Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die Berliner Rede 2007
Das Staatsoberhaupt hat das Wort

Die zweite Berliner Rede seiner Amtszeit stellt Bundespräsident Köhler unter das Motto: „Das Streben der Menschen nach Glück verändert die Welt“. Mit ihm ist schon mal der richtige Rahmen für eine Rede gesetzt, in der es um Globalisierung gehen soll: In traditionsreicher (‚pursuit of happiness‘) und geradezu schwärmerisch philosophischer Weise überhöht das Staatsoberhaupt den Kapitalismus, der seit 150 Jahren die Lebensumstände der Menschen auf dem Globus umkrempelt – so ist von vornherein klargestellt, dass man auf besagtes „Streben“ nichts kommen lassen darf, auch wenn es den Menschen nicht immer gut bekommt: „Diese Veränderungen machen in den westlichen Industrienationen vielen Menschen Sorgen.“

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Die Berliner Rede 2007
Das Staatsoberhaupt hat das Wort

Die zweite Berliner Rede seiner Amtszeit stellt Bundespräsident Köhler unter das Motto: Das Streben der Menschen nach Glück verändert die Welt (1.10.07). Mit ihm ist schon mal der richtige Rahmen für eine Rede gesetzt, in der es um Globalisierung gehen soll: In traditionsreicher (‚pursuit of happiness‘) und geradezu schwärmerisch philosophischer Weise überhöht das Staatsoberhaupt den Kapitalismus, der seit 150 Jahren die Lebensumstände der Menschen auf dem Globus umkrempelt – so ist von vornherein klargestellt, dass man auf besagtes „Streben“ nichts kommen lassen darf, auch wenn es den Menschen nicht immer gut bekommt: „Diese Veränderungen machen in den westlichen Industrienationen vielen Menschen Sorgen.“ Unser Bundespräsident wäre freilich nicht unser Bundespräsident, würde er sich dieser Sorgen nicht mit dem nötigen Ernst annehmen: „Kein Zweifel: Es gibt soziale Härten.“ Er ist aber auch Manns genug, übertriebene Bedenkenträgerei zurückzuweisen: „Doch der Sozialstaat hat Bestand.“ Gewiss, da fallen auch Opfer an, wenn eine Nation wie Deutschland im internationalen Wettbewerb Weltspitze sein und bleiben will, wo gehobelt wird, fallen eben Späne, und die Reformen müssen auch weitergehen – aber deswegen wollen wir doch nicht gleich sozialkritisch werden, das Problem ist bei uns doch staatlich geregelt. Und zwar so prächtig, dass man die Menschen überall in der Welt fragen kann: Sie lecken sich die Finger nach einem sozialen Staat wie dem unseren:

„Untersuchungen belegen auch: Überall auf der Welt finden die Menschen attraktiv und vorbildlich, was das Sozialmodell der westlichen Demokratien – bei aller Breite der Typenpalette zwischen Schweden und den Vereinigten Staaten – für die Bürgerinnen und Bürger leistet und welche Möglichkeiten es ihnen bietet.“

Auch was die Verhältnisse auswärts betrifft, muss man die Kirche im Dorf lassen:

Es wurde auch vorhergesagt, die Globalisierung würde die Entwicklungsländer immer mehr verarmen lassen. Die Not dort würde immer größer werden, die Arbeitsbedingungen immer schlechter, die Ausbeutung immer brutaler.

Diese von Globalisierungskritikern und anderen notorischen Miesmachern immer wieder vorgetragene Sorge hat sich den Nachforschungen unseres Bundespräsidenten zufolge nämlich – man höre und staune – als weitgehend unbegründet erwiesen:

„Aber die Bilanz sieht anders aus: Die Kindersterblichkeit ist in den meisten Entwicklungsländern deutlich zurückgegangen, und die Lebenserwartung dort hat sich um Jahre erhöht. Niemals zuvor hat ein so großer Teil der Weltbevölkerung so große Zuwächse an Lebensstandard genossen wie in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren... unter dem Strich hat die Globalisierung in den ärmeren Ländern große Fortschritte bewirkt. Das ist für unvorstellbar viele Menschen ein Segen.“

Wem hier einfällt, dass da doch noch was war, der hat natürlich Recht. Gleich im Anschluss an seine frohe Botschaft vom Segen, den der globale Kapitalismus gerade auch über die Menschen in den ärmeren Ländern gebracht hat, sagt es Köhler selber:

„Noch immer lebt ein großer Teil der Menschheit in tiefster Armut. Ganz Afrika mit seinen rund eine Milliarde Menschen zum Beispiel steht nicht mehr Einkommen zur Verfügung als den etwa 20 Millionen Einwohnern von Bayern und Niedersachsen.“

Nur: Das hat man eben als Kollateralschaden einer Weltwirtschaft zu verbuchen, mit der wir im Großen und Ganzen zufrieden sein dürfen. Originalton Köhler: „Das ist die hässliche Seite der Globalisierung“, und was die betrifft, beschönigt Köhler nichts:

„Auch Europa hat jahrzehntelang Entwicklungshilfe vor allem als Instrument des Kalten Krieges und der Exportförderung betrieben, ohne groß zu fragen, was den Menschen in den Empfängerländern wirklich nutzte. Auch Europa errichtet Handelsbarrieren gegen die Entwicklungsländer, überschwemmt sie – auf Kosten der hiesigen Steuerzahler – mit Lebensmitteln zu Dumpingpreisen und zerstört damit dort die Erwerbs- und Lebensgrundlagen der bäuerlichen Gesellschaften. Auch Europa fischt Afrikas Küsten leer und verweist Kritiker kalt lächelnd auf geschlossene Verträge. Und dann reagiert Europa mit Erstaunen, Mitleid und einem Gefühl der Belästigung, wenn immer mehr Afrikaner sich in ihren Nussschalen auf den Weg übers Meer machen, um etwas Besseres zu finden als Armut und Elend.“

Stellt sich die Frage, was jetzt daraus folgen soll. Dass man den Verantwortlichen in Europa das Handwerk legen muss? Natürlich nicht. Für das deutsche Staatsoberhaupt folgt daraus erstens und grundsätzlich, was eigentlich immer und überall folgt: dass Europa zuständig ist. Dass Europa mit den Beziehungen, die es zu Afrika pflegt, maßgeblich an der Zugrunderichtung dieses Kontinents beteiligt ist, begründet für ihn regelrecht, dass man in den Hauptstädten Europas die fälligen Schritte bei der weiteren Beziehungspflege ergreifen muss, also auch dort entschieden wird, was aus Afrika wird:

„Ich finde, Europa sollte sein Verhältnis zu den ärmeren Ländern auf eine andere Grundlage stellen“, und als wollte er den naheliegenden Gedanken, dass bei dieser Mission dann ja wohl auch wieder die europäischen Berechnungen die maßgeblichen sein werden, in einen zynischen Witz verpacken, fügt er hinzu: „– übrigens auch aus Eigeninteresse“.

Der große moralische Ton, dass zum Wohle der Afrikaner ein anderer, rücksichtsvollerer Umgang mit ihren Ländern fällig sei, ist im Kopf unseres Staatsoberhauptes offenbar untrennbar verbunden mit der schäbigen Berechnung, dass sich allzu viel Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen für uns rächen könnte. Und nicht nur das. Köhler kann den Moralismus wechselseitiger Rücksichtnahme überhaupt nicht anders denken als so, dass er sich sofort in die Rolle des Lehrmeisters und Richters begibt, der dem Rest der Staatenwelt vorbuchstabiert, was sich gehört und was nicht:

„Das Zeitalter der Einseitigkeit ist vorbei. Keine Regierung wird mehr das Wohl ihres Volkes dauerhaft mehren können, ohne Rücksicht auf die anderen zu nehmen. Wer meint, er könne fremden Völkern seinen Willen aufzwingen, weckt chronischen Widerstand.“ – Bis zu diesem ‚wer‘ darf man noch an Europa denken, das den Afrikanern Unrecht antut – „Wer das Klima belastet,“ – wieso aber fällt Köhler jetzt das ein? – „schädigt die Lebensgrundlagen der Menschheit und wird erleben, dass die Mehrheit sich das auf Dauer nicht gefallen lässt. Wer die Menschenrechte mit Füßen tritt,“ – jetzt ist er endgültig in seinem Fahrwasser! – „andere Staaten angreift oder Terroristen beherbergt, verliert Macht und Ansehen. Wer innerstaatlich Minderheiten drangsaliert oder Einwanderer benachteiligt, wird international unglaubwürdig. Wer sich wie ein Trittbrettfahrer verhält, wird irgendwann stehengelassen. Und wer andere ausbeutet, in die Enge treibt oder betrügt, bringt alle gegen sich auf, weil alle alle beobachten und mit allen darüber kommunizieren. Es ist wirklich viel vernünftiger, freundlich zu sein ...“

Was aus dem Schicksal der Afrikaner nicht alles folgt! Erst einmal natürlich unsere Verantwortung, und in die definiert das deutsche Staatsoberhaupt sofort wieder alles hinein, was ihm als imperialistische Mission seiner Nation so geläufig ist – von den Menschenrechten, für deren Schutz wir überall in der Welt zuständig sind, über das Klima, wegen dem wir anderen Staaten energiepolitische Vorschriften machen müssen, bis zum Kampf gegen den Terrorismus, der entschlossen gegen dessen Brutstätten geführt sein will. Am Ende ist Deutschland als strafende Gerechtigkeit gefordert und darf auf diesem Feld nichts anbrennen lassen („Trittbrettfahrer“ werden vom Leben bekanntlich bestraft!) Aber man darf dies auch mit einer gewissen selbstgerechten Gelassenheit sehen. Denn in der globalisierten Welt, in der die inneren Angelegenheiten keines Staates mehr allein dessen Angelegenheiten sind („alle alle beobachten“), kommt diese imperialistische Mission sowieso wie ein überstaatlicher Sachzwang oder ein Gebot der modernen Zeit über die Menschheit. Von Freundlichkeit hat unser Bundespräsident demgemäß auch seine eigenen Vorstellungen:

„Sie schließt durchaus die Entschlossenheit ein, Regelverstöße schnell und empfindlich zu ahnden.“

*

Der Chef hat gesprochen und seiner Nation wieder einmal gesagt, wo‘s langgeht, und von der freien Presse wird dazu ein breitgefächertes Spektrum von Stellungnahmen angeboten:

Die Bild-Zeitung bringt den Sinn der Veranstaltung volkstümlich und mit viel Respekt vor dem hohen Amt auf den Punkt. Sie erinnert an die seinerzeit von Roman Herzog begründete Tradition der Berliner Rede und erklärt: Seitdem spricht das Staatsoberhaupt jedes Jahr zu einem Thema, das uns besonders bewegt. Und wenn das vom Staatoberhaupt so vorgesehen ist, dann begibt sich das massenfreundliche Blatt selbstverständlich stellvertretend für seine Leser stantepede in Habachtstellung, um sich von ihm sagen zu lassen, was uns bewegt.

Die Süddeutsche Zeitung nimmt sich die Freiheit, die Rede unter dem Gesichtspunkt zu beurteilen, ob sie ihren Ansprüchen an eine Ansprache ans Volk genügt, und gibt sich enttäuscht: Von Aufbruch, von Visionen keine Spur. Nach dieser Rede stellt sich die Frage um so mehr, wozu das Land diesen Bundespräsidenten eigentlich braucht. An das hohe Niveau ihrer Leitartikel kommt dieser ehemalige Sparkassendirektor mit seinen moralisch-politischen Wegweisungen nicht heran: Er sagt ja durchaus richtige Sachen. Niemand, der nicht zustimmend nicken würde. Aber das war es dann auch schon.

Auch die TAZ beurteilt die Rede aus der höheren Warte des mindestens kongenialen Richtungsweisers und Redenschreibers. Im Unterschied zur SZ zeigt sie sich aber angenehm überrascht. Die Rede sei zwar keine überragende Rede gewesen, aber klug und nachdenklich. Eine solche Rede hätte man dem früheren Sparkassendirektor, der mehr als nur einmal sein seltsam eingeschränktes Gesellschaftsverständnis offenbart hat, gar nicht zugetraut. „Er sprach über die Vorteile dieser rasanten Entwicklung, verschwieg aber auch nicht deren ungerechte Seiten.“ Und das findet die TAZ schön von ihm. Sie sieht in der Rede ihren Standpunkt zum Ausdruck gebracht, und hält sie deswegen für ausgewogen.

Aus der noch höheren Warte von politisch sachverständigen Organen, welche die Machtverhältnisse in der Hauptstadt einzuschätzen wissen, bewerten die Financial Times Deutschland und der Spiegel die Bedeutung der Rede. Die FTD erläutert ihren Lesern die Grenzen der geistigen Richtlinienkompetenz, die dem Staatsoberhaupt bei uns zukommt:

„Ein Bundespräsident wandelt stets auf einem schmalen Grat: Seine Reden sollen den Bürgern Orientierung vermitteln. Doch sie dürfen nicht als Einmischung in das politische Tagesgeschäft erscheinen. Das ist nicht die Aufgabe des Präsidenten.“

Eingebaut ins demokratische Machtgetriebe der Republik und ins politische Intrigenwesen der Parteien, ist so ein Bundespräsident in dem, was er sagt, auch nicht ganz frei: Mit seinen Vorstößen in die Tagespolitik hinein hat sich Köhler in Berlin isoliert... Köhler muss dieser Isolation und seinem Bedeutungsverlust entgegensteuern, wenn er sein Amt nicht beschädigen will. Deswegen seien heuer moderate Töne angesagt gewesen.

Der Spiegel will in Köhlers Rede sogar Anzeichen für eine zunehmende Wandlung des früher als neoliberal verschrieenen IWF-Generaldirektors zum deutschen Sozialdemokraten erkannt haben und klärt seine Leser über die präsidentiellen Berechnungen auf, die hinter dieser Mutation stehen könnten: Manche Beobachter werten die neue SPD-Affinität ... als strategisches Manöver, um sich eine zweite Amtszeit zu sichern. Klar, wenn die CDU Köhler ihre Unterstützung wegen Einmischung in ihre Regierungskompetenzen entzieht, bietet es sich für ihn natürlich an, auf sozialdemokratisch zu machen, um wiedergewählt zu werden. Es könnte aber auch daran liegen, dass Köhler der Öffentlichkeit gefallen will und sich geschmeidig dem Linksruck des Landes anpasst. Das wäre für den Spiegel dann freilich endgültig eine höchst bedenkliche Tendenz, schließlich soll der Bundespräsident der Öffentlichkeit eine national brauchbare Orientierung verpassen und keine linke Parteilichkeit befördern.