Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Westliche Lehren aus dem Ergebnis von 10 Jahren Reformprozess in Russland:
Russland ist pleite, die Reformen müssen weitergehen!

Zum russischen Staatsbankrott vermelden Spiegel und Co: Die Reform Russlands hin zum Kapitalismus konnte nicht gut gehen; das wussten wir schon lange. Daher: weitermachen wie bisher – nur mit dem richtigen Personal.

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Westliche Lehren aus dem Ergebnis von 10 Jahren Reformprozeß in Rußland:
Rußland ist pleite, die Reformen müssen weitergehen!

Ende August ist es soweit: Rußland ist zahlungsunfähig, der Rubel wertlos; auch die internationalen Finanzspekulanten sind um etliche Milliarden Dollar ärmer. Da machen sich die westlichen Rußland-Experten aus Politik und Wissenschaft und die Vertreter der freien Öffentlichkeit so ihre Gedanken. Die taugen zwar herzlich wenig zur Erklärung der Lage in Rußland, stellen allerdings ein beeindruckendes Dokument der dummdreisten Anspruchshaltung dar, mit der im Westen die Entwicklung der ehemaligen realsozialistischen Weltmacht zum Mitglied des freien Weltmarkts begleitet wird. Folgende Erkenntnisse gibt die versammelte westliche Expertengemeinde zu Protokoll:

Erkenntnis Nr. 1: Der russische Kapitalismus hat sich als grandioser Flop erwiesen. „Wir“ haben uns verspekuliert.

Denn anders als die Marshall-Hilfe für Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg bewirkte die Finanzhilfe des Westens keinen Kickstart für die Wirtschaft. (Spiegel, 36/98) Wenn man nämlich die bis neulich noch allseits bejubelte „Stabilität des Rubel“ unter dem Aspekt der mittlerweile erfolgten Rubel-Abwertung betrachtet, dann erweist sich schlagartig, daß die Währungsstabilität der einzige Erfolg der Jelzin-Regierung (Spiegel, 35/98) war. Und auch dieser Erfolg war nur eine alberne Farce, die noch dazu „wir“ mit „unseren IWF-Krediten“ bezahlt haben:

„Um Löhne, Renten, Kindergeld, den Bau von Straßen und Schulen wenigstens sporadisch bezahlen zu können, hatte der Staat serienweise immer neue Papiere mit immer kürzeren Laufzeiten aufgelegt… Allein 1997 legten ausländische Investoren rund 17 Milliarden Dollar in russischen Aktien und kurzfristigen Staatsanleihen, sogenannten GKO, an… Im Sog der staatlichen Schuldenlast geriet der Rubelkurs immer stärker unter Druck, doch die Zentralbank hielt mit Stützungskäufen von zuletzt einer Milliarde Dollar pro Woche dagegen. Das Geld kam von der ersten Tranche des IWF-Kredits, die restliche Milliarde verbrauchte das Moskauer Finanzministerium zur Rückzahlung seiner GKO… Insgesamt waren Ende 1997 Rubel-Forderungen mit einem Gesamtwert von über 300 Milliarden Dollar im Umlauf. Das ist dreimal soviel wie die Bilanzsumme aller russischen Banken zusammen.“ (Spiegel, 35/98)

Daß dieser Teufelskreislauf irgendwann zusammenbrechen mußte, ist jedem Spiegel-Redakteur arschklar – spätestens seit er zusammengebrochen ist. Und noch eines ist klar: Die „mutigen, marktwirtschaftlichen Reformer“, die sich – nach dem fundierten Urteil sämtlicher hiesigen Kremlkenner – vor gar nicht allzu langer Zeit in Rußland immerzu mit „ewiggestrigen Bremsern“ herumschlagen mußten, sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Genau genommen sind sie nichts weiter als eine arrogante Reformerriege, die alle Warnungen, daß diese Finanzpyramide irgendwann zusammenbrechen müsse, zurückwies. (a.a.O.) Wer diese überaus vernünftigen Warnungen eigentlich vom Stapel gelassen hat, bleibt nach dem Studium der aktuellen Rußland-Analysen zwar einigermaßen im Dunkeln, aber man erfährt immerhin, daß es die massenhaft in Rußland tätigen westlichen Berater nicht gewesen sein können. Bei denen handelt es sich nämlich, wie man jetzt aus berufenem Munde erfährt, um eine Bande von inkompetenten, geldgierigen Angebern:

„Mit westlichen Lehrbüchern unterm Arm wollten sie das Land reformieren. Nur zu gern feierten sie sich und ihre Erfolge. Einige sahen Rußland bereits auf der Siegerstraße. Der Schwede Aslund Anders etwa, der jahrelang die russische Regierung beraten hatte, erklärte Anfang des Jahres die Reformen für abgeschlossen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostizierte zur gleichen Zeit ein jährliches Wirtschaftswachstum von sechs Prozent für die nächsten Jahre. Acht Monate später steht Rußland am Abgrund: Währungskrise, Versorgungschaos, Börsendesaster. Die Industrieproduktion sank dramatisch ab.“ (Spiegel, 38/98)

Ja, hätten die Russen halt mal bei der Spiegel-Redaktion um sachverständigen Rat nachgefragt, anstatt die teuren IWF-Kredite und guten EU-Gelder selbstgewissen Experten hinterherzuwerfen…

„Insgesamt 66 Milliarden Dollar … verteilten die westlichen Länder in Rußland an Zuschüssen für Firmen und Staat. Den allergrößten Teil davon kassierten die Consultants, die damit die eigentlichen Gewinner der Perestroika sind. Oft zahlt das Treiben der Ratgeber der europäische Steuerzahler, über eine Vielzahl von Beratungsprogrammen der Europäischen Union.“ (a.a.O.)

Und was bekamen die Russen für das viele gute Geld? Lachhafte, haltlose Vorschläge! Über das unerschütterliche Credo der Beraterteams: Freie Märkte, freie Preise kann man beim Spiegel nur den Kopf schütteln, wo doch jedes Kind weiß, daß freie Märkte immer dann nichts taugen, wenn sie gerade zusammengebrochen sind. Und was soll der Russe 200 Kilometer nordöstlich von Moskau 1995 mit Unternehmensberatern anfangen, die ihm eine Marktpotentialeinschätzung, Fokussierung der Geschäftsaktivitäten und die Reduzierung von Komplexitäten (a.a.O.) nahebringen wollen?! Wie gesagt: Ewig schade, daß die Russen damals nicht den geballten ökonomischen Sachverstand des Spiegel zu Rate gezogen haben. Dort hatte man doch garantiert bereits 1995 herausgefunden, daß den russischen Staatsunternehmen nichts so sehr fehlte wie eine gescheite Marktanalyse mit der dazugehörigen Konzentration von Geschäftsaktivitäten, die selbstverständlich ohne eine Reduzierung von Komplexität nicht zu haben ist. Diese Chance haben die Russen verpaßt, weil sie sich stattdessen mit lauter Versagern abgegeben haben, denen der Ex-Kartellamtschef, Wolfgang Kartte, nicht nur Versagen an der Beraterfront, sondern sogar „regelrechte Bösartigkeit“ beim Beraten vorwirft, weil man versäumt hat, hohe Importzölle einzuführen. (a.a.O.) Usw. usw.

Interessante Urteile über den „russischen Reformprozeß“ werden da gefällt – übrigens nicht nur vom Spiegel, sondern von allen Abteilungen der hiesigen Öffentlichkeit. Nachdem dieser vielversprechende Prozeß jahrelang von sämtlichen maßgeblichen Instanzen des Westens in Gang gebracht, betreut und voller Sorge um sein Gelingen beobachtet wurde, erfährt man jetzt: Die ganze Sache lief im wesentlichen auf eine höchst dubiose „Finanzpyramide“ hinaus, an der sich einige Finanzspekulanten zuerst dumm und dämlich verdient haben, dann höchst bedenkliche Verluste – vor allem bezüglich der sowieso schon „kritischen Lage auf den Weltfinanzmärkten“ – verbuchen müssen, weil nämlich der russische Staat zwischenzeitlich Bankrott anmelden mußte. Nebenbei wurden darüber die Lebensbedingungen der russischen Bevölkerung so grundsätzlich reformiert, daß kundige Rußlandkorrespondenten einen Elendsbericht nach dem andern fabrizieren. Und was bis neulich, als „die jungen russischen Marktwirtschaftler“ „unsere“ „Hoffnungsträger“ und noch nicht als „arrogante Reformerriege“ entlarvt waren, in deutschen Fernsehberichten als Beleg für den liebenswerten Charakter der russischen Volksseele bestaunt werden durfte – „die Fähigkeit zur Improvisation“ oder so ähnlich –, das heißt jetzt: „der Rückfall in eine Tauschwirtschaft wie im Mittelalter“. Was das Mittelalter mit Verhältnissen zu tun hat, wo auf der einen Seite Finanzspekulationen mit kurzfristigen Staatsanleihen getätigt werden und auf der anderen ehemalige Werktätige sozialistischer Kombinate versuchen, Kristallvasen gegen Zucker und Medikamente zu tauschen, bleibt zwar das Geheimnis der Feudalismus-Experten von Presse und Fernsehen. Die Botschaft allerdings ist klar: „Das Land steht vor dem Abgrund!“

Und was folgern „wir“ nun aus diesem Ergebnis einer intensiven 10jährigen Reformarbeit?

Erkenntnis Nr. 2: Um Gottes willen, bloß kein Stop der Reformen! Im Gegenteil, die Reformen müssen konsequent zu Ende geführt werden. Jetzt erst recht!

Aus allerhöchstem Munde wird dieser Imperativ verkündet:

„Die sieben größten Industrieländer (G7) haben nach den Worten des britischen Premierministers Tony Blair ein vitales Interesse an der Fortsetzung marktwirtschaftlicher Reformen in Rußland. Die Staats- und Regierungschefs aller G7-Staaten seien der Ansicht, daß die Überwindung der gegenwärtigen Krise in Rußland im Interesse ihrer Länder liege, und daß dies am besten durch ein Festhalten an den marktwirtschaftlichen Reformen gelinge.“ (Handelsblatt, 29.8.98)
„Clinton warnte die Opposition gegen Jelzin in der Duma davor, mitten im Reformkurs das Ruder herumzureißen. Was dann passieren wird, ist, daß noch weniger Geld nach Rußland fließen wird und die wirtschaftliche Not noch zunehmen wird.“ (Handelsblatt, 2.9.98)
„Rußland kann nach den Worten von US-Präsident Clinton und Bundeskanzler Helmut Kohl nur dann mit Milliardenzahlungen des Internationalen Währungsfonds rechnen, wenn es am Reformkurs festhält… Es gilt als sicher, daß US-Präsident Clinton bei seinen Gesprächen mit Jelzin… keine weiteren konkreten Hilfsangebote vorlegen wird.“ (Handelsblatt, 31.8.98)

Wir fassen zusammen: Rußland ist zwar – nicht zuletzt dank westlicher „Reformhilfe“ – pleite, kann aber weiter auf „unsere Hilfe“ rechnen, unter der Bedingung, daß es unverdrossen am „Reformkurs“ festhält. Und „Reform“, die herrscht in Rußland immer dann, wenn die Ansprüche des versammelten Westens bedient werden. So einfach ist das: Wenn Rußland die Zinszahlungen an westliche Gläubiger storniert, dann ist das eindeutig ein Verbrechen am „Reformprozeß“, und es müssen Warnungen folgenden Kalibers ausgestoßen werden:

„Der Internationale Währungsfonds … warnte Moskau unterdessen, die für September geplante Kreditrate in Höhe von 4,8 Mrd. $ werde nur ausgezahlt, wenn die Auflagen zur Haushaltsdisziplin und besseren Steuereintreibung eingehalten würden. Rußland müsse vor Auszahlung der nächsten Rate Fortschritte machen… Die Bundesregierung hat das nachhaltige Interesse Deutschlands an politischer und wirtschaftlicher Stabilität in Rußland bekräftigt und die Führung in Moskau erneut zu Reformen gemahnt. Sofern Rußland auch künftig seinen Zahlungsverpflichtungen nachkommt, ist die Bundesregierung bereit, weitere Hermes-Garantien zu geben.“ (Handelsblatt, 2.9.98)

Der heiße Tip der maßgeblichen Herrschaften der Weltwirtschaftsmächte an die Russen lautet also: Wenn ihr kein Geld habt, versucht es endlich mal mit gutem, eigenen Geld! Denn solange Rußland kein Geld hat, um westliche Zinsansprüche zu bedienen, fließen keine weiteren IWF-Kredite. Und woher soll Rußland das viele gute Geld nehmen, das der Westen einfordert? Klar doch, „bessere Steuereintreibungen“ und „Haushaltsdisziplin“ drängen sich dem westlichen finanzpolitischen Sachverstand hier geradezu auf. Die Sache mit der „besseren Steuereintreibung“ hat zwar den kleinen Haken, daß dieselben Blätter, in denen diese wohlmeinenden Ratschläge an Moskau verbreitet werden, voll sind von Beschwerden lauter ehrenwerter Vertreter des deutschen Unternehmertums, die über eine für das „Investitionsklima“ unerträgliche „Intensität beim Vorgehen der russischen Steuerbehörden“ Klage führen. So vornehm zurückhaltend kann man auch ausdrücken, daß russische Steuereintreibung bisweilen mit Hilfe von Baseballschlägern erfolgt. Daß von einer „Steuereintreibung“ in „unserem“ wohlgeordneten Sinn mit Finanzamt, Oberfinanzdirektion, Abschreibungsmöglichkeiten, Steuerberatern, die sich in diesem Geschäft auskennen, in Rußland offensichtlich nicht die Rede sein kann, kümmert die westlichen Ratgeber aber offensichtlich nicht weiter. Sie stellen sich schlicht und ergreifend auf den Standpunkt, so was hätte den Russen eben gerade noch gefehlt zu ihrem Wirtschaftsglück, also sollten sie es gefälligst herstellen. Irgendwann wird dann wahrscheinlich der Spiegel wieder mit allen Anzeichen der Fassungslosigkeit berichten, da hätte doch tatsächlich ein selbstgewisser westlicher Steuerexperte mit der deutschen Steuergesetzgebung unterm Arm mitten in Sibirien die neuesten Abschreibungs-Tricks erläutert…

Bleibt noch die Sache mit der „Haushaltsdisziplin“. Auch ein guter Tip: Wenn ihr kein Geld habt, dann spart doch welches! Denn eines kommt aus westlicher Sicht überhaupt nicht in die Tüte: Daß der russische Staat „die Gelddruckmaschine anwirft“, das gilt allgemein als Katastrophe, die ganz unbedingt verhindert werden muß:

„Das populistische Szenario mit geringerer geldpolitischer Disziplin, der Wiedereinführung der Kontrolle von Preisen, Handel und Wechselkursen sowie des Druckens von Geld würde nach Camdessus’ Meinung unweigerlich zu einem Desaster führen. Eine solche Politik würde nicht die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft finden. Im Gegenteil: Eine weitere Unterstützung Rußlands hängt von der klaren Bereitschaft von Duma und Regierung zu Reformen ab.“ (Handelsblatt, 30.8.98)

Dieser maßgeblichen Meinung können sich alle Kommentatoren nur anschließen. Und dabei ist es schon völlig egal, ob sie auch noch irgendeine Begründung auf Lager haben, warum die Russen Maßnahmen wie Gelddrucken und Preis- oder Wechselkurskontrollen – Dinge, die in einem kapitalistischen Gemeinwesen bei Bedarf ganz alltäglich und wirklich alles andere als revolutionär sind – partout zu unterlassen haben. Der Chef des IWF jedenfalls nimmt sich einfach die Freiheit, das durch den „Reformprozeß“ eingetretene Desaster in Rußland einmal kurzfristig zu ignorieren, um vor einem – wie auch immer gearteten – Riesen-Desaster bei Abbruch des glorreichen Reformprozesses zu warnen. Und worauf die maßgeblichen Herren der Wirtschaft und ihre Kommentatoren von der freien Presse hinauswollen, ist ohnehin deutlich genug: An Maßnahmen wie Gelddrucken und Preiskontrollen fällt ihnen gleich auf, daß die Russen so etwas tatsächlich ganz alleine fertigbringen, ganz ohne westliche „Reformhilfe“, und daß sie sich dann womöglich nur nach ihren eigenen Berechnungen richten statt nach den in der weltweiten Marktwirtschaft gültigen Interessen. Am Ende betreiben sie eine Wirtschaftspolitik mit dem Ziel, ihr Volk bei Laune zu halten – ein „Populismus“, den „wir“ überhaupt nicht leiden können! –, oder nach ähnlichen vernunftwidrigen Kalkulationen. Und damit drängt sich schwer der Verdacht auf, daß man das alles doch kennt – aus jenen schrecklichen Zeiten des Sowjet-Sozialismus nämlich, die durch den „Reformprozeß“ doch „unumkehrbar überwunden“ sein sollten!

Um so dringlicher stellt sich die Frage, ob in Moskau überhaupt noch die richtigen Männer am Ruder sind oder solche, mit deren Herrschaft die Katastrophe eines „Rückfalls in die sozialistische Mißwirtschaft“ droht. So lautet also

Erkenntnis Nr. 3: Die Russen müssen „ihren Weg in die Marktwirtschaft alleine finden“, ohne dabei durch Eigenmächtigkeit unangenehm aufzufallen und westliche Ansprüche zu verletzen. Hilfe können „wir“ dafür nicht anbieten – außer der einen: „Wir“ überprüfen das Personal im Kreml peinlich genau auf seine „Reformwilligkeit“.

Eine verantwortungsvolle Aufgabe, die allerdings ihre Tücken hat. Der Maßstab der Beurteilung des russischen Herrschaftspersonals ist an sich ziemlich übersichtlich: „Unser Mann im Kreml“ wird gesucht. Die Frage ist bloß: Woran ist der zu erkennen? Klar ist mittlerweile nur eines: Jelzin ist es nicht mehr – der Mißerfolg disqualifiziert ihn; deswegen fallen Suff und Krankheit jetzt schwer ins Gewicht. Aber wäre es Kirijenko gewesen? Zwar ein „junger“, schon deswegen vielversprechender „Reformer“, der aber erstens die Zinszahlungen an westliche Gläubiger aussetzt, was ihn zweitens doch eher als „Grünschnabel“ entlarvt, der sich gegen die ominösen „Oligarchen“ – i.e. die handgezählten Banken und Rohstoffkonzerne, die die russische Wirtschaft ausmachen – nicht durchsetzen konnte. Andererseits Tschernomyrdin: Ist der – à propos „Oligarchen“ – von wegen seiner Herkunft aus dem „militärisch-industriellen Komplex“ und wegen seiner guten Beziehungen zu „grauen Eminenzen der berüchtigten Russenmafia“ dieser unangenehmen Spezies zuzurechnen, oder steht er eher für Verläßlichkeit, wie ihm auch schon von höchster Stelle bescheinigt wird:

„Bundeskanzler Helmut Kohl begrüßte die Wiederberufung von Tschernomyrdin. Kohl erklärte, er habe Vertrauen in Tschernomyrdin, den er aus langjähriger guter Zusammenarbeit kennt.“ (Handelsblatt, 24.8.98)

Wenn der Mann dann aber das böse Wort „Wirtschaftsdiktatur“ in Umlauf bringt, ist klar, daß Erleichterung einkehren muß, wenn dann doch nicht er, sondern Primakow zum Ministerpräsidenten wird. Bloß, was ist das für einer? „Ein Schwergewicht mit leichten Schwächen… Der neue Mann auf dem Sessel des Premiers soll also Jewgenij Primakow sein, der derzeitige Außenminister. Doch läßt sich nicht uneingeschränkt sagen, daß das ebenfalls eine gute Nachricht ist. Als Chefdiplomat hat Primakow oft genug gezeigt, daß er in vielem das alte Denken nicht überwunden hat – ein Denken in Einflußzonen, das politische und militärische Konfrontation einkalkuliert. Das ist sein persönlicher Ballast aus der Zeit beim KGB und als Chef der Auslandsspionage. Primakows Ziel war es, Moskau den Großmachtstatus zu erhalten und zudem die Kontrolle über die ehemaligen Sowjetrepubliken wiederherzustellen… Doch spricht für ihn, daß er sowohl im In- als auch im Ausland über Autorität verfügt. Er ist ein politisches Schwergewicht und und dürfte eher als der vor zweieinhalb Wochen abgesetzte junge Premier Sergej Kirijenko in der Lage sein, seine Linie durchzusetzen. Auch dürfte er aufgrund seiner Auslandserfahrung wissen, daß Rußland keine andere Wahl hat, als seine Volkswirtschaft weiter in die internationalen Strukturen zu integrieren und wieder kreditwürdig zu werden.“ (Thomas Urban, SZ, 10.9.98)

Ein Rezept, wie Rußland es anstellen könnte, ausgerechnet durch die Fortsetzung der „Reformwirtschaft“, die zu seinem jetzigen Desaster geführt hat, wieder kreditwürdig zu werden, das kann das ökonomische Schwergewicht von der Süddeutschen Zeitung selbstverständlich nicht angeben. Aber eines weiß der Mann ganz genau: Rußland hat keine andere Wahl, als sich bedingungslos westlichen Ansprüchen unterzuordnen. Alles andere wäre ein übler „Rückfall in das alte Denken in Einflußzonen“. Hauptsache, die „politischen Schwergewichte“ in Moskau kapieren, daß sie eine Einflußzone des Westens verwalten – alles andere wird man sehen. Denn was aus dieser wunderbaren Einflußzone mit ihrem marktwirtschaftlichen „Reformprozeß“ wird, das wissen die Verantwortlichen in den imperialistischen Hauptmächten höchstwahrscheinlich selber nicht so genau – Hauptsache, es erinnert nichts mehr auch nur ansatzweise an die Macht der alten, immer viel zu mächtigen und potenten Sowjetunion.

Die imperialistischen Herrschaften konstatieren eine Krise – und dekretieren: Weiter so! Eines muß man ihnen lassen: Gute Nerven haben sie!

PS: Bald ist wieder Weihnachten. Da findet sich dann garantiert wieder manch gemeinnütziger Verein, der die guten Deutschen zu einer Hungerhilfe-Aktion für die notleidende russische Bevölkerung ermuntert. Vorausgesetzt, die benimmt sich anständig und läuft niemandem hinterher, den „wir“ schon längst als „Rattenfänger“ entlarvt haben!