Doch kaum decken US-Umweltbehörden den gigantischen weltweiten Betrug der deutschen Lieblingsindustrie um Abgasmanipulationen auf und wird die deutsche Politik von ein paar deutschen Gerichten sowie der EU-Kommission wegen Vergiftung ihrer Bürger verklagt, beschließt sie, nach einer kurzen Bedenkzeit von gut zwei Jahren, dass nun drohende Fahrverbote endgültig zu weit gehen und handelt prompt: Sie lanciert eine nationale Debatte um die Frage, ob die Grenzwerte für NOx überhaupt ihre Berechtigung haben, die Ahndung ihrer Überschreitung verhältnismäßig und drohenden Fahrverboten nicht eigentlich die rechtliche Grundlage zu entziehen sei. Und so herrscht seit Anfang des Jahres große Aufregung um die Verhältnismäßigkeit der Beschränkung der Mobilität als entscheidender Standortbedingung der deutschen Industrie zum Schutze der Gesundheit der Bürger. Es melden sich die Männer vom Fach zu Wort.

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Konstruktive Beiträge der medizinischen Wissenschaft zum „Diesel-Irrsinn“
Mit „belastbaren“ Argumenten für ein richtiges Maß an Vergiftung

Die Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxide wurden in Deutschland seit ihrem mehr als zehnjährigen Bestehen sehr regelmäßig in nahezu jeder zumindest mittelgroßen Stadt überschritten, was die Politik mit mehr oder weniger ungerührtem Schulterzucken zur Kenntnis genommen hat. Doch kaum decken US-Umweltbehörden den gigantischen weltweiten Betrug der deutschen Lieblingsindustrie um Abgasmanipulationen auf und wird die deutsche Politik von ein paar deutschen Gerichten sowie der EU-Kommission wegen Vergiftung ihrer Bürger verklagt, beschließt sie, nach einer kurzen Bedenkzeit von gut zwei Jahren, dass nun drohende Fahrverbote endgültig zu weit gehen und handelt prompt: Sie lanciert eine nationale Debatte um die Frage, ob die rechtmäßigen Grenzwerte für NOx überhaupt ihre Berechtigung haben, die Ahndung ihrer Überschreitung verhältnismäßig und drohenden Fahrverboten nicht eigentlich die rechtliche Grundlage zu entziehen sei. Und so herrscht seit Anfang des Jahres, zumindest für ein paar Wochen, große Aufregung um die Verhältnismäßigkeit der Beschränkung der Mobilität als entscheidender Standortbedingung der deutschen Industrie zum Schutze der Gesundheit der Bürger. Es melden sich die Männer vom Fach zu Wort.

Die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) auf der einen Seite wehrt sich gegen die Infragestellung der Grenzwerte und dringt auf die Validität ihres Zustandekommens, indem sie auf ihre hohen wissenschaftlichen Standards bei der Ermittlung des Risikos für verlorene Lebensjahre der Gesellschaft pocht; in einem Positionspapier [1] tritt sie sogar für eine Verschärfung eben dieser Grenzwerte ein. Dagegen polemisiert ihr ehemaliger Präsident Dieter Köhler, der die Grenzwerte für einen Witz und Fahrverbote daher für völligen Unsinn hält. Jeder Raucher, so der emeritierte Professor, sei der lebende Beweis dafür, dass die Studie der DGP wissenschaftlicher Schrott ist und an der statistisch erhobenen Risikobewertung der Luftschadstoffe und den daraus resultierenden Forderungen nach ihrer Begrenzung, höflich gesprochen, irgendwas nicht stimmen kann.

Was an diesen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen stimmt oder nicht stimmt, hat nie anders als in dieser Hinsicht – Grenzwerte ja oder nein – interessiert. Die Frage ist entschieden; die Nationalakademie der Wissenschaften Leopoldina hat als staatlich bestallte Schiedsrichterin die alternative Statistik Köhlers inklusive seiner Rechenfehler und Empfehlungen zurückgewiesen, indem sie die Forschungsergebnisse der DGP bestätigt hat: Die Grenzwerte bleiben, bis auf Weiteres, wo sie sind, die Regierung genehmigt sich und ihrem Volk aber eine neue Überschreitungskulanz. Die Aufregung über die vergiftete Atemluft ist kurze Zeit später verflogen und der dieselbetriebene Autoverkehr geht in Deutschland weiter seinen Gang. Warum, wie und nach welcher Logik solche gesetzlichen Grenzwerte wie die für Feinstaub und Stickoxide wissenschaftlich zustande kommen, fiel während der ganzen Affäre als das Allerunwichtigste gänzlich unter den Tisch. Zu Unrecht.

1. Schadstoffforschung und -überwachung: eine medizinische Daueraufgabe

Solche seit Jahrzehnten (nicht nur) von den Medizinexperten geführten, nie enden wollenden Debatten über die Schädlichkeit von Luftschadstoffen gibt es schon so lange, wie die Medizin die Luftqualität in Deutschland in Hinblick auf durch sie verursachte Gesundheitsschäden untersucht und dabei Schadstoffe ausfindig macht, deren Schädlichkeit grundsätzlich bei allen Beteiligten außer Frage steht: Luftschadstoffe sind schließlich von Medizinern selbst definiert als eine Beimengung der Luft, die sowohl die menschliche Gesundheit als auch die Biosphäre gefährden kann. [2] Und in ihren gesundheitsgefährdenden Eigenschaften sind die Schadstoffe medizinisch auch bestens erforscht. In ihrem Bericht halten sich die Mediziner zugute, mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit die Basis dafür gelegt zu haben, dass die Belastung der Luft mit Schadstoffen in den vergangenen 25 Jahren in Deutschland deutlich abnahm. Entwarnung gibt sie dennoch nicht; denn mit den Jahren und Jahrzehnten sind die Schadstoffe nicht einfach weniger geworden, mit der Beschränkung der einen sind sukzessive erst ganz andere Schadstoffe emittiert worden und damit überhaupt auf den Schirm der Medizin geraten:

„Waren es in den 1960er-Jahren noch Ruß und grober Staub, so wurde in den 70er-Jahren Schwefeldioxid (saurer Regen) oder Blei (verbleites Benzin) als Problem erkannt. Später rückten der sommerliche Photosmog mit der Leitsubstanz Ozon ... in den Fokus.“

Die Medizin kennt ihre Pappenheimer, die mit großer Regelmäßigkeit einfach jährlich hunderttausende Tonnen irgendeines anderen Drecks emittieren, nachdem sie die Vergiftung der Atemluft durch einen bestimmten Schadstoff verboten und so ein Stück Rücksicht auf die Gesundheit der Gesellschaftsmitglieder gesetzlich aufgenötigt gekriegt haben:

„Dabei sind der Straßenverkehr, der vor allem durch seine Nähe zum Menschen sehr bedeutsam ist, die Industrie und Energieerzeugung sowie die Landwirtschaft die vier wichtigsten Emittenten in Deutschland. Darüber hinaus können lokal oder saisonal spezifische Quellen bedeutsam sein, z.B. die Verbrennung von Schweröl in der Schifffahrt, Emissionen von Flughäfen und Kleinfeuerungsanlagen.“

Dem Treiben der ihr durchaus bekannten Verursacher der Gifte steigt sie in der Weise hinterher, dass sie in ihrem medizinischen Interesse an Erkenntnissen zur gesundheitlichen Relevanz ihre theoretischen und praktischen Anstrengungen darein legt, überhaupt erst mal die messtechnischen Möglichkeiten zu entwickeln, derer es bedarf, um dem Fortschritt auf dem Feld der gesundheitsgefährdenden Giftemission auf der Spur zu bleiben. Von einem technologischen Fortschritt zum nächsten gibt es da für sie immer wieder viel Neues zu entdecken.

Und so sind es nun seit Mitte der 90er-Jahre zunehmend Feinstaub und Stickstoffdioxid, die der Medizin Sorge bereiten, weil ihr im Prinzip schon seit den 50ern bekannt ist, dass das, was die mittlerweile 650 Messstationen in Deutschland melden, toxisch ist. Da wurden von Medizinern unterschiedlicher Fachrichtungen innerhalb und außerhalb Europas Erkenntnisse derart gewonnen, dass diese modernen Luftschadstoffe zu unspezifischen Atemwegssymptomen, chronischen Beeinträchtigungen der Lungenfunktion wie Asthma oder COPD bis hin zu einem erhöhten Risiko für Lungenkrebs führen können. Heutzutage sind ihnen auch schädliche potentielle Auswirkungen auf andere Organe und -systeme wie Herzrhythmusstörungen und Arterienverkalkung bekannt, was mit einem erhöhten Risiko von Herzinfarkt und Schlaganfall einhergeht, diverse metabolische Erkrankungen wie Typ 2 Diabetes und Schwangerschaftsdiabetes, eine Reduktion des fetalen Wachstums, Störungen der kognitiven Funktion und neuronalen Entwicklung sowohl beim Fötus als auch beim Erwachsenen und so weiter. Aus diesen Erkenntnissen sind der Medizin in ihren verschiedenen Disziplinen wiederum neue Forschungsaufträge erwachsen, im Zuge derer sie unter anderem nicht nur herausgefunden hat, dass gesundheitsschädliche Auswirkungen Jung wie Alt und Gesunde wie chronisch Kranke treffen können, sondern auch, dass Luftschadstoffe sowohl kurzfristige Wirkungen, ... die innerhalb von Stunden bis Tagen eintreten, und langfristige Auswirkungen [haben können], die erst nach zum Teil jahrelanger Belastung z.B. an der Wohnadresse auftreten. So prekär sind diese wissenschaftlich gut untersuchten Schadstoffe auch und insbesondere deshalb, weil die Medizin bislang keine Wirkungsschwelle ausmachen konnte, unterhalb derer die Gefährdung der Gesundheit ausgeschlossen ist.

Diese Erkenntnisse sind schon allerhand, möchte man meinen. Der Medizin selbst aber war ihr Wissen nie genug; nie war für sie die Frage nach der Giftigkeit der untersuchten Schadstoffe wissenschaftlich erledigt. Vielmehr hat sie ihre Ergebnisse immer mit dem Vorbehalt versehen, sie wisse noch nicht genau genug Bescheid und sich mit jeder gewonnenen Erkenntnis neu damit beauftragt, noch mehr Studiendaten und pathophysiologische Detailkenntnisse zu generieren. Diese nie zu stillende Wissbegier hat sich dabei auf die Frage, warum die technologischen Fortschritte der o.g. vier großen Emittenten ihr immer neues Material für ihre Forschungsaufträge liefern, nie erstreckt. Die gesellschaftlichen Ursachen, die sie kennt, auf den Begriff zu bringen – was gleichbedeutend wäre mit ihrer Kritik [3] – ist nicht ihr Ding. Was dann?

2. Das epidemiologische Programm …

Epidemiologen interessieren sich für einen makroskopischen Zusammenhang zwischen Schadstoff und Schaden: Ihr Untersuchungsgegenstand sind der Gesundheitszustand der Bevölkerung und die Auswirkungen von allen möglichen Einflussgrößen auf ihn. Zur Beantwortung dieser Fragestellung können aus epidemiologischer Sicht die unter 1. zitierten pathophysiologischen Erkenntnisse, in denen über die Entschlüsselung der genauen Wirkmechanismen der Zusammenhang zwischen Schadstoff und Schädigung von Zelle, Organ und Organismus inhaltlich bestimmt wird, [4] nicht viel beitragen; gesundheitsschädliche Effekte seien zwar gut untersucht und belegt, aber:

„Experimente, selbst an komplexen Zellkultursystemen, können zwar Wirkmechanismen aufzeigen, sagen aber zumeist nichts über die gesundheitlichen Folgen von Luftschadstoffkonzentrationen für die Bevölkerung aus, die unter realen Umweltbedingungen auftreten.“

Ihren Forschungsauftrag gewinnt die Epidemiologie aus dem Interesse am Zustand der Volksgesundheit. Bezogen auf diese eine gesamtgesellschaftliche Größe, die die DGP von vielerlei adversen Effekten gefährdet sieht, sucht sie zu ermitteln, welchen Anteil Feinstaub und Stickoxide innerhalb aller möglichen verschiedenen Krankheitsursachen an ihnen haben, wie schlimm und wie groß der ‚Beitrag‘ der feinstaub- und stickoxidbelasteten Luft zum insgesamt gesellschaftlich zu verzeichnenden Gesundheitsschaden ist. [5] Epidemiologen stellen sich also als Wissenschaftler zu den in vielerlei Hinsicht ungesunden Lebensbedingungen für die Gesellschaftsmitglieder so, dass sie innerhalb aller möglichen Gesundheitsgefahren eine medizinische Rangfolge aufstellen wollen, wie viel und welche Schäden genau Feinstaub und NOx – nicht am Individuum, sondern – am Volkskörper anrichten. Daraus wollen sie wissenschaftlich fundiert ableiten, wie viel Schadstoff der gesellschaftliche Gesundheitszustand aushalten kann und wie viel im Schnitt nicht, ob und inwiefern ihrer medizinischen Ansicht nach also politischer Handlungsbedarf besteht, um die Gesundheitsschäden zu begrenzen. Genau dafür hat die DGP als die führende Fachgesellschaft in der Pneumologie in ihrem Positionspapier den oben dargestellten medizinischen Wissensstand zu den gesundheitlichen Effekten von Luftschadstoffen zusammengetragen, in dem neben dem aktuellen Stand der epidemiologischen Studien auch die Evidenz aus experimentellen bzw. kontrollierten Studien, also die pathophysiologischen Ergebnisse, als Beiträger zum Gesamtergebnis ihren Platz haben. Ihre wissenschaftlichen Aussagen zum Zusammenhang zwischen Luftschadstoffen und Gesundheitseffekten auf die Gesellschaft gewinnt sie aber im Wesentlichen über den rein rechnerischen Nachweis einer Korrelation. Die Wissenschaft, die die Epidemiologie treibt, ist quantitativer Art, die gesundheitlichen Folgen von Luftschadstoffkonzentrationen ergründet sie mittels einer wissenschaftlichen Erklärungsmethode, die ohne jede Erklärung auskommt, der Statistik. Mit ihr will sie nachweisen, dass (und damit ob überhaupt) ein Zusammenhang und wie viel Zusammenhang zwischen Feinstaub- und Stickoxidemission und gesamtgesellschaftlich quantifizierbaren Gesundheitsschäden besteht. Dafür hebt die Epidemiologie – auf Basis des pathophysiologischen Zusammenhangs, in dem immerhin der sachliche Grund dafür besteht, dass sich Korrelationen überhaupt statistisch ermitteln lassen! – neu an.

Den gesamtgesellschaftlichen Gesundheitsschaden „unter realen Umweltbedingungen“, eben so, wie sie im täglichen Leben normalerweise auftreten, exakt, also als bezifferbare Größe, zu ermitteln, ist das politisch motivierte wissenschaftliche Programm, auf dessen Grundlage die epidemiologische Forschung in Gang kommt. Da sich realistische Effekte auf die Volksgesundheit aus jahre- und jahrzehntelanger Feinstaub- und Stickoxid-Exposition ergeben, die, wie die Medizin herausgefunden hat, mit dem „fetalen Wachstum“ beginnt, lassen sich solche Erkenntnisse eben nur aus der Untersuchung des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland unter den Bedingungen, die der Kapitalismus vorgibt, selber gewinnen. Mit ihrem Großexperiment, möglichst alle diese Umweltbedingungen zu erfassen und zu untersuchen, die die Volksgesundheit schädigen, haben Epidemiologen gut zu tun.

3. … und seine Durchführung

Ihr Forschungsauftrag, die Größe des Gesundheitsschadens zu ermitteln, der speziell dem Feinstaub bzw. Stickstoffdioxid zuzuordnen ist, erweist sich der Epidemiologie nach zwei Seiten als überaus komplex: was die Exposition, also die Vielfalt von Belastungen, Art und Dosis der Schadstoffe, denen der Mensch ausgesetzt ist, angeht, einerseits; und andererseits was dessen Disposition, also die unterschiedliche individuelle Geneigtheit zum Krankwerden, betrifft. Da heißt es nach strengen Kriterien abzugrenzen, zu messen und zu isolieren.

Es gilt also erstens das gesamte Hoheitsgebiet, das sich der Epidemiologie als statistisch ziemlich unübersichtlicher Flickenteppich darstellt, in Beurteilungsgebiete einzuteilen, in denen die fein nach Partikelgröße sortierten Schadstoffkonzentrationen an verschiedenen, repräsentativen Messstationen in Ballungszentren und im ländlichen Hintergrund zu unterschiedlichen Stoß-, Tages-, Nacht- sowie Jahreszeiten ermittelt werden. Auch Talsenken und Windschneisen und überhaupt dem Ideal nach sämtliche irgendwie bedingende Einflussgrößen werden erfasst und mitberücksichtigt, um die realistischerweise eingeatmeten Schadstoffkonzentrationen in ein Verhältnis zu den im jeweiligen Gebiet auftretenden, potentiell durch Feinstaub und Stickoxide verursachten Krankheiten setzen zu können. Und siehe da, Mortalität und Morbidität gibt es häufiger dort, wo die Schadstoffkonzentrationen höher liegen, sowohl was ihre dauerhafte Höhe als auch kurzfristige Belastungsspitzen angeht. Die damit ermittelten vielfachen Zuordnungen von Krankheit resp. Tod und Emissionswerten reichen einem Epidemiologen aber nicht als Erkenntnis. Das heißt nämlich, was die konkrete zu untersuchende Exposition (also z.B. die Feinstaubbelastung am Wohnort) angeht, nicht allzu viel. Denn je realitätsgetreuer er sein Studiendesign anlegt, desto unpräziser ist das statistische Ergebnis. Die Exposition gegenüber Feinstaub ist unter modernen marktwirtschaftlichen Verhältnissen nämlich in aller Regel mit weiteren gesundheitsschädlichen Belastungen korreliert... Dies ist z.B. häufig der Fall für verschiedene verkehrsbedingte Emissionen, wie z.B. Feinstaub, Ultrafeinstaub, NO2 und Lärm. Und so muss die DGP konstatieren, dass die Separierung der Effekte von Einzelbestandteilen auf den Organismus, also ihr Forschungsziel einer rechnerischen Zuschreibung von bestimmten Gesundheitsschäden auf das Konto eines bestimmten Schadstoffs, insbesondere dann, wenn sich die Konzentrationen parallel verhalten, äußerst schwierig bzw. mit ihren statistischen Methoden mitunter gar nicht möglich ist. Je genauer sie ermitteln will, welcher Bestandteil so eines insgesamt ungesunden Schadstoffgemisches in welchem Maß mit bestimmten biologischen Endpunkten, also schwerwiegenden Krankheiten, assoziiert ist, umso mehr ufert ihr Rechenaufwand aus, den sie für die Separierung der Einzeleffekte, die alle miteinander „korrelieren“, treiben muss; und umso größer sind ihre Vorbehalte gegen den Zusammenhang, den sie auf diese Art nachweist. Das veranlasst die Epidemiologie aber weder zur Aufgabe ihres Forschungsprojekts noch zu einer Kritik an ihren Methoden (und es ist ja auch nicht so, dass die Medizin die „Effekte von Einzelbestandteilen auf den Organismus“ nicht bestens kennen würde!), sondern fordert sie in ihrem Auftrag, belastbare Korrelationen zu gewinnen, statistisch heraus: Da es außer Zweifel steht, dass die Schadstoffgemische die gleichen Emissionsquellen haben und mit diesen eng korrelieren, lässt sich zwar die durch Feinstaub induzierte Schädigung nicht präzise separieren, aber den Vorbehalten gegen das eigene Ermittlungsverfahren lässt sich in ihren Wahrscheinlichkeitsrechnungen ein statistischer Ausdruck verleihen; und mit diesen statistischen Warnhinweisen ist der Gesamteffekt dafür umso realistischer, der sich so zumindest als Hinweis auf direkte (kausale) Wirkungen festhalten lässt. Für medizinische Statistiker ist der „Hinweis“ kein Rückschritt von der gewussten qualitativen Bestimmung der Schädlichkeit, sondern ein Schritt nach vorne; immerhin haben sie aus der komplexen Giftküche, die die Gesellschaft atmet, Feinstaub und Stickoxide als mögliche mitwirkende Faktoren „belegt“ – mit der gebotenen epidemiologisch-wissenschaftlichen Vorsicht, dass es sich hierbei auch um Zufall oder sonstige „Messfehler“ handeln könnte. Das ist der Preis für eine Forschung, die von notwendigen Zusammenhängen nichts wissen will und nur mit statistischen Zusammenhängen argumentiert.

Zweitens tritt ihr bei ihrem Forschungsauftrag die Bevölkerung in ihrer Buntscheckigkeit als statistisches Problem für die Quantifizierung gegenüber. Denn die Erkrankungswahrscheinlichkeit hängt nicht nur von Dauer und Höhe der Schadstoffkonzentration ab, sondern auch innerhalb eines „Beurteilungsgebiets“ stirbt zwar mancher unter gleicher Exposition, die meisten aber nicht, und auch nicht jeder wird auf dieselbe Art und Weise chronisch krank. Damit geht die Epidemiologie im Interesse an belastbaren Aussagen über die Wirkung der Schadstoffbelastung auf die Bevölkerung ebenso konsequent im Sinne ihrer Fragestellung um: Wenn die Schadstoffe schon die disparatesten möglichen Auswirkungen auf jeden einzelnen individuellen Organismus, abhängig von dessen Grundkonstitution und -disposition haben können, dann ergibt sich daraus die nächste statistische Herausforderung, wenn die Epidemiologie auf bestimmte Bevölkerungsgruppen stößt: Die einen – vornehmlich Kinder, ältere Menschen, schwangere Frauen und Menschen mit Vorerkrankungen – erkranken häufiger, schneller und stärker, während andere bei gleicher Belastung gesund bleiben. In der Weise arbeitet die DGP die medizinische Erkenntnis heraus, dass der Organismus mit seinen physiologischen, genetischen und psychosozialen Voraussetzungen und nicht zuletzt mit seinem persönlichen (Gesundheits-)Verhalten, mit seinem Ernährungs- und Bewegungsverhalten sowie Nikotin- oder Alkoholkonsum selber als ein möglicher Teilauslöser einer Erkrankung gilt, der neben dem Faktor Exposition mehr oder weniger zum Tragen kommt. Darauf bezieht sich die DGP konstruktiv in ihrem Bedürfnis, die Schadensgröße gesamtgesellschaftlich genau abzuschätzen, wenn sie ihr Augenmerk gerade auch auf die Schwachen, besonders Gefährdeten richtet:

„Als vulnerable Gruppen werden Personen bezeichnet, die nicht über individuelle oder kollektive Fähigkeiten verfügen, um Umwelteinflüssen adäquat zu begegnen.“

In ihrem Bedürfnis, diejenigen Mengen oder Konzentrationen einer Belastung festzulegen, mit deren Aufnahme über einen definierten Zeitraum mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine relevante schädliche Wirkung mehr verbunden ist, ist es ihr ein Anliegen, diese „vulnerablen Gruppen“ besonders zu berücksichtigen. Um diese mit der größten Wahrscheinlichkeit Betroffenen möglichst vor Gesundheitsschäden zu bewahren, erkennt die Epidemiologie sie selbst als Teilursache ihrer Erkrankungen an, wenn sie für deren besondere Berücksichtigung eine Absenkung der Emissionen fordert.

Diese ganzen Daten (neben den Feinstaub- und Stickoxidwerten möglichst alle externen und internen Einflussgrößen, Bedingungen und ‚Faktoren‘) erhebt die Epidemiologie und setzt sie ins Verhältnis zu den im Land auftretenden Krankheits- und Todesfällen eben dafür, das relative Risiko, aufgrund von Feinstaub und Stickoxiden vorzeitig abzuleben, unter realen Bedingungen wissenschaftlich exakt berechnen zu können. Das Ergebnis ist eine Zahl über 1 – dem Durchschnittsrisiko – mit mehreren Stellen hinterm Komma, die sich mit sämtlichen möglichen anderen Erkrankungswahrscheinlichkeiten, die sich als andere Zahlenwerte darstellen, vergleichen lässt. So kann man schon rechnen; die ermittelten Quanta sind so gesehen mathematisch exakt, immanent objektiv. Nur: Alle diese sog. ‚Einflussgrößen‘, die von industriell produzierten Luftschadstoffen über sog. moderne ‚Volkskrankheiten‘ wie Bluthochdruck, persönliche Vorlieben wie Rauchen bis zu individuellen körperlichen Voraussetzungen wie Alter und Genen reichen – also ein Sammelsurium an qualitativ verschiedenem, disparatem Zeug – stellt sie auf eine logische Ebene, sowohl Defekte am Individuum als auch Effekte auf das Individuum, indem sie sie alle gleichermaßen bloß unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen, rein quantitativ gefassten Wirkung auf die Volksgesundheit ins Auge fasst. Im begriffslosen Resultat taucht so mancher Faktor gar doppelt auf, beispielsweise figuriert Bluthochdruck einerseits als eine mögliche durch Feinstaub und Stickoxide verursachte Krankheit, andererseits als für sich existierender Risikofaktor, der daher aus dem relativen Risiko, an Feinstaub und Stickoxiden zu erkranken, herausgerechnet gehört. Dass chronische Vorerkrankungen eine schlechte Voraussetzung sind, Schadstoffbelastungen wegzustecken – vor allem dann, wenn man sie im Alter schon jahrzehntelang weggesteckt hat –, dass sich Feinstaub schlechter aushalten lässt, wenn er im Paket mit „Ultrafeinstaub, NO2 und Lärm“ auftritt, wird schon so sein. Das Wissen um andere schädigende Faktoren relativiert die Schädlichkeit der untersuchten Stoffe aber überhaupt nicht. Diese Gleichmacherei ist ein Fehler. Der aber ist konsequent, hat seinen sachlichen Grund nämlich in der epidemiologischen Fragestellung, also darin, alle möglichen Einflussgrößen auf dieselbe Größe insgesamt beziehen, ihren quantitativen Beitrag dazu ermitteln und diese Maßzahlen gegeneinander gewichten, niedrig- oder hochhängen zu wollen.

Das wissenschaftliche Ergebnis, der Risikofaktor als Zahl, kommt zustande durch eine mathematisch monströse Rechnung, die die hohen Anforderungen an die Belastbarkeit des jeweiligen Wissensstandes, die die Epidemiologie ihrer wissenschaftlichen Vorgehensweise selbst auferlegt hat, erfüllt, nämlich nicht nur in mehreren, voneinander unabhängig durchgeführten Studien nachgewiesen und reproduzierbar war, sondern auch mit unterschiedlichen Methoden ermittelt wurde. Wasserdicht ist das Ergebnis aber erst, wenn auch das letzte ihrer strengen zentralen Kriterien erfüllt ist, sie nämlich ihrer hochkomplexen und superexakten Statistik daneben das Attribut anheften kann, biologisch plausibel zu sein – sie also die toxikologischen Befunde auch noch mit heranzieht, die sich als weitere „Evidenz“ in ihre Korrelationen einreihen und darin einen Beitrag zur „Belastbarkeit“ des Gesamtergebnisses liefern. Dass sie ganz am Ende auf ihren Ausgangspunkt zurückkommt und auf das toxikologische Wissen über die Wirkmechanismen zurückgreift, um sich davon ihre Rechnerei bestätigen zu lassen: Das ist die abschließende Misstrauenserklärung der Epidemiologie gegen ihr eigenes Verfahren, mit dem sie alle ursächlichen Zusammenhänge in Korrelationen verlegt hat und ihr „Beweis“ eines Zusammenhangs im Sammeln von – bloßen, dafür aber möglichst vielen – Indizien besteht.

Im Resultat des Mortalitätsrankings liegen global Feinstaub und Stickoxide auf Platz fünf, unmittelbar hinter den allgemeinen Risikofaktoren erhöhter Blutdruck, Rauchen sowie erhöhte Glukose- und Cholesterinwerte, in Deutschland ordnet die DGP der Luftverschmutzung als wichtigstem umweltbezogenem Risikofaktor den zehnten Platz zu.

*

Aber was heißt schon Platz fünf weltweit oder Platz zehn in Deutschland? Dass dringend gegen Feinstaub vorgegangen werden muss? Oder die Vergiftung vernachlässigbar ist angesichts der statistisch deutlich schlimmeren Wirkungen des Rauchens, einem sog. lebensstilassoziierten Risikofaktor? Diese statistisch exakte Bewertung und sachlich absurde quantitative Vergleicherei verschiedenster möglicher Einflussgrößen aufs Sterben liefert im Gewand seriöser Wissenschaftlichkeit auch dem politischen Dienstherrn nicht mehr als eine Zahl, einen Hinweis, dass da einige Leute seines Volks an einer Nebenwirkung seines kapitalistischen Standorts sterben.

4. Der wissenschaftliche Ertrag: gesundheitspolitische Empfehlungen für den Umgang mit Feinstaub und Stickoxid

Deswegen unternimmt die DGP eine eigene Anstrengung, aus ihren ermittelten Maßzahlen überhaupt erst eine Aussage über die gesundheitspolitische Bedeutung der Gesundheitsbelastung durch Feinstaub und Stickoxide zu machen. Ihren abstrakten, statistischen Risikoziffern über den Zusammenhang zwischen Schadstoff und Erkrankung bzw. Tod verleiht sie dafür in mehreren Indizes einen sehr konkreten Ausdruck. Mit den Kategorien vorzeitige oder verursachte Todesfälle, verlorene Lebensjahre, sogenannte Lebensjahre mit Einschränkung (disability-adjusted life years, DALYs) oder der Anzahl von Krankenhauseinweisungen wegen luftschadstoffbedingter Erkrankungen übersetzt die medizinische Wissenschaft ihre Risikoziffern in eine theoretisch angenommene, abgeschätzte Krankheitslast, eine Größe, die so schön die Not der Patienten mit ihrer Krankheit in die Kosten des Staates mit den Kranken übersetzt:

„Ein zentraler Aspekt der Berechnung der Krankheitslast ist die Zielsetzung, die gesundheitliche Bedeutung von verschiedenen Umweltbelastungen für die Bevölkerung vergleichen zu können. Es geht bei diesem Ansatz darum, die Krankheitslast verschiedenster Risikofaktoren auf unterschiedlichste gesundheitliche Endpunkte mittels Maßzahlen vergleichbar zu machen, um Politik und Public Health eine Aussage über die Bedeutung einzelner Risikofaktoren für das Krankheitsgeschehen relativ zueinander zur Verfügung zu stellen.“

In derselben Logik wird neben der Krankheitslast auch noch die Mortalität belastbar abgeschätzt: Die Luftverschmutzung durch Feinstaub und Stickoxide in Deutschland kostet die Gesamtbevölkerung ca. 600 000 verlorene Lebensjahre pro Jahr, oder an anderer Stelle anders ausgedrückt eine Lebenszeitverkürzung von 10,2 Monaten. Am Ende leitet die Medizin aus all ihren Rechenoperationen – ihr zentrales Leitprinzip ist schließlich das Vorsorgeprinzipihren medizinisch definierten Richtwert für eine Schadstoffkonzentration ab, mit dem sie immerhin behauptet haben will, dass – wie oben schon zitiert – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine relevante Schädigung der Bevölkerung mehr zu verzeichnen sei und der deswegen zum optimalen Schutz der Bevölkerung auch nicht überschritten werden dürfte – ein Wert, der im Falle von Feinstaub und Co eigentlich sogar gegen Null gehen sollte, weil nach eigenen Aussagen der DGP keine Wirkungsschwelle nach unten festgestellt werden konnte. Denn obwohl die DGP Feinstaub und Stickoxiden ein relativ geringes Risiko bescheinigt – schließlich in Deutschland doch nur Platz zehn der beliebtesten Todesursachen –, besteht sie auf der überaus hohen Bedeutung dieses Gesundheitsrisikos aufgrund der Tatsache, dass praktisch die gesamte Bevölkerung davon betroffen ist; ganz im Unterschied zu anderen, lebensstilassoziierten Faktoren, die der Mensch laut Medizin auch einfach vermeiden könnte, anstatt lieber chronisch krank zu werden, gesteht die DGP ihm beim Atmen zu, dass es sich nur schwerlich einstellen lässt. Wenn es nach ihr ginge, sollte die politische Realität ihrem medizinidealistischen Standpunkt folgen und den Richtwert der WHO, der noch unter dem gültigen Grenzwert der EU liegt, einhalten.

Die DGP ist realistisch genug, zur Kenntnis zu nehmen, dass die von ihr geforderte Risikoreduktion seit Jahr und Tag scheitert. Woran das liegt, warum die praktische Reichweite ihres medizinischen Sachverstands so beschränkt ist, das erklärt sie sich – wider besseres Wissen – allerdings mit soziologischem Gewäsch:

„Gesetzliche Grenzwerte sind dabei ein Kompromiss verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und stellen nicht unbedingt eine medizinisch wünschenswerte obere Belastungsgrenze dar.“

Die epidemiologische Medizin ist mit ihrem ‚Realismus‘ wirklich gut: Seit Jahrzehnten forscht sie an den Konsequenzen systematischer kapitalistisch-industrieller Luftverschmutzung herum – und will in der Frage, warum sie mit ihren medizinischen Empfehlungen nicht weiter durchdringt, von dem gesellschaftlichen Gegensatz zwischen Schadensverursachern – machtvollen, politisch garantierten unternehmerischen Interessen – und einer Bevölkerung, der die schäbige Rolle des davon Betroffenen zukommt, nichts weiter wissen, als dass da irgendwie „verschiedene gesellschaftliche Gruppen“ am Werk seien, denen sie dann offensiv als Quintessenz ihrer Empfehlungen zur Schadensvermeidung ein gemeinsames, interaktives und zielorientiertes Handeln auf allen Ebenen vorschlägt.

Wem sie das empfiehlt, das ist der DGP aber letztlich natürlich schon klar; schließlich sollen die gesamtgesellschaftlich erhobenen „vorzeitigen Todesfälle“, die „verlorenen Lebensjahre“ und die „Lebensjahre mit Einschränkung“ nicht irgendwelche verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, sondern die Politik ermahnen, dass ihr ein Teil der brauchbaren Lebenszeit ihrer Basis „verloren“ geht. Und die soll mit entsprechenden Regularien dem ‚gesamtgesellschaftlichen Kompromiss‘ auf die Sprünge helfen – und die „Verantwortung für [dessen] Einhaltung ist von der Exekutive und Judikative konsequent zu übernehmen“. Ihre medizinpolitische Empfehlung übersetzt sie daher in einem letzten Schritt in eine Summe Geld, was sie selbst offenbar als immer noch bestes Argument begreift, mit dem sich die Politik überzeugen lässt: Die Gesundheitsschäden sind nämlich insofern ein nicht zu ignorierendes gesellschaftliches Problem, als sie zu relevanten Kosten führen, die sowohl die Sozialsysteme, z.B. durch mehr Arztbesuche, Medikation oder Fehltage, als auch die Individuen belasten. Und umgekehrt wäre

„eine Reduktion der Luftschadstoffbelastung ... mit einem erheblichen Gesundheitsgewinn verbunden. So wurde für 25 europäische Städte ab 70 000 Einwohnern bei Einhaltung der von der WHO derzeit noch empfohlenen Richtwerte eine Lebenszeitverlängerung um ca. sechs Monate berechnet und der potentielle ökonomische Gesundheitsnutzen in Europa auf 31 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt.“

Umso dringlicher ist eine deutliche Reduktion der Vergiftung durch Absenkung der gesetzlichen Grenzwerte, weil die Medizin hier ihr praktisches Interesse, die Betroffenen gegen die Vergiftung zu immunisieren, bzw. die Schäden therapeutisch ungeschehen zu machen, nicht erfüllen kann:

„Da die Optionen für eine kausale Therapie in vielen Fällen derzeit noch limitiert sind, kommt der Vermeidung einer Entstehung und Progression von Atemwegserkrankungen mittels präventiver Maßnahmen eine herausragende Bedeutung zu.“ [6]

Die schädlichen Lebensbedingungen in Deutschland haben sich der gesundheitlichen Belastbarkeit der Bevölkerung anzupassen; so viel Idealismus hält die DGP – bei allen damit verbundenen Konsequenzen – für politisch realistisch und landet am Ende bei einem konstruktiven, alltagstauglichen Mobilitätskonzept, wie es in jedem Parteiprogramm auch stehen könnte.

5. Köhlers Polemik: Medizinisch schlecht zu belegende Argumente für eine politisch sehr belastbare Konsequenz

Dieses Positionspapier der DGP hält Prof. Dr. med. Köhler, seines Zeichens kritischer Rationalist, dagegen für eine einzige große Seifenblase. Für das Mögliche hält er das, was realistisch ist – und in seinem ersten TV-Auftritt stellt er hinreichend klar, was das bedeutet: Die gesundheitspolitische Bedeutung der existierenden Grenzwerte sei im Verhältnis zu dem volkswirtschaftlichen Schaden zu bewerten, die sie anrichten, und der sei angesichts des Gewichts der deutschen Automobilindustrie gar nicht zu überschätzen. Bei diesem Klartext, dass sich die Gesundheit prinzipiell an den marktwirtschaftlichen Interessen zu relativieren hat, belässt es Köhler nicht, er argumentiert für seinen Standpunkt zu den Grenzwerten auf derselben Ebene wie seine Kollegen von der DGP – nämlich medizinisch.

Einen Feinstaub-Toten habe er jedenfalls noch nie gesehen. Das stimmt bestimmt, es ist ja auch auf keinem Totenschein jemals die Krankheitsursache Feinstaub zu lesen gewesen, zu Recht: An keinem Todesfall, sei der Mensch an Herzinfarkt, Lungenkrebs, Demenz, Diabetes oder an allem zugleich gestorben, ist ex post notwendig und eindeutig abzulesen, welcher ‚Risikofaktor‘ letztlich bei ihm den Ausschlag gegeben hat. Diese medizinische Uneindeutigkeit aber macht Köhler zum Argument gegen die Schädlichkeit von Feinstaub und Stickoxid überhaupt, erklärt sie zum Grund dafür, dass sie letztlich nur ungiftig sein können – was nicht sehr redlich ist. Auch, dass NOx in physiologischen Vorgängen des menschlichen Körpers eine Rolle spielen mag, ist kein sehr stichhaltiges Argument dafür, dass deswegen das, was aus dem Diesel kommt, ein harmloser, weil körpereigener Naturstoff sei. Das weiß bestimmt auch Lungenfacharzt Professor Dr. Köhler selbst besser, sieht solche medizinisch kaum ‚belastbaren‘ Argumente aber offensichtlich in der demokratisch-aufgeklärten Öffentlichkeit gut aufgehoben.

In einer etwas wissenschaftlicheren Fassung argumentiert er genauso gegenüber seinen Fachkollegen und ihren willkürlichen Ergebnissen, wo Statistiker doch in jedem Grundkurs lernen würden, dass Korrelation nicht Kausalität bedeutet. [7] Dass das nun ausgerechnet gegen die redlichen Epidemiologen kein Einwand ist, weil die sich selber enorm viel Mühe geben, bekannte Ursachen in prinzipiell anfechtbare Korrelationen zu übersetzen, interessiert Köhler nicht weiter; er denkt ja selbst so. Mit diesem Argument zieht er nämlich in Zweifel, dass die Korrelation besteht, die seine Kollegen statistisch lege artis begründen:

„Die in den Studien zum Feinstaub und zum NO2 gefundene Risikoerhöhung ist einfach dadurch zu widerlegen, dass man die inhalierten Dosen mit denen der Raucher vergleicht. Die vielen Millionen Inhalationsraucher stellen sozusagen einen inhalationstoxischen Großversuch dar... Vergleicht man lebenslang inhalierten Feinstaub und NO2 mit den inhalierten Dosen der Raucher, so müssten diese nach wenigen Wochen alle sterben, was offensichtlich nicht der Fall ist. Zudem ist der Zigarettenrauch noch ungleich toxischer. Damit ist die These einer Risikoerhöhung von Feinstaub und NO2 in den Grenzwertdosen falsifiziert.“

„Offensichtlich“ laufen in Deutschland lebende Raucher rum, also können die Ergebnisse der DGP und daher die statistischen Methoden, mit denen sie ermittelt wurden, nur verkehrt sein. Köhler hat aber recht besehen gar nichts gegen die Statistik – mit der sich, wie er als Statistiker weiß, ursächliche Zusammenhänge nicht begründen lassen –, er hat etwas gegen diese Statistik. Viel übrig hat er hingegen für eine andere, ihm genehme Gewichtung der typischen Risikofaktoren: Verglichen mit Passivrauchen, aktivem Rauchen und Hypertonie würden die Feinstaubrisiken verschwinden. Wenn schon ein Zusammenhang zwischen Städtern und Landbevölkerung bezüglich ihrer gesundheitlichen Konstitution gezogen werden soll, dann hält er eine andere Einschätzung der „Maßzahlen“ für viel angebrachter, nämlich die,

„dass geringste Unterschiede in der Lebensführung beziehungsweise im Gesundheitsbewusstsein zwischen staubbelasteten und weniger staubbelasteten Gebieten die ganzen Effekte des Feinstaubs und des NO2 erklären.“

Von ‚Erklären‘ redet wie gesagt der Mann, der darauf besteht, dass man mit Statistik keine ursächlichen Zusammenhänge begründen kann. Ihm, der mit seinem realistischen Expertenblick im deutschen Städter vor allem einen Raucher, Säufer, Fastfood-Junkie und Bewegungsmuffel sieht, leuchtet jedenfalls gar nicht ein, warum ausgerechnet der Feinstaub da so gefährlich sein soll. Mit dieser eher robusten Einschätzung wendet Köhler sich – zwar etwas grob in der Argumentation, aber in der selben medizinischen Logik – gegen den Standpunkt des absoluten Gesundheitsschutzes der DGP und gegen die Konsequenzen für den Automobilstandort, für die die DGP sich ausgesprochen hat.

Dass Köhler letztlich seine alten Kollegen für schlicht wissenschaftlich unseriös erklärt (und die umgekehrt ihn), ist konsequent. Die vorhandenen Studien müssten durch neutrale Wissenschaftler neu ausgewertet werden, dann würde das Kartenhaus, das die DGP in ihrer ideologischen Verblendung aufgestellt hat, in sich zusammenfallen. Sein objektiv-wissenschaftlicher Beitrag zur Versachlichung der Debatte lautet dagegen: Ich würde die Grenzwerte einfach hochsetzen, dann ist die Diskussion weg. Das Schnellste wäre, die Messstellen vernünftig zu platzieren, also vernünftigerweise vielleicht nicht gerade da, wo pro Tag 70 000 Fahrzeuge und 200 schwere Nutzfahrzeuge vorbeifahren.

Wenn sich selbst das Rauchen mitunter jahre- und jahrzehntelang aushalten lässt, dann kann das deutsche Volk das bisschen Feinstaub locker wegstecken, damit das Geschäft mit den Autos und der dieselbetriebene Autoverkehr so weitergehen können wie bisher.

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Dass Köhler, wie die taz ein paar Wochen später herausfindet, kleinere Rechenfehler, und zwar um den Faktor 200 bis 1000 unterlaufen sind, und, rechnete man seinen Vergleich richtig, herauskäme, dass die Stickoxid-Belastung durch die Atemluft während eines durchschnittlichen Großstadtlebens ungefähr der des 30 Jahre langen Kettenrauchens entspricht, ist der Auftakt zum Ende der Debatte. Das öffentlich betreute Publikum durfte sich mal wieder ein bisschen empören – sei es als besorgter Feinstaub-Einatmer oder als nicht minder besorgter Dieselfahrer – das war’s dann aber auch.

[1] Atmen: Luftschadstoffe und Gesundheit, Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V., Berlin 2018

[2] Dieses und die folgenden Zitate aus dem Positionspapier „Atmen ...“, sofern nicht anders angegeben.

[3] Wer das wissen will, kann es nachlesen in Predehl/Röhrig: Gesundheit – ein Gut und sein Preis, Gegenstandpunkt Verlag, München 2016

[4] Genuin (mikro)medizinisch geht die Wissenschaft zu Werke, indem sie die toxikologischen bzw. pathophysiologischen Mechanismen erforscht, mit denen Feinstaub bzw. Stickoxide auf den (individuellen) Organismus, seine Organe, seine Zellen usw. wirken. Ihre in den letzten Jahrzehnten erarbeiteten Detailkenntnisse haben sie nie zufriedengestellt, weil sich an jede gewonnene Erkenntnis die nächste Frage, wie genau dieser Mechanismus abläuft, anstrickt. In ihrem Bedürfnis, bestimmte Auswirkungen eines bestimmten Schadstoffs – wie, auf wen, unter welchen Umständen – immer genauer zu erforschen, ‚separiert‘ auch sie alle am Wirkmechanismus beteiligten ‚Einflussfaktoren‘ und kommt damit zu keinem Ende.

[5] Die DGP selbst formuliert ihren wissenschaftlichen Auftrag so: Anliegen war, das Ausmaß der Krankheitslast, das einem Umweltrisikofaktor / einer Gruppe von Umweltrisikofaktoren zuzuschreiben ist, für die Bevölkerungsgesundheit abzuschätzen, zu quantifizieren und im Hinblick auf erforderliche Entscheidungen und die Priorisierung von Maßnahmen bewerten zu können.

[6] Sich selbst erteilt sie, wie sie das seit jeher macht, den Auftrag, ihre weiterhin substantiellen Wissenslücken zu schließen: Die Belastung mit weiteren Schadstoffen, etwa ultrafeinen Partikeln (UFP, Ultrafeinstaub), ist bislang weniger umfassend untersucht und hinsichtlich ihrer Anzahlkonzentration in der Luft nicht gesetzlich geregelt. Darüber hinaus sind die Differenzierung der Effekte einzelner Komponenten des Luftschadstoffgemisches sowie deren mögliche Interaktionen bzw. synergistische Effekte für eine gezielte gesetzliche Regulierung von Interesse. Eine weitere offene Frage betrifft die untere Wirkungsschwelle von Luftschadstoffen... Ebenso besteht im Hinblick auf die Langzeitfolgen einer Exposition im Kindesalter Forschungsbedarf, um die vorliegenden Hinweise auf eine frühe Disposition für insbesondere obstruktive Atemwegserkrankungen im Erwachsenenalter zu substantiieren. Zur Frage der genetischen Suszeptibilität im Hinblick auf gesundheitsschädliche Effekte von Luftschadstoffen sowie möglicher protektiver Wirkungen der Ernährung ist die gegenwärtige Datenlage ebenfalls noch unbefriedigend. Es wird daher empfohlen, gezielt die Forschungsaktivitäten für diese Fragestellungen durch Ausschreibungen europaweit zu fördern.

[7] Eine kritische Bewertung der aktuellen Risikodiskussion, D. Köhler, Ärzteblatt, 2018